Kein Bewusstsein für die Pandemie

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat sich vor laufenden Kameras gegen das Coronavirus impfen lassen; Foto: Murat Cetinmuhurdar/Presidential Press Office/REUTERS
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat sich vor laufenden Kameras gegen das Coronavirus impfen lassen; Foto: Murat Cetinmuhurdar/Presidential Press Office/REUTERS

Die Türkei hat im Januar ihre landesweite Impfkampagne mit einem chinesischen Vakzin gestartet. Doch in der Öffentlichkeit steht vielmehr die desolate Wirtschaftslage im Fokus. Die türkische Politik habe es versäumt, ein echtes Bewusstsein für die Gefahren durch das Coronavirus zu schaffen, schreibt Marion Sendker in ihrem Bericht aus Istanbul.

Von Marion Sendker

Erhobenen Hauptes blickt Recep Tayyip Erdogan ins Leere. Neben ihm stehen zwei Ärzte. Der Mediziner zu seiner Rechten hat ihm die Hand auf die Schulter gelegt, als würde er ihn halb umarmen. Der Arzt zu seiner Linken injiziert dem türkischen Staatspräsidenten die zweite Corona-Impfdosis. Auf den Aufnahmen, die jetzt veröffentlicht wurden und die den Bildern des ersten Impftermins von Mitte Januar haargenau ähneln, sieht es ein bisschen so aus, als habe der Politiker Angst vor Spritzen.

Die Szene ist aber entweder gefälscht oder veraltet. Erdogan sei schon Anfang Dezember 2020 geimpft worden, heißt es aus Regierungskreisen. Veröffentlicht wurde das Video zum Start der nationalen Impfkampagne in der Türkei, der um einen Monat nach hinten verschoben worden war. Seitdem sind laut Gesundheitsministerium knapp drei Millionen Türken gegen das Coronavirus geimpft worden.

Impfstoff aus China in der Kritik



Das Mittel der Wahl ist der Impfstoff „CoronaVac“ des chinesischen Herstellers Sinovac.. Laut türkischem Gesundheitsministerium ist eine Lieferung von 100 Millionen Dosen vereinbart worden. Geliefert wurden bisher nur etwa 15 Millionen. Verschiedene Studien, auch türkische, bescheinigen dem Mittel aus China eine Wirksamkeit von etwa 50 Prozent gegen das Virus.

Der Epidemiologe und frühere stellvertretende Vorsitzende der Weltgesundheitsorganisation, Serdar Savas, hält das noch für übertrieben. Die türkische Studie sei nicht wissenschaftlich durchgeführt werden, kritisiert er und geht von einer Wirksamkeit von nur etwa 40 Prozent aus. „Wir wissen nicht, ob das Mittel für die Risikogruppen sicher ist. Der Impfstoff wirkt wahrscheinlich genauso gut wie ein Placebo“, schätzt der Mediziner.

Andere Mittel, wie das Vakzin der Unternehmen BionTech und Pfizer sollen eine Wirksamkeit von etwa 90 Prozent haben. Doch diesen oder andere Impfstoffe gibt es nicht in der Türkei. „Weder ich noch der Rest der Bevölkerung haben das verdient“, beschwert sich Savas. Der Mediziner meint, die Führungsspitze des Landes hätte sich einen besseren Impfstoff gesichert: „Alle verfügbaren Daten belegen, dass Erdogan und sein engster Kreis einen BionTech-Impfstoff bekommen haben.“

Chinesische Erpressung in der Uiguren-Frage?

Die gesamte Bevölkerung mit dem Mittel aus Deutschland oder vergleichbaren Impfstoffen zu versorgen, kann sich Ankara finanziell nicht leisten. Daher ist das Land auf den chinesischen Impfstoff angewiesen, steckt aber gegenüber China in einem Dilemma.

Etwa 50.000 der in China brutal verfolgten, muslimischen Minderheit der Uiguren haben in den letzten Jahren in der Türkei Zuflucht bekommen. Erdogan selbst hatte sich öffentlich für die Uiguren ausgesprochen und ihnen Schutz geboten.

China Peking | Sinopharm Impfstoff; Foto: Zhang Yuwei/picture alliance
Macht der chinesische Impfstoff die Türkei erpressbar? Etwa 50.000 der in China brutal verfolgten, muslimischen Minderheit der Uiguren haben in den letzten Jahren in der Türkei Zuflucht bekommen. Erdogan selbst hatte sich öffentlich für die Uiguren ausgesprochen und ihnen Schutz geboten. China will aber bereits seit Längerem die Auslieferung von Aktivisten unter den Uiguren. Kurz vor dem Eintreffen der ersten 1,5 Millionen Impfdosen von „CoronaVac“ aus China hat sich das türkische Parlament mit dem von Peking gewünschten Auslieferungsabkommen China befasst.

China will aber bereits seit Längerem die Auslieferung von Aktivisten unter den Uiguren. Jetzt hat sich das türkische Parlament mit dem Auslieferungsabkommen mit China befasst - kurz vor dem Eintreffen der ersten 1,5 Millionen Impfdosen aus China. Für die Community der Uiguren ist das beängstigend.

Auch die Umstände der zweiten Lieferung von vereinbarten zehn Millionen Dosen aus China deuten darauf hin, dass China in der Uiguren-Frage Druck ausübt: Die Zustellung der zweiten Lieferung verzögerte sich zunächst um mehrere Tage. Erst nachdem in Istanbul einige Uiguren festgenommen wurden, die Verwandte in chinesischen Lagern haben, schickte Peking ein Flugzeug – mit 6,5 statt zehn Millionen Impfdosen.Armut und Arbeitslosigkeit schüren Ängste

Als erstes sind in der Türkei die Beschäftigten im Gesundheitswesen und die Mitglieder der Parlamentsfraktion von Erdogans AKP geimpft worden. Danach waren die über 90-Jährigen und jetzt die über 65-Jährigen an der Reihe.

Ein Aufschrei in der Bevölkerung über die Priorisierung der AKP-Fraktion blieb aus. Selbst die sonst eher kritische Ärztekammer verhält sich seit einigen Wochen ungewöhnlich still. Corona sei einfach nicht mehr das wichtigste Thema im Land, sagt der Epidemiologe Savas. „Die Menschen kämpfen gerade ums Überleben – aber nicht wegen Covid 19.“

Einer Untersuchung der Gewerkschaft DISK zufolge sind sieben von zehn Menschen verschuldet und vierzig Prozent der Türken leben unterhalb der Armutsgrenze. Laut einer anderen Untersuchung stellen für 80 Prozent der Menschen die steigende Inflation von inoffiziell etwa 37 Prozent und die Arbeitslosigkeit von gut 24 Prozent die größten Probleme des Landes dar. „Das Leistungsbilanzdefizit ist enorm und die Zahlungsbilanz völlig gestört”, sagt der Arzt Savas. Es gebe Selbstmorde aufgrund finanzieller Schwierigkeiten. „Auf der Agenda steht nicht mehr Covid, sondern der Kampf ums Überleben.“

Normalerweise schiebt Erdogan die Schuld für interne Probleme gerne und erfolgreich anderen in die Schuhe. Zum Beispiel dem Ausland. Dieser Rhetorik glauben einer Umfrage zufolge aber nur noch knapp 14 Prozent der Bevölkerung. Die Mehrheit – mehr als 60 Prozent – machen demnach die Regierung in Ankara für die Misere verantwortlich. Auch die Corona-Pandemie kann nicht mehr als Sündenbock herhalten, denn die Infizierten- und Todeszahlen sinken seit Wochen.

Gefälschte Infektionszahlen

In der Türkei stecken sich seit ein paar Wochen nur noch durchschnittlich 7.000 Menschen pro Tag an, obwohl in der Türkei sehr viel getestet wird.

Der Arzt Serdar Savas schätzt zwar, dass die tatsächlichen Zahlen etwa drei bis vier Mal höher seien als offiziell angegeben. Aber: Schon seit Beginn der Pandemie beklagen Ärzte und Opposition, dass die wahren Fallzahlen um ein Vielfaches über den offiziellen liegen. Auch wenn also die Regierung jetzt wieder geschönte Angaben veröffentlicht, ist die Zahl de facto gesunken.

Anders als Deutschland hat die Türkei relativ früh radikale Maßnahmen ergriffen: Die Schulen sind seit März fast durchgängig geschlossen. Draußen und in öffentlich zugänglichen Räumen herrscht überall Maskenpflicht. Wer dagegen verstößt, muss hohe Geldstrafen zahlen.

Menschen unter 20 und über 65 Jahren dürfen das Haus seit Monaten höchstens in einem festgelegten Zeitraum von zwei Stunden am Tag verlassen. Supermärkte, Apotheken oder öffentliche Verkehrsmittel sind für sie tabu. An den Wochenenden und Abenden gibt es Ausgangssperren für alle und seit November letzten Jahres haben auch Gaststätten zu.

Hinzu kommt, dass sich jeder, der Bus oder Bahn benutzt oder in ein Einkaufszentrum geht, über einen digitalen Code anmelden muss. So verfolgen die Gesundheitsbehörden etwaige Infektionsketten. Das dürfte sicherlich dazu geführt haben, dass die Zahlen sinken. Seit ein paar Wochen stagnieren sie auf vergleichsweise niedrigem Niveau.

Türkei Istanbul Coronavirus Ausgangssperre; Foto: Ozan Kose/AFP/Getty Images
Ausgangssperre in Istanbul: Anders als Deutschland hat die Türkei relativ früh radikale Maßnahmen ergriffen: Die Schulen sind seit März fast durchgängig geschlossen. Draußen und in öffentlich zugänglichen Räumen herrscht überall Maskenpflicht. Wer dagegen verstößt, muss hohe Geldstrafen zahlen. Menschen unter 20 und über 65 Jahren dürfen das Haus seit Monaten höchstens in einem festgelegten Zeitraum von zwei Stunden am Tag verlassen. Supermärkte, Apotheken oder öffentliche Verkehrsmittel sind für sie tabu. An den Wochenenden und Abenden gibt es Ausgangssperren für alle und seit November letzten Jahres haben auch Gaststätten zu. Doch die Politik habe es verpasst, die Wahrnehmung der Menschen dafür zu schärfen, wie wichtig es ist, sich vor dem Virus zu schützen, schreibt Marion Sendker.

"Wir sind die erfolgreichsten der Welt"

Serdar Savas findet aber, dass die Türkei strukturell falsch an die Bekämpfung der Pandemie herangegangen ist. Die Maßnahmen würden weniger eingehalten, weil die Menschen ein Bewusstsein für die Gefahren der Pandemie entwickelt hätten, sondern weil Verstöße gegen die Corona-Auflagen mit hohen Geldbußen sanktioniert werden. Aktuell schreiben Beamte pro Woche etwa 30.000 solcher Bußgeldbescheide.

Die Politik habe es verpasst, die Wahrnehmung der Menschen dafür zu schärfen, wie wichtig es ist, wenig Zeit an überfüllten Orten zu verbringen, eine Maske zu tragen und sich regelmäßig die Hände zu waschen. In der Öffentlichkeit wurde kein Gefühl der Verwundbarkeit geschaffen, kritisiert Savas. „Im Gegenteil, die Risikowahrnehmung der Menschen hat sich mit Aussagen wie ‚Wir sind die erfolgreichsten der Welt, wir haben die Epidemie überlebt‘ nur verschlechtert.“

Waren die Straßen während der ersten Welle noch verwaist, halten sich in der zweiten Welle viel weniger Menschen an die Vorgaben. Wie Jugendliche, deren Eltern ihnen verboten haben, auf eine Party zu gehen, huschen manche an den Wochenenden aus den Häusern und besuchen Freunde oder treffen sich vor Bäckereien, die geöffnet sein dürfen und trinken dort Kaffee. Und wie Eltern, die genau wissen, dass ihre Kinder gegen die Regeln verstoßen, drücken viele Polizisten beide Augen zu, denn sie sind es müde, Strafzettel schreibende Spielverderber zu sein. Was sie nicht sehen, das gibt es auch nicht.

Corona bleibt eine Ausrede

Das führt alles dazu, dass die Türkei in der Klemme sitzt: Lockerungen, die die Wirtschaft dringend bräuchte, würden zu einem Anstieg der Infektionszahlen führen, weil nie ein Bewusstsein für die Pandemie geschaffen wurde. Weitere Einschränkungen würde die Bevölkerung nicht mehr mitmachen, weil die Politik ihnen nie ernsthaft erklärt hat, worum es bei Corona überhaupt geht.

Die Pandemie wird, so gut es geht, von Gesellschaft und Politik ignoriert. Höchstens bei den aktuellen Studentenprotesten gegen Erdogans Ernennung eines ihm nahestehenden Mannes als neuem Rektor der international renommierten Bogazici Uni, bekommt Corona eine Nebenrolle. Die Ingewahrsamnahme von nun schon rund 200 Studierenden wurde damit begründet, dass sie Corona-Maßnahmen wie den Sicherheitsabstand nicht eingehalten hätten. Allen dürfte dabei klar sein, dass das nur eine Ausrede ist.

Dass junge Menschen lieber auf die Straße gehen und gegen die Regierung protestieren, ist symptomatisch für den Umgang mit Corona im Land. Selbst die akademische Elite des Landes hält Corona für weniger gefährlich als die Politik Erdogans.

Marion Sendker

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