Plädoyer gegen Verklärung

Der Historiker Daniel Marwecki legt mit seinem Buch einen wichtigen Debattenbeitrag vor, der die vielfältigen Motive in den gesamten deutsch-israelischen Beziehungen analysiert. René Wildangel hat das Buch für Qantara.de gelesen.

Von René Wildangel

Die deutsch-israelischen Beziehungen sind eng und freundschaftlich. Dass dies 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges und der Shoa möglich ist, wird nicht selten als ein „Wunder“ bezeichnet. Daniel Marwecki zieht mit seinem bisher nur auf Englisch erschienenen wichtigen Buch über das deutsch-israelische Verhältnis ein anderes Fazit: Beiden Seiten ging es bei der Annäherung nicht in erster Linie um moralische Überlegungen, sondern um handfeste politische, wirtschaftliche und militärische Interessen.

Für die frühe Bundesrepublik vor allem um die Legitimierung des Mythos „Stunde Null“ in der vorgeblich der Geist des Nazismus überwunden worden sei („Whitewashing“) und für Israel um die Konsolidierung des jungen Staates und seiner politischen und militärischen Schlagkraft (State building).

In Deutschland herrscht bis heute eine Lesart vor, die von einer moralischen Motivation der von Deutschland geleisteten finanziellen sogenannten „Wiedergutmachung“ ausgeht – eines angesichts der Kluft zwischen der Zahlung einiger Millionen D-Mark und der Vernichtung und Enteignung von sechs Millionen Juden in Europa geradezu obszönen Begriffs.

In der israelischen Wahrnehmung gab es keine „Wiedergutmachung“, hier ging es allenfalls um Reparationen (hebräisch: Shilumim), die von einer breiten israelischen Bevölkerung als „Blutgeld“ abgelehnt wurde, aber von Staatschef David Ben-Gurion als unerlässlich für den Aufbau des jungen Staates gesehen wurde.

Besondere Rolle der BRD und der USA als Schutzmächte

Zurecht, zeigt Daniel Marwecki, denn bis zum Junikrieg 1967 hatte die Bundesrepublik mit ihrer teils geheim vorangetriebenen Unterstützung – nicht nur finanziell, sondern vor allem industriell und militärisch – eine herausragende Rolle inne. Erst danach werden die USA zu der überragenden Schutzmacht, die sie heute sind.

Buchcover Daniel Marwecki: “Germany and Israel. White Washing and State Building“, erschienen bei Hurst Publishers
Man könnte Marweckis Buch als ein Plädoyer für mehr Ehrlichkeit verstehen: Nur wer die komplexe deutsch-israelische Beziehungsgeschichte nicht verklärt und politische Interessen offen benennt, kann sie auch für die Zukunft gestalten, schreibt René Wildangel.

Dieser deutsche Beitrag zur Konsolidierung des israelischen Staates ist zwar keineswegs unbekannt. Aber es ist Marweckis Verdienst, anhand umfangreicher Quellenstudien im Archiv des Auswärtigen Amtes die oft zwiespältigen Motive dieser Unterstützung eingehend und kritisch zu hinterfragen.

In der politischen Diskussion über mögliche Zahlungen an Israel gab es zwar in den frühen 1950er Jahren in Kabinett und Bundestag moralische ebenso wie finanzpolitische und außenpolitische Erwägungen. Dominant und über alle Parteien hinweg verbreitet aber war das Ansinnen, von den „im deutschen Namen“ – so hieß es verharmlosend bei Adenauer, aber auch noch bei vielen seiner Nachfolger – begangenen Verbrechen mit einer neuen Symbolpolitik abzulenken. Und eher symbolisch war zumindest für die deutsche Seite auch die Summe, die 1952 beschlossen wurde: 823 Millionen Dollar an den israelischen Staat, die zu zwei Dritteln in Waren und Dienstleistungen ausgezahlt wurden.

Wie klein der Umfang dieses „Luxemburger Abkommens“ war, demonstriert Marwecki mit dem Verweis auf den internationalen Schuldenerlass, der dem deutschen Staat ein Jahr später in London in Höhe von von 16 Milliarden Dollar gewährt wurde.

Braune Eliten

Und Marwecki erinnert noch an ein anderes Motiv, das in den Aufzeichnungen deutscher Beamter immer wieder auftaucht: Die antisemitische Vorstellung eines mächtigen „Weltjudentums“ (den NS-Terminus reproduziert zum Beispiel Finanzminister Schäffer 1952 im Bundestag), welches durch ein gutes Verhältnis mit Israel beschwichtigt werden könne.

„Die Macht der Juden auch heute noch, insbesondere in Amerika, soll man nicht unterschätzen“, sagte Adenauer noch in einem Gespräch mit Günter Gaus vom 29. Dezember 1965. Dass eine Elite, die im Gegensatz zu Adenauer in großen Teilen selbst Teil des NS-Apparates oder der Kriegsführung der Wehrmacht war, noch immer nicht unerheblich von latentem und teils offen zur Schau gestelltem Antisemitismus geleitet war, mag wenig überraschen.

Aber dass ausgerechnet diese das Verhältnis mit Israel vorantrieb, ist ebenso paradox wie die Tatsache, dass David Ben-Gurion aufgrund der für Israel militärisch und wirtschaftlich so bedeutenden Beziehungen zu Deutschland die Vergangenheit nur wenige Jahre nach der Shoa weitgehend ruhen ließ. Das „neue Deutschland“ sollte nicht mehr mit „Nazi-Deutschland“ assoziiert werden.

Und so wurden, wie schon Hannah Arendt in ihrem berühmten Prozessreport feststellte, im Eichmann-Prozess 1961 nicht die deutschen Täter, die noch immer zahlreich in den Bonner Schaltzentralen saßen, als Nazis gebrandmarkt, sondern arabische Führer wie Nasser oder der berüchtigte palästinensische Mufti Amin al-Husseini. Der hatte zwar als Kollaborateur in Berlin Schuld auf sich geladen, war aber keineswegs der einflussreiche Protagonist der „Endlösung“, zu der er nun gemacht werden sollte, um legitime palästinensische Ansprüche zu diskreditieren.

Von der „Gnade der späten Geburt“

Marweckis analysiert auch die neueren deutsch-israelischen Beziehungen vor dem Hintergrund der jeweiligen Interessen. Dabei fördert er weniger Neues zutage, liefert aber einen sehr guten Überblick: Von der Nahostpolitik unter Brandt, die sich im Angesicht der Ölkrise stärker an der arabischen Welt orientierte, bis hin zur konservativen Regierung Kohls, der mit dem Zitat der „Gnade der späten Geburt“ deutsche Verantwortung erneut kleinredete.

Der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl bei einer Kranzniederlegung vor der Knesset im Jahr 1984; Foto: Imago
Im Kreuzfeuer der öffentlichen Kritik: Bei seinem ersten Israel-Besuch im Januar 1984 sprach der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl vor der Knesset in Jerusalem von der "Gnade der späten Geburt". Kohl meinte damit, er sei ein Vertreter jener Generation, die zu jung sei, um selbst "Täter" gewesen sein zu können. Seine Kritiker warfen ihm vor, sich aus der "geschichtlichen Verantwortung" für den Holocaust stehlen zu wollen, der sich jeder Deutsche - egal welchen Alters - zu stellen habe.

Zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung sieht er das enge Verhältnis zu Israel als wichtiges Vehikel deutscher Politik um zu demonstrieren, dass das vereinigte Deutschland an seiner kontinuierlichen Politik der Westbindung festhalten werde.

Marwecki bestreitet mit seinem Buch nicht die Bemühungen und Erfolge, die es auf dem Weg zu einer echten „Aufarbeitung“ der Vergangenheit in juristischer und gesellschaftlicher Hinsicht gab und den deutsch-israelischen Dialog bis heute prägen. Aber er hinterfragt konsequent ihre oft formelhafte politische Repräsentation bis hin zu Merkels Begriff der Sicherheit Israels als deutscher „Staatsräson“.

Plädoyer für mehr Ehrlichkeit

Martin Schulz zitiert er mit einer Äußerung von 2018: „Indem wir Israel schützen, schützen wir uns selbst - vor den Dämonen unserer eigenen Vergangenheit.“ Die Tatsache, dass antisemitische Einstellungen – und Taten – in Deutschland massiv zunehmen, legt nahe dass es mehr bedarf als der Unterstützung für Israel, um diese Dämonen abzuwehren. Der deutsche Diskurs über Israel, so Marwecki, dreht sich meist weniger um die Lage in Nahost, als um deutsche Identitäten und deutsche Schuld – und nicht selten um den Versuch, diese zu verdrängen oder auf andere zu übertragen.

Derartiger Antisemitismus und Schuldumkehr wurden bisher fast ausschließlich in Bezug auf die pro-palästinensische deutsche Linke und die 68er-Bewegung diskutiert. Marwecki legt mit seinem Buch einen wichtigen Debattenbeitrag vor, der die vielfältigen Motive in den gesamten deutsch-israelischen Beziehungen analysiert. Deren Ursprünge sind nicht immer so moralisch überhöht, wie es die feierlichen Ansprachen nahelegen.

So könnte man Marweckis Buch als ein Plädoyer für mehr Ehrlichkeit verstehen: Nur wer die komplexe deutsch-israelische Beziehungsgeschichte nicht verklärt und politische Interessen offen benennt, kann sie auch für die Zukunft gestalten.

René Wildangel

© Qantara.de 2020

René Wildangel ist Historiker und schreibt unter anderem zum Schwerpunkt Naher/Mittlerer Osten.