Unvorbereitet in die Krise

In Afghanistan sind die COVID-19-Fallzahlen noch relativ niedrig. Doch das Gesundheitssystem des Landes befindet sich in einem desolaten Zustand und die Konflikte zwischen den Taliban und der Regierung überschatten den Kampf gegen die Ausbreitung des Virus. Von Emran Feroz und Mohammad Zaman

Von Emran Feroz & Mohammad Zaman

"Das ist falsch und es muss aufhören – besonders jetzt", so Dr. Sayed Shah, ein Arzt aus der Provinz Baglan, die immer noch als eine besonders unsichere Regionen Afghanistans gilt. Dr. Shah teilt die Besorgnis vieler Afghanen über die anhaltenden Kämpfe zwischen den Taliban und der afghanischen Nationalarmee, während COVID-19 weite Teile des Landes heimsucht.

"Seien wir realistisch. Auf die Krise sind wir nicht vorbereitet. Ich habe keine Mittel, um jemanden zu testen. Das gilt für viele weitere Mediziner überall in Afghanistan. Wir haben noch nicht einmal ein gewöhnliches Labor für solche Tests", berichtet Shah.

Bisher meldete Afghanistan 367 COVID-19-Erkrankungen und vier Todesfälle (Stand: 8.4.2020). Beobachter und Mediziner vor Ort meinen jedoch, dass die tatsächliche Zahl der Infektionen weit höher liegen könne. Die Mehrheit der Infizierten stammt aus der Provinz Herat, die eine gemeinsame Grenze mit dem Iran hat – einem Land, das stark von der Pandemie betroffen ist.

Überall mangelt es an Coronavirus-Tests und Beatmungsgeräten. Zwar hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) 1.500 Testkits zur Verfügung gestellt, doch nur zwei Labore in Afghanistan sind mit Geräten zur Verarbeitung der Proben ausgestattet.

Kürzlich wurden zwei Infektionen in Baglan registriert, wo Dr. Shah praktiziert. In seiner kleinen Arztpraxis erhält er täglich Besuch von 50 bis 100 Patienten.

"Wir versuchen, jeden zu testen, der in Herat war oder Kontakt zu anderen Menschen von dort hatte. Wir konzentrieren uns auch auf Menschen mit allgemeinen Symptomen", so Dr. Shah. Er und andere Mediziner haben Proben von möglicherweise Infizierten auf die schwierige Reise nach Kabul geschickt.

Shah Mohammad Takal; Foto: Mohammad Zaman
"Thus far, Afghanistan has reported 367 COVID-19 cases and four deaths, but observers and medics on the ground believe that the real number of infections could be much higher," write Emran Feroz and Mohammad Zaman. According to local activist Shah Mohammad Takal (pictured here), many people are not well-informed and are not taking the threat seriously: "especially in remote areas, people don't know anything about the virus," he says

Kämpfe erschweren mögliche Maßnahmen

Der Weg nach Kabul ist weit und dauert mindestens vier Stunden. Er führt unter anderem über den steilen Salang-Pass mit seinen schwer befahrbaren Straßen. Manchmal ist die Route durch Baglan aufgrund der fast täglichen Scharmützel zwischen Aufständischen und Sicherheitskräften nicht passierbar.

"Schon früher war Baglan immer ein Gefahrenherd, doch heute ist die Lage dort völlig unerträglich. Sie [Soldaten und Aufständische] sollten ihre Waffen niederlegen und als Sanitätskräfte lieber Leben retten", meint der Ortsansässige Mohammad Shahzad.

Am letzten Donnerstagabend wurde die Stromversorgung in Baglan aufgrund von Zusammenstößen zwischen Taliban-Kämpfern und afghanischen Soldaten unterbrochen. "Die setzen das Leben unserer Patienten aufs Spiel. Nicht nur wir waren von dem Stromausfall betroffen, sondern auch große Teile des Landes", berichtet Dr. Shah. Die Taliban wiesen allerdings jede Verantwortung von sich und behaupteten, ein Strommast sei "wegen der Wetterverhältnisse" beschädigt worden.

Auch die Regierungstruppen weiten ihre Angriffe aus. Am vorletzten Freitag wurden bei einem Luftangriff zwei Kinder in der Region Chashm-e Sher in Baglan getötet. Weitere Zivilisten wurden verletzt.

Obwohl die Taliban vor einem Monat in Qatar ein Rückzugsabkommen mit den Vereinigten Staaten unterzeichnet und die Angriffe auf amerikanische Streitkräfte eingestellt hatten, gingen die Kämpfe zwischen den afghanischen Fraktionen unvermindert weiter: Am 20. März, während der Feiern zum afghanischen Neujahrsfest, griffen Taliban-Kämpfer einen Außenposten in der Provinz Zabul an und töteten mindestens 24 afghanische Soldaten. Eine Welle der Empörung ging durchs Land.

Nur einen Tag später wurden bei einem Luftangriff in der Provinz Kundus elf Mitglieder einer Familie getötet – alle Opfer waren Zivilisten. In der vergangenen Woche töteten oder verwundeten afghanische Truppen mindestens neun Taliban in der Provinz Jawzjan.

Drohende Katastrophe und Polit-Schacher

Aktivisten in der afghanischen Provinz Khost informieren per Flugblatt über die neuartige Lungenkrankheit COVID-19; Foto: Mohammad Zaman
According to Emran Feroz and Mohammad Zaman, many civil society activists in the country are unhappy with the response of the government and the Taliban and have decided to take action themselves. Pictured here: activists in Khost hand out information leaflets about COVID-19 to passing drivers

Viele internationale Beobachter sind der Meinung, dass das Coronavirus Afghanistan in eine weitere Katastrophe stürzen könnte, und fordern sowohl die afghanische Regierung als auch die Taliban auf, die Kämpfe sofort einzustellen und mit den Vereinten Nationen und Hilfsorganisationen zusammenzuarbeiten, um den Zugang zu medizinischer Versorgung zu verbessern und möglichst viele Leben zu retten. Bedauerlicherweise scheinen beide Parteien nicht bereit zu sein, miteinander zu kooperieren.

Die politische Elite in Kabul ist nach wie vor gespalten: Sowohl Präsident Ashraf Ghani als auch der amtierende Regierungschef Abdullah erklärten sich selbst zum Sieger der Präsidentschaftswahlen vom Oktober 2019 und führten im vergangenen Monat getrennte Amtseinführungszeremonien durch. Berichten zufolge arbeiten mehrere Politiker und Führungspersönlichkeiten nach wie vor daran, die Differenzen zwischen Ghani und Abdullah beizulegen. Eine offizielle Verlautbarung blieb bislang jedoch aus. 

Polit-Schacher und militärischer Konflikt kommen zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt. Anstatt Schritte gegen die Ausbreitung von COVID-19 zu unternehmen, versuchen alle Parteien, sich als Retter darzustellen, die wissen, wie gegen das Virus vorzugehen ist. Lokale Fernsehsender ermahnen ihre Zuschauer regelmäßig, zu Hause zu bleiben, während Regierungsbeamte, wie Gesundheitsminister Ferozuddin Feroz, wiederholt in den Nachrichten erscheinen und die Bedeutung von Social Distancing und den Einsatz von Desinfektionsmitteln herunterspielen.

Dagegen zeigen sich Präsident Ghani und seine Kabinettsmitglieder mit Masken und Handschuhen und verzichten auf die traditionelle Umarmung zur Begrüßung. Einige bekannte afghanische Sänger haben sogar Lieder zu Corona komponiert und über soziale Medien verbreitet. Ein Lied des bekannten Sängers Farhad Darya wurde sogar von lokalen Sicherheitskräften zur Sensibilisierung der Bevölkerung eingesetzt.

Die Provinz Herat wurde schließlich nach tagelangem Zögern von der Regierung unter Quarantäne gestellt. Auch Kabul steht vor einem Shutdown: Viele bekannte Orte sind wie leergefegt, so beispielsweise der Mandaii, der historische Freiluftmarkt der Hauptstadt.

Die Antwort der Taliban

Die Taliban lancierten ihre ganz eigene Anti-Corona-Kampagne. Im Herater Bezirk Shindand, der größtenteils von den Aufständischen kontrolliert wird, trat eine Gesundheitskommission der Taliban zusammen, um "die Ausbreitung des Virus zu verhindern" und "die Öffentlichkeit zu sensibilisieren".

Sayed Qabil Shah Miakhel; Foto: Mohammad Zaman
Sayed Qabil Shah Miakhel lives in Khost city but has many relatives in remote Afghan villages. In recent days, he has informed them himself about COVID-19. Together with other activists, he has distributed information leaflets, soap and blankets

"Die Ausbreitung von COVID-19 ist für uns ein wichtiges Thema. Wir haben alle Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus ergriffen und wir verfügen über einen strukturierten Plan", so Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahed in einem Telefoninterview. Er beschrieb, wie seine Gruppe bereits mehrere Menschen unter Quarantäne gestellt hat und wie die Aufständischen mit Motorrädern in entlegene Dörfer fahren, um dort Broschüren, Seife und Desinfektionsmittel zu verteilen. "Wir konzentrieren uns besonders auf Rückkehrer aus dem Iran und raten ihnen zu einer freiwilligen Quarantäne", sagt Mujahed.

Am letzten Mittwoch erklärten die Taliban, sie würden einen Waffenstillstand in den von ihnen kontrollierten Gebieten einhalten, sollten diese von einem Ausbruch betroffen sein. Die Gruppe werde zudem die Sicherheit der Gesundheits- und Hilfskräfte garantieren, die in die von Taliban kontrollierten Gebiete reisen, und Hilfe zur Eindämmung des Virus anbieten.

"Die drohende Coronakrise bringt Millionen von Afghanen in Gefahr, doch die afghanischen Offiziellen ergehen sich in Machtkämpfen und die Taliban üben sich in Feindseligkeit", so Patricia Gossman, Associate Asia Director von Human Rights Watch. "Beide Seiten müssen mit der UNO und den Hilfsorganisationen zusammenarbeiten, damit die Hilfe das ganze Land erreicht, sonst wird die Situation katastrophal."

Bürgerrechtler werden aktiv

Aber nicht nur Taliban oder Regierung warnen die Bewohner in abgelegenen Orten vor dem Coronavirus. Weite Teile der afghanischen Zivilgesellschaft sind mit der Reaktion beider Seiten auf die Krise unzufrieden und werden selbst tätig.

In der südöstlichen Provinz Khost rüsten sich junge Aktivisten im Kampf gegen die Ausbreitung des Virus. "Vor allem in abgelegenen Gebieten wissen die Menschen nichts über das Virus. Sie haben noch nie etwas von Corona gehört. Wenn das so bleibt, kommt es dort zur Katastrophe", meint der afghanische Aktivist Shah Mohammad Takal.

Seit Takal und andere das Bewusstsein dafür geschärft haben, werden in der Provinz Verbote erlassen, die die Menschen auf Abstand halten sollen. Mehrere Hotels haben bereits geschlossen, da jegliche Zusammenkünfte bis auf weiteres untersagt sind. Mitarbeiter der Gesundheitsbehörden versuchen, alle Personen auf den Durchgangsstraßen zu erfassen.

In den letzten Tagen wurden 8.000 Schutzmasken, Seifen und Decken öffentlich verteilt. "Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir die erste Infektion in Khost registrieren werden. Angesichts der Schwierigkeiten, mit denen schon westliche Länder zu kämpfen haben, kann man sich vorstellen, wie schwierig das für Afghanistan ist. Aber wir tun unser Bestes, um das Virus zu bekämpfen", sagt Takal.

Emran Feroz und Mohammad Zaman

© Qantara.de 2020

Aus dem Englischen von Peter Lammers