Ein Land am Abgrund

Krieg, Armut, Cholera - und jetzt hat auch noch das Coronavirus den Jemen erreicht. Dem Land könnte der Kollaps drohen, befürchten Hilfsorganisationen. Eine junge Jemenitin erzählt von der Situation in ihrem Land. Hintergründe von Diana Hodali.

Von Diana Hodali

"Der Tod ist für uns Normalität", sagt Amal Mansour. "Doch das Coronavirus macht mir dennoch Angst." Amal Mansour lebt in Sanaa im Jemen. Die junge Frau ist besorgt. Denn seit Mitte April hat das Coronavirus offiziell das verwundbare Land erreicht, dessen Bevölkerung schon von einer Cholera-Epidemie und fünf Jahren Krieg geschwächt ist.

Bisher verzeichnet die Johns-Hopkins-Universität 244 Infizierte und knapp 50 Tote. Doch an diese Zahlen glaubt im Jemen eigentlich niemand. "Wir haben im Jemen so gut wie keine Möglichkeit, Tests durchzuführen. Wir wissen gar nicht, wie hoch die Zahl der Infizierten wirklich ist", sagt die 28-Jährige.

Schlechtes Gesundheitssystem

Amal Mansour hatte große Hoffnungen - damals im Zuge der arabischen Aufstände 2011, als die alte Regierung aus dem Amt gejagt wurde. "Ich wollte unbedingt in meinem Land bleiben und erleben, wie es sich entwickelt." Doch dann kam alles anders. 2015 begann der Krieg. "Und jetzt haben wir außerdem das Coronavirus im Land. Meine Heimat ist einer Epidemie nicht gewachsen", sagt sie.

Als freie Journalistin für internationale Medien beobachtet Amal Mansour die Lage im Land genau. Die wenigen noch intakten Krankenhäuser weigerten sich, Infizierte aufzunehmen, sagt sie. Auch, weil sich das Personal nicht ausreichend selbst schützen könne.

Das Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (UN-OCHA) zitiert in einem Bericht eine Krankenschwester am Krankenhaus der Universität für Wissenschaft und Technologie in Sanaa, die dies bestätigt: "Ich will Menschen gerne helfen", so Irene Versoza, "aber wie kann ich das, wenn es keine Schutzkleidung für mich gibt?"

Amal Mansour berichtet, dass viele Jemeniten sich zudem gar nicht in Krankenhäuser trauten, "denn man riskiert, sich dort möglicherweise anzustecken". Die Menschen im Jemen hätten viel Schlimmes erlebt, sagt sie. Aber Corona könne das Ende bedeuten.

Jemen | Kind mit Mundschutz trägt Hilfsgüter in Taez (Getty Images/AFP/A. Al-Basha)
Fast 80 Prozent sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. "Die meisten sind Tagelöhner, sie können es sich nicht erlauben, zu Hause zu bleiben. Wer nicht arbeitet, verhungert", sagt die jemenitische Journalistin Amal Mansour.

Komplizierter Stellvertreterkrieg

Seit fünf Jahre herrscht im Jemen ein komplizierter Stellvertreterkrieg, in dem sich vor allem die Huthi-Rebellen und die Regierung bekämpfen. Die Regierung des international anerkannten Präsidenten Abed Rabbo Mansur Hadi wird dabei von einem Militärbündnis gestützt, das von Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten angeführt wird.

Das sunnitische Saudi-Arabien sieht in den Huthis einen Verbündeten seines Erzfeindes, des schiitischen Irans. Ab 2014 hatten die Huthis große Teile des Jemen eingenommen, darunter die Hauptstadt Sanaa. Präsident Hadi war von den Huthis aus Sanaa vertrieben worden. Er und Premierminister Maeen Abdulmalik Saeed sind jetzt in Saudi-Arabien.

Die südjemenitische Küstenstadt Aden blieb zwar vorübergehender Regierungssitz. Doch vor wenigen Wochen haben Separatisten dort die Kontrolle übernommen. Das von den Saudis angeführte Militärbündnis hatte wegen der Pandemie eine Waffenruhe ausgerufen, die bis Ende Mai verlängert wurde. Das soll den Vereinten Nationen mehr Zeit geben, zwischen Huthis und Regierung zu vermitteln.

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Nur ein COVID-19-Behandlungszentrum

"In Aden ist die Lage sehr kompliziert", erzählt Amal Mansour. Dort hätten so viele verschiedene Kräfte das Sagen. "In all der Misere nennen wir manchmal Sanaa daher das Paris des Jemen", sagt sie, und es ist das erste Mal, dass sie im Verlauf des Telefonats schmunzelt. "Aber auch in Sanaa ist die Situation alles andere als leicht."

Eine der wenigen Isolationsstationen des Jemen befindet sich in Hadramout. (DW/Mohammed Baramadah)
Die Vereinten Nationen und die Geberstaaten müssen dringend mehr zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie im Jemen tun. Alarmierend hohe Sterblichkeitsraten im Covid-19-Behandlungszentrum in Aden deuten auf eine größere Katastrophe hin, die sich im Süden des Landes abspielt, warnt die internationale Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen.

Mehr möchte sie zur politischen Lage im Land nicht sagen. Aber die Corona-Nachrichten, die aus Aden zu hören seien, bereiteten ihr besondere Sorge. Dort sterben mittlerweile offenbar täglich viele Dutzende Menschen. Bilder von Toten, die in den Straßen liegen, kursieren. Es gibt Berichte über viele, die daheim sterben. Besonders die Armenviertel sind betroffen. Das bestätigt auch Ärzte ohne Grenzen. Die Organisation betreibt das einzige COVID-19-Behandlungszentrum in Aden.

"Was wir dort sehen, ist nur die Spitze des Eisbergs, was die Zahl der Infizierten und Sterbenden in der Stadt angeht", sagt Caroline Seguin, die Projekte von "Ärzte ohne Grenzen" im Jemen leitet. "Die Menschen kommen zu spät zu uns, um sie zu retten, und wir wissen, dass viel mehr Menschen überhaupt nicht mehr kommen: Sie sterben einfach zu Hause. Es ist eine herzzerreißende Situation."

80 Tote pro Tag in Aden

Dass viele Menschen zu Hause sterben, zeigen Statistiken der Regierung über Bestattungen, aus denen hervorgeht, dass Mitte Mai am Tag 80 Menschen in der Stadt starben, während es vor dem Corona-Ausbruch noch zehn am Tag waren. Ärzte ohne Grenzen berichtet zudem von einer hohen Zahl infizierter Pfleger und Helfer.

Eine Statistik darüber, wie hoch die Anzahl der COVID-19-Infizierten und Toten nun wirklich ist, ist nicht zu erwarten. Es gibt einfach zu wenige Testmöglichkeiten. Lediglich 500 Beatmungsgeräte stehen dem Land mit einer Bevölkerungsgröße von 29 Millionen Menschen zur Verfügung. Dazu kommen 700 Intensivbetten landesweit. In manchen Bezirken gibt es nicht einmal einen Arzt.

 

 

16 Millionen könnten sich infizieren

Die Cholera-Epidemie im Jemen hat bisher 2,3 Millionen Menschen infiziert, 4000 Jemeniten sind daran gestorben. Bei Corona befürchten die Vereinten Nationen nun mindestens 40.000 Todesopfer. 16 der 29 Millionen Jemeniten könnten sich mit dem Virus anstecken. Die UN-Flüchtlingshilfe (UNHCR) gehe davon aus, dass viele Jemeniten auch aufgrund von Unterernährung starke COVID-19-Symptome entwickeln könnten, so Jean-Nicolas Beuze vom UNHCR Jemen kürzlich in einem Interview mit dem indischen Sender Wion. "Es ist eine tragische Situation, die vom Rest der Welt ignoriert wird."

Auch Amal Mansour findet, dass die verheerende Lage des Landes kaum noch Beachtung findet. "Vielleicht ist die Weltöffentlichkeit müde davon, immer die gleichen schrecklichen Nachrichten aus meinem Land zu hören", sagt sie. Wegen der Corona-Pandemie sei der Jemen noch mehr in Vergessenheit geraten, denn alle Länder dieser Welt seien derzeit mit sich selbst beschäftigt.

 

With just 1 oxygen cylinder per 2.5 million people, Yemen's health infrastructure is in tatters following the civil war.



WION's @alysonle speaks with UNHCR representative in Yemen, Jean-Nicolas Beuze (@jnbeuze), on how the war-torn country is battling the #COVID19 crisis pic.twitter.com/qbTPCgvJQl

— WION (@WIONews) May 19, 2020

 

Zu wenig Hilfsgelder für den Jemen

Doch nicht nur das: Mehrere lokale Hilfsorganisationen mussten ihre Pforten schließen, weil internationale Gelder ausblieben. Auch dem UNHCR steht weniger Geld zur Verfügung. Derzeit hat das Hilfswerk nicht mal 30 Prozent der Hilfsgelder für den Jemen, so UNHCR-Vertreter Beuze.

Das hat besonders verheerende Folgen für die gut 3,6 Binnenflüchtlinge, die aufgrund des Krieges vertrieben wurden, und die nicht mehr ausreichend unterstützt werden können. Die Hoffnung liegt nun auf einer für den 2. Juni geplanten Online-Geberkonferenz im saudischen Riad.

Amal Mansour sagt, sie gehöre noch zu den privilegierteren Jemeniten. Sie lebt mit ihrer Mutter und zwei Tanten in einer Wohnung mitten in Sanaa. Durch ihre Jobs kann sie einen großen Teil zur Versorgung der Familie beisteuern. "Wir halten uns an die Empfehlungen, haben Masken und auch Handschuhe. Ich verlasse das Haus nur, um das Nötigste zu besorgen, doch ich kann auch von zu Hause arbeiten." Das ginge bei vielen Jemeniten nicht, sagt sie.

Fast 80 Prozent sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. "Die meisten sind Tagelöhner, sie können es sich nicht erlauben, zu Hause zu bleiben. Wer nicht arbeitet, verhungert", sagt Amal Mansour. "Ich habe Angst davor, dass ich auch in Sanaa bald über Leichen auf der Straße steigen muss."

 

Diana Hodali

©Deutsche Welle 2020