Klein Sizilien in Nordafrika

Mit seiner Familiensaga "Piccola Sicilia" erweist sich Daniel Speck als großer Erzähler und Brückenbauer zwischen den Kulturen. Der Roman wirft zudem ein Schlaglicht auf ein wenig bekanntes historisches Geschehen: Die deutsche Besatzung in Tunesien 1942/1943 und das Schicksal der tunesischen Juden. Von Martina Sabra

Von Martina Sabra

Die kolonial geprägte Neustadt mit der großen Synagoge von 1937 und dem wunderschönen Hotel Majestic von 1911; der italienisch geprägte Küstenvorort La Goulette mit der katholischen Kirche und der Madonna von Trapani; die arabische Altstadt (Medina) mit ihren verwinkelten Gassen und der Zitouna-Moschee aus dem 8. Jahrhundert – diese drei Orte in und um Tunis sind zentrale Schauplätze des Romans "Piccola Sicilia" ("Klein Sizilien") von Daniel Speck.

Nicht in Tunesien, sondern in Süditalien spielt die Rahmenhandlung: 300 Kilometer Luftlinie nördlich, im Sizilien der Gegenwart. Die junge Archäologin Nina aus Berlin nimmt an einer Unterwasserforschung teil. Gleich nach ihrer Ankunft auf der Insel begegnet sie der 70 Jahre alten Joelle aus Israel.

Die Begegnung der beiden Frauen ist kein Zufall. Nina sucht ihren im Zweiten Weltkrieg verschollenen Großvater Moritz; Joelle behauptet, eine Tochter von Moritz zu sein. Wer war dieser junge Frontsoldat und Kameramann aus Berlin, der offenbar ein Doppelleben führte?

Ein Rückblick

Die Geschichte führt zurück ins Tunis der 1940er Jahre. Frankreich hält Tunesien seit 1881 als Protektorat besetzt. Die Bevölkerung der Hauptstadt Tunis ist zu jener Zeit außergewöhnlich bunt und vielfältig. Neben der muslimischen Mehrheit mit ihren berberischen und arabischen Wurzeln leben weit über 100.000 Juden im Land, deren Vorfahren teils schon in der Antike nach Nordafrika kamen.

Buchcover Daniel Speck: "Piccola Sicilia" im S. Fischer Verlag
Vor dem Hintergrund der Besatzung Tunesiens durch die Nazis im Zweiten Weltkrieg erzählt Daniel Speck die außergewöhnliche Liebesgeschichte zwischen dem Wehrmachtssoldaten Moritz Reincke und dem Zimmermädchen Yasmina. Die Geschichte ist kompliziert, denn Yasmina ist Jüdin, und sie ist bereits unsterblich in einen anderen Mann verliebt: den Hotelpianisten Victor, ebenfalls Jude. Beide, Yasmina und Victor, sind in großer Gefahr, denn die deutschen Besatzer arbeiten auch in Tunesien auf die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung hin.

Dazu kommen mehrere hunderttausend Christen, die größtenteils im 19. Jahrhundert aus Italien, Frankreich und anderen Ländern eingewandert sind. Das friedliche Miteinander wirkt fast utopisch. Doch das Unheil in Form von Nationalismus und Rassismus liegt bereits in der Luft.

Als Nazi-Deutschland 1940 große Teile Frankreichs militärisch besetzt und in Paris das deutsch kontrollierte, judenfeindliche Vichy-Regime an die Macht kommt, sind die Folgen auch im französischen Protektorat Tunesien zu spüren. Tunesiens Juden dürfen nicht mehr im öffentlichen Dienst arbeiten, jüdische Ärzte können nur noch jüdische Patienten behandeln. Tausende Juden in Tunesien verlieren die französische Staatsbürgerschaft, die sie seit den sogenannten "Crémieux"-Dekreten unter bestimmten Umständen bekommen hatten.

Die Lage eskaliert, als im November 1942 die sogenannten Achsenmächte Italien und Deutschland in Tunesien einmarschieren. Die deutsche Wehrmacht errichtet ihr Hauptquartier mitten in Tunis – im eingangs erwähnten Hotel Majestic.

"Tunisgrad"

Das schmucke Gebäude in Jugendstilarchitektur erstrahlt heute frisch renoviert in neuem Glanz. Der Geschäftsführer des Hotels Karim Bey hat den Romanautor Daniel Speck getroffen, als dieser vor Ort für den Roman recherchierte. "Daniel Speck wollte so viel wie möglich über die Geschichte des Hotels wissen. Ich selbst war damals ja noch nicht geboren", sagt Karim Bey. "Aber schon mein Vater hat dieses Hotel geführt und ich habe als Kind hier in einer Dienstwohnung gelebt. Mein Vater hat mir einiges erzählt."

Durch die Besetzung von Tunesien Ende 1942 wollte Nazi-Deutschland den Kriegsverlauf zu seinen Gunsten wenden. Ein hoffnungsloses Unterfangen, das zahllose Soldaten das Leben kostete ("Tunisgrad") und für das die tunesische Zivilbevölkerung einen hohen Preis bezahlte. In den Gefechten zwischen den Alliierten und der Wehrmacht starben Tausende oder wurden verletzt. Zahllose unbeteiligte Familien verloren im Bombenhagel ihre Häuser und ihre wirtschaftliche Existenzgrundlage.

Vor diesem dramatischen historischen Hintergrund erzählt Daniel Speck die außergewöhnliche Liebesgeschichte zwischen dem  deutschen Wehrmachtssoldaten Moritz Reincke und dem Zimmermädchen Yasmina. Die Geschichte ist kompliziert, denn Yasmina ist Jüdin, und sie ist bereits unsterblich in einen anderen Mann verliebt: den Hotelpianisten Victor, ebenfalls Jude. Beide, Yasmina und Victor, sind in großer Gefahr, denn die deutschen Besatzer arbeiten auch in Tunesien auf die Enteignung und die physische Vernichtung der jüdischen Bevölkerung hin.

Unter dem Oberbefehl von Walter Nehring (ab Dezember 1942 übernimmt Hans-Jürgen von Arnim den Posten) lässt der für seine Brutalität berüchtigte Sonderkommandant Walter Rauff Konzentrationslager errichten und befiehlt die Aufstellung eines sogenannten "Judenrates", bestehend aus ausgesuchten Mitgliedern der jüdischen Community. Diese sollen dabei helfen, das Gold und Geld der jüdischen Familien von Tunis zu sammeln, sowie rund 5.000 jüdische Männer für Zwangsarbeit an der Front zu rekrutieren.

Nominiert als "Gerechter unter den Völkern"

Ihre furchtbaren Ziele werden die Nazis in Tunesien nur teilweise verwirklichen können - unter anderem, weil die Zeit zu kurz ist und weil einige italienische und tunesische Akteure Mut beweisen und Juden helfen. Ein muslimischer Tunesier, Khaled Abdelwahab, rettet 1942/1943 in dem Ort Mahdia insgesamt 25 jüdische Tunesier vor den Nazis. Er wird Jahrzehnte später zweimal für den Status eines "Gerechten unter den Völkern" in Israel vorgeschlagen, allerdings ohne Erfolg.

Die genaue Zahl der Opfer der deutschen Besatzung in Tunis ist nicht bekannt. Insgesamt sollen von November 1942 bis Mai 1943 rund 2.500 jüdische Jugendliche und Erwachsene in den tunesischen Zwangsarbeitslagern unter menschenunwürdigen Umständen geschuftet haben. Mehrere Hundert kommen ums Leben, eine unbekannte Zahl wird in Vernichtungslager nach Europa deportiert.

In Daniel Specks Roman entkommt der jüdische Pianist Victor nur knapp der Ermordung durch die Nazi-Besatzer. Ausgerechnet Moritz Reincke rettet ihn. Auch Yasmina und ihre Eltern werden gerettet, doch sie verlieren ihr Zuhause in La Goulette. Das traditionelle jüdische Viertel in der Altstadt von Tunis, die "Hara" ist keine Alternative, denn überall werden Juden in Tunesien nun verfolgt. Yasmina und ihre Eltern überleben, weil muslimische Bekannte sie in der Medina von Tunis bei muslimischen Nachbarn verstecken.

Der Schriftsteller Daniel Speck; Foto: dpa
Daniel Speck, 1969 in München geboren, baut mit seinen Geschichten Brücken zwischen den Kulturen. Auf seinen Reisen trifft er Menschen, deren Schicksale ihn zu seinen Romanen inspirieren. Er verfasste die Drehbücher zu "Maria, ihm schmeckt's nicht" sowie zu "Zimtstern und Halbmond". Für "Meine verrückte türkische Hochzeit" erhielt er den Grimme-Preis und den Bayerischen Fernsehpreis.

Heute leben in Tunesien noch rund 1.500 Jüdinnen und Juden, davon allein 1.000 auf Djerba. Auf dem Gebiet des ehemaligen jüdischen Viertels in der Altstadt von Tunis stehen zum großen Teil moderne Mehrfamilienhäuser aus den 1970er Jahren.

Das vergessene jüdische Erbe?

Viele alte Synagogen von einst wurden entweder zerstört oder zu Cafés umgebaut. Gerät das jüdische Erbe in der Altstadt von Tunis in Vergessenheit? "Nein", sagt Layla Bengassem, von Beruf Ingenieurin und Besitzerin eines Gästehauses in der Altstadt. Sie bietet Führungen an, bei denen Besucher sich auch über das jüdische Erbe in der Altstadt von Tunis informieren können.

"Früher waren rund ein Fünftel aller Einwohner der Medina jüdischen Glaubens", erzählt sie. "Heute leben hier kaum noch Juden. Deshalb ist es wichtig zu wissen, was hier war, und es ist wichtig, die Geschichte gut zu kennen." Sie habe großes Interesse an dem Roman von Daniel Speck, sagt Layla Bengassem.

"Wenn wir in Tunesien über das Thema Besatzung sprechen, dann geht es fast immer um Frankreich. Die deutsche Besatzung in Tunesien war im Vergleich sehr kurz. Wir wissen sehr wenig darüber. Aber seit ich von dem Roman erfahren habe, erinnere ich mich viel öfter an das, was mein Vater mir vom Krieg erzählt hat. Dass er sich in seinem Dorf bei Tunis als kleiner Junge versteckte, wenn die Bomben fielen, und einfach nur Angst hatte."

Layla Bengassem wünscht sich, dass der Roman von Daniel Speck bald auf Arabisch, Französisch oder Englisch übersetzt werde, damit sie ihn selbst lesen könne. "Ich bin gespannt auf die Geschichte der beiden Frauen Nina und Joelle. Aber vielleicht ist der Roman auch mehr: Ein Anlass, dass Tunesier und Deutsche sich  intensiver als zuvor mit der Besatzung 1942-1943 und den Folgen befassen."

Martina Sabra

© Qantara.de 2019

Daniel Speck: "Piccola Sicilia", S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018, 624 Seiten, ISBN-13: 9783596701629