Das Gespenst des Lockdowns ist wieder da

Nachdem Marokko lange Zeit den Eindruck erweckt hatte, es habe die Corona-Pandemie unter Kontrolle, hat sich die Gesundheitslage im Land nun drastisch verschlechtert. Ist Marokkos Kampf gegen das Virus doch gescheitert?

Von Ismail Azzam

Die Ansprache von König Mohammed VI. hat keinen Zweifel daran gelassen, dass Marokko schwer mit der Corona-Pandemie zu kämpfen hat und dass die feste Absicht besteht, zum Lockdown zurückzukehren, diesmal womöglich sogar in verschärfter Form, sofern sich die Situation nicht ändert.

Am selben Tag der königlichen Ansprache kündigten die Behörden Präventivmaßnahmen wie die Schließung öffentlicher Räume in drei Städten an, darunter in Casablanca, der größte Stadt des Landes, und der Tourismusmetropole Marrakesch, welche vor vier Jahren Gastgeberin des Weltklimagipfels gewesen war.

In den letzten Tagen und Wochen verzeichnete Marokko besorgniserregende Entwicklungen: Die Zahl der Erkrankten und die der Verstorbenen erreichte einen Rekordwert, wie es ihn das Land seit Beginn der Pandemie nicht erlebt hatte. So wurden am 18. August 33 Sterbefälle registriert.

Dramatische Situation in den Krankenhäusern

Am meisten Sorgen bereitet jedoch der enorme Druck, der auf den marokkanischen Krankenhäusern, selbst denen der Großstädte, lastet. Auf Facebook sind unter dem Hashtag #Marrakesch erstickt (#مراكش_تختنق) schockierende Bilder zu sehen, wie sich im Ibn Zohr-Krankenhaus (bekannt unter dem Namen Mamounia-Krankenhaus) die Covid-19-Patient*innen regelrecht stapeln.

Die Situation in der Stadt hat sich dermaßen zugespitzt, dass an einem anderen Krankenhaus die Ärzt*innen für innere Medizin schon angekündigt haben, die Behandlung von Covid-19-Patient*innen einstellen zu müssen, da die für den Gesundheitsschutz notwendigen Bedingungen nicht gegeben seien.

Marokkanische Einheiten der Armee in den Straßen von Tanger, Marokko; Foto: FADEL SENNA/AFP
Furcht vor der Rückkehr des Lockdowns: In den letzten Tagen und Wochen verzeichnete Marokko besorgniserregende Entwicklungen: Die Zahl der Erkrankten und die der Verstorbenen erreichte einen Rekordwert, wie es ihn das Land seit Beginn der Pandemie nicht erlebt hatte. So wurden am 18. August 33 Sterbefälle registriert.

„Das Gesundheitswesen hatte für die marokkanischen Regierungen niemals Prioriät. Es galt als Nebensache, da es für den Staat keine Einnahmen abwirft. Ein Blick auf den lächerlich geringen Gesundheitsetat und die schwach ausgebauten personellen Ressourcen genügt: 22.000 Krankenpfleger*innen und 12.000 Ärzt*innen für sämtliche (mehr als 35 Millionen) Einwohner*innen Marokkos. Der einzig neue Effekt von Covid-19 bestand darin, dass es die Lage noch zusätzlich verschärft hat. Den Marokkaner*innen war schon vorher klar, dass das Gesundheitssystem am Boden liegt“, so Dr. Imad Susu, Arzt am Centre Hospitalier Universitaire Mohammed VI. in Marrakesch.

Wie konnte es zu dieser fatalen Entwicklung kommen?

Gleich nach den ersten Dutzend Infektionsfällen hatte die marokkanische Regierung rasch gehandelt, indem sie den Gesundheitsnotstand ausrief, die Grenzen schloss, einen Großteil des öffentlichen Lebens lahm legen ließ und die Bewegungsfreiheit der Bürger*innen einschränkte. Maßnahmen, die bei vielen im Land auf Wohlwollen trafen, vor allem, als nachfolgend Pläne zur Unterstützung der in Mitleidenschaft gezogenen Wirtschaftszweige und zur Zahlung finanzieller Hilfen für die mittellosen Schichten bekannt gegeben wurden und Millionen von Schutzmasken zu erschwinglichen Preisen auf den Markt kamen.

Außerdem traten Gesetze in Kraft, die jeden Verstoß gegen die Hygienemaßnahmen unter Strafe stellten. Das ging so weit, dass eine Frau festgenommen wurde, die öffentlich Zweifel an der Existenz der Pandemie geäußert hatte.

Von Juni an lockerten die Behörden schrittweise die Quarantäne-Maßnahmen und erhöhten gleichzeitig die Anzahl der Tests. Doch parallel dazu stiegen die Fallzahlen allmählich wieder an, bis schließlich vor dem Opferfest Ende Juli die Dinge eine gefährliche Wendung nahmen.

Hatten die Behörden anfangs noch eine konsequente Haltung bei der Bekämpfung der Pandemie an den Tag gelegt, so begannen sie nun damit, Verordnungen zu erlassen, die von vielen als hastig improvisiert betrachtet wurden. Dazu zählte die Abriegelung von Großstädten nur wenige Tage vor dem Opferfest, ohne den Bürger*innen einen angemessenen zeitlichen Vorlauf zu lassen.

Zusätzliche Kritik zog die nachsichtige Haltung der Behörden gegenüber Unternehmen auf sich, die ihre Beschäftigten zu Tausenden ohne Einhaltung jeglicher Schutzmaßnahmen arbeiten ließen, wodurch sich in manchen Industriegebieten Infektionsherde bildeten.

Marokkos König Mohammed VI.; Foto: Reuters/P. Wojazer
Anlass zur Besorgnis: In Marokko warnt König Mohammed vor einem neuen Lockdown, falls die Zahl der Corona-Infektionen weiter steigt. Mitte August verzeichnete das Land mit 1766 Corona-Fällen binnen 24 Stunden einen Rekordanstieg seit der Aufhebung der dreimonatigen harten Ausgangssperre Ende Juni.

„Es ist unbestritten, dass es dem marokkanischen Staat zu Beginn der Pandemie gelungen war, Menschenleben zu retten und gleichzeitig die schmerzhaften wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen des Lockdowns abzufedern. Dennoch war die Kommunikation der Regierung von chronischen Defiziten geprägt, was Gerüchten Tür und Tor geöffnet hat“, so Omar Abbassi, Parlamentsabgeordneter der Istiqlal-Partei gegenüber Qantara.de. Zahlreiche Regierungsbeschlüsse hätten hilflos gewirkt. Dies mache es aber nicht akzeptabler, dass zahlreiche Bürger*innen die Schutzmaßnahmen missachteten.

Das Gesundheitswesen als fehlendes Glied in der Kette

Der Blick auf die Erfahrungen von Ländern, die einen transparenten Umgang mit der Corona-Krise an den Tag gelegt haben, macht deutlich, dass Marokko – angesichts der Prekarität seines Gesundheitswesens – vor einer ernsten Herausforderung stand.

Nach Ansicht von Dr. Susu haben die Gesundheitsbehörden die Zeit des dreimonatigen Lockdowns unnütz vertan. Während die Menschen in Marokko zuhause bleiben mussten und kein großer Druck auf dem Gesundheitswesen gelastet habe, hätte man die Krankenhäuser besser ausstatten sollen.

Dr. Susu kritisiert ferner die von ihm so bezeichnete „Übermacht des uniformen Krisenmanagementdiskurses“. Es gebe niemanden, der die politischen Entscheidungen der Staatsmacht kritisiere, und wenn, dann handele man sich den Vorwurf ein, die Bemühungen des Staates herabzuwürdigen.

Nach Ansicht von Dr. Susu sollten die Gesundheitsbehörden aufhören, nur zu reagieren, und stattdessen zum pro-aktiven Handeln übergehen, also die Patient*innen schon in den ersten Phasen ihrer Infektion mit dem Corona-Virus betreuen (ohne dabei jene Patient*innen zu vernachlässigen, welche an anderen ernsten Erkrankungen außer Covid-19 leiden). Dies solle in dafür ausgestatteten medizinischen Erstaufnahmezentren mit Zuständigkeit für bestimmte Wohnviertel geschehen.

Außerdem müsse damit aufgehört werden, spezialisierte Krankenhäuser nur für Covid-19 einzurichten, denn Infektionen seien vor allem in anderen, nicht auf Covid-19 spezialisierten Krankenhäusern aufgetreten, da dort die Schutzvorkehrungen unzureichend gewesen seien. Prioritär sei es, so Dr. Susu weiter, dass das Gesundheitsministerium eine klare Strategie ankündige, denn über eine solche verfüge es momentan nicht.

Kann Marokkos Wirtschaft einen neuen Lockdown verkraften?

Eine Rückkehr zum Lockdown würde fundamentale Fragen aufwerfen: Was würde aus den ökonomischen Aktivitäten von Millionen von Marokkaner*innen, die auf die Dienstleistungsökonomie und auf Tätigkeiten im informellen Sektor angewiesen sind (sowie sonstigen Sektoren, die von einem erneuten Lockdown betroffen wären)?

Krankenwagen in Marokko (Symbolbild/ARCHIV); Foto: Getty Images/AFP/A.Senna
Überbelegte Kliniken: Am meisten Sorgen bereitet jedoch der enorme Druck, der auf den marokkanischen Krankenhäusern, selbst denen der Großstädte, lastet. Die Situation in der Stadt Marrakesch hat sich dermaßen zugespitzt, dass an einem anderen Krankenhaus die Ärzt*innen für innere Medizin schon angekündigt haben, die Behandlung von Covid-19-Patient*innen einstellen zu müssen, da die für den Gesundheitsschutz notwendigen Bedingungen nicht gegeben seien.

Wäre denn der Staat in der Lage, die Betroffenen weiterhin zu entschädigen? Zumal der König kürzlich betont hat, eine solche Unterstützung könne „nicht bis in alle Ewigkeit andauern“? Wobei nebenbei bemerkt die Unterstützungsbeträge ohnehin nur einen geringen Teil der anfallenden Kosten für mittellose Familien abdecken würden. Und schließlich: Wäre Marokko als ganzes in der Lage, die ökonomischen Verluste zu verkraften, angesichts der fortdauernden Dürre in der Landwirtschaft, des Exportrückgangs und des Einbruchs im Tourismus?

„Eine Rückkehr zum Lockdown – vor allem zu einem strikten – würde für den informellen Sektor, in welchem 37% der Bevölkerung tätig sind, eine Art Lähmung bedeuten“, so Mustapha Azougah, ein auf Wirtschaftsthemen spezialisierter marokkanischer Journalist.

Der Staat habe in einem solchen Fall keinen Handlungsspielraum, um Kredite und finanzielle Liquidität zu gewährleisten. Die Möglichkeiten, Einnahmequellen für die öffentlichen Kassen zu generieren, würden schwinden, zumal mit einem Rückgang der Steuereinnahmen zu rechnen sei. Eine solche Situation würde den Staat möglicherweise zu einer Ausweitung seiner Auslandsverschuldung zwingen, was wiederum erhebliche Folgekosten mit sich brächte.

Mit Hinblick auf die sozialen Auswirkungen rechnet Azougah damit, dass es keine weitere Unterstützung für mittellose Familien werde geben können, und auch keine Hilfen für Personen, die ihre Arbeit verloren haben – mit entsprechenden Kaufkraftverlusten für die betroffenen Familien. Auch erwartet Azougah einen überdurchschnittlichen Anstieg der Arbeitslosenquote. Die marokkanische Wirtschaft würde ihm zufolge einen erneuten Lockdown nicht verkraften, denn durch ihre Abhängigkeit von ausreichenden Regenfällen sei ihr Wachstum ohnehin sehr fragil.

Den Menschen in Marokko ist während des dreimonatigen strikten Lockdowns bewusst geworden, dass Maßnahmen wie das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes, das Einhalten von Social Distancing und regelmäßiges Desinfizieren zwar notwendig sind, aber für sich allein genommen nicht ausreichen.

Die Behörden müssen ihre Lektion lernen und von den Erfahrungen jener Länder profitieren, die der ersten Corona-Welle die Stirn geboten haben. Die wichtigsten Lehren lauten: Investiere in den Gesundheitssektor! Nimm die wissenschaftliche Forschung ernst! Verfüge über einen klaren Plan und sorge für dessen Umsetzung – auf Basis der Einschätzungen von Expert*innen und Instanzen, die befähigt sind, einen qualifizierten Beitrag zu leisten.

Ismail Azzam

© Qantara.de 2020

Aus dem Arabischen vom Rafael Sanchez