"Jeder kann ein Geschichtenerzähler sein"

Seit 30 Jahren existiert das Theaterensemble "El Warsha". Im Gespräch mit Franca Schuhmann zieht Theaterdirektor Hassan El Geretly Bilanz, spricht über künstlerische Freiheit in Grenzen und blickt auf eine wechselvolle Geschichte des Ensembles zurück.

Von Franca Schuhmann

Sie sind Theaterregisseur und Gründer des Ensembles "El Warsha". Wie sehen Sie sich selbst ?

Hassan El Geretly: Ich bin ein Fachmann für das Theater. Eigentlich wollte ich Schauspieler werden, aber als ich nach Europa ging, war das als Ausländer nicht so einfach. Ich machte meinen Abschluss an der Universität von Bristol, und während dieser Zeit befasste ich mich mehr mit Regiearbeit, was mir wirklich Spaß machte, denn ich bin eher am theoretischen und historischen Hintergrund der Dinge interessiert. Außerdem war ich nie wirklich zufrieden mit dem Regisseur, mit dem ich arbeitete, da er es nicht schaffte, wirklich den Schauspieler aus mir herauszuholen. Darum dachte ich, dass ich eher ein Regisseur bin, vielleicht zu einem gewissen Grad sogar ein Dramaturg, denn ich habe immer gern an der Strukturierung von Stücken, ihrer Architektur, mitgewirkt. Doch ich habe viele andere Dinge gemacht, einschließlich Schauspielerei, ich hatte kleine Rollen und große Rollen. Also bin ich wohl auch ein Schauspieler. Jetzt finde ich mich in der Rolle eines Theaterclowns in "Le Prince Séquestré" wieder, einem Stück von François Cervantes.

Was zeichnet Ihr Ensemble vor allem aus?

El Geretly: Wir bilden vor allem eigene Künstler aus, produzieren Theaterstücke und gehen mit ihnen in Ägypten, in der arabischen Welt und weltweit auf Tournee. Außerdem pflegen wir ein Netzwerk in der arabischen Welt und helfen unabhängigen Ensembles. Aber unsere Arbeit umfasst auch Verwaltung und Übersetzung, vor allem die Übertragung von Stücken aus einer Kultur in eine andere. Es gibt nur sehr wenige Übersetzer, die sich auch auf Fragen kultureller Aspekte spezialisiert haben.

Ein weiterer wichtiger Aspekt von "El Warsha" ist, dass wir Wege aufgezeigt haben, um den Geschichtenerzähler zurückzubringen, wenn auch nicht unbedingt im Brecht'schen Sinne. Uns geht es eher um die Menschen auf der Straße: Jeder könnte ein Geschichtenerzähler sein. Diese Aspekte brachten wir zurück ins Theater. Unsere Arbeit umfasst multidisziplinäre Aktivitäten in vielen Bereichen, die jedoch alle miteinander verbunden sind.

Was ist das Ziel der Arbeit, die Sie und "El Warsha" leisten?

El Geretly: Wir versuchen das, was man nicht auszudrücken vermag, letztlich doch auszudrücken. Und wir verleihen all den Dingen in der arabischen Welt, die schwer auszusprechen sind, eine Stimme. Wir drücken uns selbst aus, aber durch uns drücken wir die Dinge aus, die in der arabischen Welt unterdrückt werden - all die Dinge, die zensiert werden. Das Ziel ist auch, die unabhängige Kunst in all ihren Formen zu unterstützen. Viele Menschen sagen mir: "Seit der Revolution von 2011 seid Ihr politisch geworden". Aber eigentlich war das Erste, was wir taten, das Revolutionärste, nämlich unabhängig zu sein und weder vom Staat noch vom Kommerz abhängig zu sein, um uns selbst auszudrücken.

Sie haben viele große Künstler entdeckt und ihre künstlerische Seite manchmal überhaupt erst aus ihnen herausgeholt. Woran erkennen Sie das künstlerische Potenzial in einem Menschen?

El Geretly: Das ist genau das, was uns auszeichnet: Menschen auszubilden, die dann möglicherweise Stars werden. Ich meine, ich habe es letztlich nicht zu verantworten, dass sie am Ende dann Stars werden, denn wir bilden diese Leute nur aus. Natürlich sind das Menschen, die mit großem Talent gesegnet sind, aber sehr oft brauchen sie jemanden, der sie anleitet – es ist ein Ausbildungsprozess. Wir bilden sie nicht nur im Schauspiel aus, sondern auch im Geschichtenerzählen, dazu ihre Stimme und ihre Bewegungen, damit sie eine vollständige Ausbildung erhalten. Dieser Aspekt unserer Arbeit hat uns sehr bekannt gemacht.

Wenn ich zurückblicke, merke ich, wie viele großartige Menschen unsere "Schule" durchlaufen haben und ganz unterschiedliche Charaktere, Persönlichkeiten, wurden: Sänger, Tänzer, Schauspieler. Oftmals werde ich gefragt, wie man in unsere Gruppe kommt, dann entgegne ich: "Das weiß ich eigentlich gar nicht." Ich laufe einfach mit offenen Antennen durch die Straßen und empfange etwas, ich sehe Menschen und rede mit ihnen.

Inwiefern erfolgt das künstlerische Schaffen Ihrer Meinung nach in Ländern wie Ägypten in recht engen Bahnen?

El Geretly: Kunst zu machen ist nirgendwo einfach, und die verschiedenen Elemente, welche die künstlerische Arbeit einschränken, sind nicht überall dieselben. Aber es gibt sie, auch in Frankreich gibt es alle möglichen undefinierten Elemente von Zensur. Ich kann nicht sagen, dass ich je in einer Umgebung gearbeitet habe, wo die Freiheit tatsächlich groß genug gewesen wäre für die Art von Träumen und Ambitionen, wie ich sie habe. Aber Zensur kann man auch immer irgendwie umgehen.

Das Leben ist ein beständiger, alltäglicher Kampf an der Front um das Mögliche. Wir leben in einer sehr repressiven Welt – schauen Sie nur einmal, was derzeit in Amerika und sogar in Deutschland geschieht. Die Beziehung zwischen dem, wo die Schranken heute liegen, und wo wir stehen, ist sehr dynamisch. Wir waren noch nie auf der anderen Seite der Schranken, das ist nicht möglich. Aber wir finden es auch nicht angenehm, hier festzusitzen. Wir drücken unablässig gegen die Schranken. Wir schaffen es, zu sagen, was wir zu sagen haben. Und wir haben immer gesagt, was wir sagen wollten!

Dennoch müssen Sie bei allen Stücken stets die Zensur im Kopf behalten…

Hassan El Geretly; Foto: Tamer Issa/Goethe Institut
Hassan El Geretly ist Theaterdirektor. Er studierte Theaterwissenschaften und französische Literatur an der Universität von Bristol in Großbritannien und erwarb ein Hochschuldiplom in audiovisueller Inszenierung (Radio, Video und Film) an der Universität Paris-Sorbonne. Seit den 1970er Jahren arbeitet er in Frankreich und Ägypten für Theater und Film. Er war der Gründer eines Theaterensembles namens "Les Tréteaux de la Terre et du Vent", das zwischen 1975 und 1980 in Frankreich auf Tournee war. 1987 gründete El Geretly in Ägypten das Theaterensemble "El Warsha". 1988 wurde er zum Leiter des ersten experimentellen Theaters in Kairo berufen, trat aber 1992 zurück, um sich ganz dem unabhängigen Theater zu widmen.

El Geretly: Schauen Sie, "El Warsha" sollte es eigentlich nicht geben, aber es gibt uns mittlerweile seit 30 Jahren. Wie? Wir passen uns an, aber wir versuchen auch immer das zu sagen, was wir zu sagen haben. Es gibt so viele Initiativen, die es eigentlich nicht geben dürfte, und doch werden es immer mehr. Jeden Tag höre ich von aufregenden Initiativen, die Situation ist also paradox, so paradox wie die Lage der Kulturen und der Künste in unterschiedlichem Ausmaß überall auf der Welt schon immer gewesen ist.

Macht Ihnen Ihre Arbeit Spaß oder ist sie Ihnen manchmal nicht auch zu anstrengend?

El Geretly: Sie macht mir Spaß, weil mir durch diese Arbeit klar wird, dass es innerhalb unserer Gesellschaft große Freiheitsbereiche gibt. Die Gesellschaft wird konservativer, nicht nur die Machtstruktur, sondern die Gesellschaft an sich, doch wenn ich mich mit meinem Ensemble in konservativen Regionen Ägyptens auftrete, merke ich, dass in den Menschen eine Menge Freiheit steckt, die in einer Diskussion nicht zum Ausdruck kommt. Wir stellen uns die Frage, was wir für die Minderheiten, aber auch für die unterrepräsentierten Mehrheiten wie beispielsweise Frauen in diesem Land tun können. Wir fragen uns unablässig, wie wir sie darstellen, wie wir mithelfen können, diesen Menschen eine Stimme zu geben. Ich genieße diese Arbeit, sie ist wirklich mein Leben. Es gibt jeden Tag etwas Nerviges oder wirklich Problematisches, aber das ist nun mal der Preis, den man bezahlt, für das, was man gerne tut. Man kann eben nicht beides haben.

Würden Sie in den kommenden 30 Jahren etwas anders machen als bisher?

El Geretly: Ich bereue nichts, was ich getan habe. Einige Kleinigkeiten würde ich anders machen, aber könnte ich mit einer Zeitmaschine zurückkehren, würde ich denselben Weg einschlagen wie vor 30 Jahren. Doch mich interessiert mehr der Moment mit all seinen positiven und negativen Dynamiken. Natürlich ist die Idee nicht, „El Warsha“ so zu lassen, wie es ist, es geht in der Zukunft mehr darum, wie wir das als unabhängige Künstler leben wollen. Ich glaube nicht an feststehende "Kulissen", denn im Leben geht es um Bewegung und Veränderung.

Das Interview führte Franca Schuhmann.

© Goethe Institut 2017