Machtpolitik, soziale Ungleichheit und mangelnde Transparenz

Angesichts der zahlreichen Konflikte und der schwierigen Beziehungen zwischen dem Staat und seinen Bürgern könnten Machthaber im Nahen Osten die Zwangsmaßnahmen in der Coronakrise für ihre Zwecke missbrauchen. Von Abdalhadi Alijla

Von Abdalhadi Alijla

Transparenz ist bekanntlich der Schlüssel zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Doch die meisten Staaten in Nahost und Nordafrika verfolgen in der Krise eine Politik, die die öffentliche Gesundheit als Frage der nationalen Sicherheit begreift.

Notfallmaßnahmen schränken die Bewegungsfreiheit ein. Städte, Gewerbe und die gesamte Volkswirtschaft sind vom Lockdown betroffen. Die Ungleichheiten im sozialen Gefüge der Staaten des Nahen Ostens treten dadurch noch deutlicher zutage. Die große Mehrheit der ungelernten Arbeiter, Ladenbesitzer und kleinen Gewerbetreibenden hat kein Einkommen mehr: Die Verarmung nimmt zu. Sie bleiben mit ihrer Miete im Rückstand und können ihre Familien nicht mehr ernähren.

Die Ausrufung des Ausnahmezustands, die Anwendung drakonischer Maßnahmen, der Einsatz von Überwachungstechnologien und die Implementierung neuer Techniken zur Beobachtung und Lenkung einzelner Bürger kann schwerwiegende politische Folgen haben. Die Menschenrechtsbilanz vieler Staaten des Nahen Ostens ist ohnehin besorgniserregend.

Die in der Pandemie bedenkenlos eingesetzten Technologien könnten im Bereich der öffentlichen Gesundheit oder Sicherheit ungeachtet einer weiteren Rechtfertigung über die Dauer der Pandemie hinaus genutzt werden.

Das wirft die Frage auf, wie es mit den Regimes nach Corona weitergeht. Diejenigen, die eine Intensivierung der Sicherheits- und Überwachungsmaßnahmen anstreben, werden fortbestehen. Ein Ausnahmezustand mit seinen Sonderregelungen wird daher weiter als eine potenziell drakonische Maßnahme gelten, mit der ein Staat seine Fähigkeit zur Einschränkung und Kontrolle seiner Bürger unter Beweis stellt.

Nährboden für Sektierer

Illuminierte Botschaft an die saudische Bevölkerung, während der Corona-Pandemie zuhause zu bleiben, Salwa Palast in Diriy, Saudi-Arabien; Foto: picture-alliance/abaca/Balkis Press
"Bleib zuhause, bleib in Sicherheit": "Das Notstandskonzept ist vom Zwang geprägt, angesichts einer hochriskanten Bedrohung schnell zu handeln. Was die COVID-19-Pandemie jedoch erfordert, ist eine basisdemokratische Reaktion in Abstimmung mit dem Willen des Gesetzgebers, nicht dem der Exekutive", schreibt Alijla.

Angesichts der politischen Volatilität verstärkt der Mangel an Transparenz die sektiererischen Spannungen in der Region – sowohl auf staatlicher Ebene als auch in der gesamten Bevölkerung. Es wurde versäumt, verlässliche Daten zum Coronavirus zu beschaffen. Die Fachbehörden geben Informationen weiterhin nur schleppend heraus. Gerade das wäre aber in einer regionalen Epidemie besonders wichtig.

Als Informationen über die Infektionsrate im Iran durchsickerten, bezichtigten viele Libanesen die Hisbollah, die Ausbreitung des Virus im Libanon zu vertuschen, und forderten, Flüge aus dem Iran auszusetzen. Dies löste sektiererische Spannungen im Libanon und in der Region insgesamt aus.

Dem Iran wurde vorgeworfen, die Öffentlichkeit irrezuführen und die öffentliche Gesundheit in der Region zu bedrohen. Saudi-Arabien und Bahrain verurteilten den Iran scharf wegen seiner rücksichtslosen Vorgehensweise. So habe man beispielsweise keine Pässe von Bürgern aus Staaten des Golf-Kooperationsrats abgestempelt, die sich im Iran aufgehalten hatten.

Das Virus verdeutlicht die gegenseitigen Vorurteile wie ein Brennglas. Eine kuwaitische Schauspielerin forderte sogar die Abschiebung ausländischer Arbeitnehmer. Hunderte von saudischen Twitter-Benutzern deklarierten die sunnitische Antwort als zivilisiert und vernünftig, wohingegen die schiitisch-iranische Antwort idiotisch sei. Einige verstiegen sich sogar zu der Behauptung, Qatar habe das Virus und dessen Verbreitung finanziert, um Riads Vision 2030 zu durchkreuzen.

Die Pandemie vertieft zudem die interne Polarisierung über politische Grenzen hinweg. Im Libanon sahen die Eliten der sektiererischen politischen Parteien in der Coronakrise eine Gelegenheit zur Versöhnung mit ihrer Basis, deren Unterstützung sie insbesondere nach Oktober 2019 verloren hatten. 

In den palästinensischen Autonomiegebieten vertiefte die Ausbreitung des Coronavirus die bestehende Spaltung, als sich das De-facto-Regime der Hamas weigerte, neue Notstandsmaßnahmen im Gazastreifen anzuwenden, die der vom Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde, Mahmoud Abbas, ausgerufene Ausnahmezustand vorsieht. Diese Spaltung verstärkte sich weiter, als klar wurde, dass das Hamas-Regime im Gazastreifen wenig Transparenz zeigte, was die Gesundheitsmaßnahmen, Anforderungen und Quarantäneregelungen angeht.

Einige sind gleicher als andere

[embed:render:embedded:node:39536]Auf sozio-ökonomischer Ebene deckt die Pandemie tiefe Ungleichheiten in den Gesellschaften des Nahen Ostens auf. Ohne familiäre und gesellschaftliche Solidarität würden Millionen von Menschen unter Nahrungsmangel und Obdachlosigkeit leiden. Viele behaupten zwar, das Virus mache keine Unterschiede zwischen den Menschen, doch in Wirklichkeit trifft es die Armen und die untere Mittelschicht mehr als die Wohlhabenden und die politische Klasse.

Lückenhafte Hygieneinfrastruktur, geschwächte Immunsysteme aufgrund von Mangelernährung und der ungleiche Zugang zur Gesundheitsversorgung sind Folgen wirtschaftlicher Ungleichheiten. 2018 stellte eine Studie fest, dass der Nahe Osten und Nordafrika die Regionen mit der größten Ungleichheit weltweit sind. Auch in einem einzelnen Land kann die Ungleichheit extrem sein. So leben beispielsweise in Ägypten mehr als 32 Prozent der 100 Millionen Menschen in Armut. Im Libanon sind es mehr als 40 Prozent der Bevölkerung.

Mittelschicht und Wohlhabende bewohnen geräumige Appartements, Häuser oder Villen, haben ein gesichertes Einkommen und können die Abstandsregelungen einhalten. Der mehrheitlich arme Teil der Bevölkerung und diejenigen, die in Flüchtlingslagern leben, können es sich schlicht nicht leisten, auf ihr ohnehin karges Einkommen zu verzichten und untereinander auf Distanz zu gehen.

Wer keine Unterstützung aus seinem sozialen Umfeld oder von einer NGO erhält, muss weiter arbeiten gehen, um sich und seine Familie zu ernähren. Zu Hause zu bleiben ist für viele ein Luxus, aber für einige ist es einfach keine Option. Weil er seine Familie nicht ernähren konnte, hat sich ein syrischer Flüchtling unlängst mit Benzin übergossen und angezündet.

Kein allgemeines Sicherheitsnetz

Die Pandemie trifft die Arbeitskräfte aus Tourismus und Dienstleistung besonders hart. Sollten der Lockdown, die Ausgangssperren und die Grenzsperrungen andauern, werden immer mehr Menschen ihren Arbeitsplatz und ihre Ersparnisse verlieren. Die Auswirkungen könnten über Monate oder sogar Jahre spürbar sein. In Ägypten steuert der Tourismus allein 15 Prozent zum BIP bei. In Jordanien liegt der Anteil bei 14 Prozent, in Tunesien bei 12 Prozent und in Marokko bei 8 Prozent. Mit anderen Worten: Millionen von Menschen verlieren ihre Existenzgrundlage; diese Menschen warten darauf, dass etwas geschieht.

Nicht alle Staaten im Nahen Osten unterhalten ein allgemeines Programm zur Unterstützung ihrer notleidenden Bevölkerung. Trotz einer Vielzahl staatlicher Wirtschaftsmaßnahmen ist zudem kein Land in der Lage, die sozioökonomischen Folgen zu bewältigen, die der Einkommensverlust von Millionen von Menschen mit sich bringt.

Obwohl sich die Staaten des Nahen Ostens nicht auf die Pandemie vorbereitet haben, reagieren sie mit den gleichen drakonischen Maßnahmen wie die Chinesen und nehmen dabei in Kauf, dass eine große Zahl von Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren wird. Zudem müssen auch die Auswirkungen auf die verarmte Bevölkerung berücksichtigt werden. Die Wirtschaftshilfen konzentrieren sich mehrheitlich auf die großen Unternehmen und die nationale Wirtschaft, während diejenigen aus dem Blick geraten, die auf ein tägliches Einkommen angewiesen sind.

Viele Staaten des Nahen Ostens werden in der Pandemie und in der dadurch bedingten besonderen Lage eine Gelegenheit sehen, ihre Macht auszubauen – durch Überwachung, innerstaatliche Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und massenhaftes Tracking. Vorhandene demokratische Grundsätze werden dadurch weiter untergraben. Die Regierungen werden in der Lage sein, immer mehr Einfluss auf das Leben der Menschen zu nehmen und deren Freiheiten zu beschneiden.

Die aktuelle Pandemie führt den Nahen Osten an einen weiteren Scheideweg. Wie sich die Staaten in der Region verhalten werden, wenn die Pandemie vorüber ist, bleibt abzuwarten. Der Mangel an Transparenz in einigen Ländern, das Versäumnis, eine wirtschaftliche Antwort zugunsten der Armen zu finden, krasse Ungleichheiten und die zur Bekämpfung des Coronavirus eingeführten neuen drakonischen Maßnahmen deuten darauf hin, dass der Ausnahmezustand in der Region wohl fortbestehen wird.

Abdalhadi Alijla

© Qantara.de 2020

Aus dem Englischen von Peter Lammers