Das Virus, die Macht und die Identität

Corona verändert, es vernichtet die Machtdemonstrationen der Herrschenden in der Islamischen Republik. Sie müssen jetzt auf die religiösen Massenevents verzichten, die bisher für das Regime unabdingbar waren. In der Islamischen Republik beginnt ein neues Zeitalter: ein virtuelles. Von Ali Sadrzadeh

Von Ali Sadrzadeh

Die Macht dieses unsichtbaren Feindes ist unermesslich. Das Virus greift nicht nur Diesseitiges an, es macht auch vieles zunichte, das das Jenseits manifestierten soll: etwa religiöse Prozessionen.

Für die Islamische Republik multipliziert sich die Gefahr, die von diesem Feind ausgeht. Denn weltliche und göttliche Macht sind dort identisch. Der mächtigste Mann des Landes nennt sich ja Ayatollah, das Zeichen Gottes. Vor der Coronazeit demonstrierte er diese Doppelmacht mit religiösen Massenevents, mit Prozessionen zu verschiedenen Anlässen, an denen sich Millionen Menschen beteiligten.

Und das sogar grenzübergreifend, wie etwa beim Gedenken an Hussein, den dritten Imam der Schiiten, bei dem in jedem Jahr am 40. Tag nach seinem Todesdatum (Arbain) alljährlich hunderttausende Pilger zu Fuß die iranisch-irakische Grenze überqueren, um zu Husseins Grab in der Stadt Kerbela zu gelangen.

Dieser schiitische Jakobsweg, die kilometerlangen Prozessionen lieferten beeindruckende Bilder für die Teheraner Doppelmacht – Bilder, die jeden Feind, nah und fern, einschüchtern sollten. Doch diese Zeiten sind nun vorbei. Corona ist ein Feind Gottes, schreiben deshalb iranische Webseiten. Und das zurecht. Denn die Doppelmacht ist derzeit machtlos. Wie mächtig das kleine Virus ist, zeigt sich gerade jetzt, in diesen Wochen, im Monat Muharram, der Hussein, dem dritten Imam der Schiiten, gehört.

Ein Universum namens Muharram

„Alles, was wir haben, verdanken wir Muharram, haltet Muharram am Leben“: ein bemerkenswerter, ein bleibender Satz, der zugleich ein Auftrag für alle Ewigkeit sein sollte. Gesprochen hat ihn Ayatollah Ruhollah Khomeini nach dem Sieg der islamischen Revolution im Iran vor vierzig Jahren.

Muharram ist der erste Monat des islamischen Kalenders. Am zehnten Tag dieses Monats, Ashura, wurde Hussein, der dritte Imam der Schiiten, bei der Schlacht von Kerbela getötet: Nach christlicher Zeitrechnung im Jahr 680, nach islamischer 61 nach der Hidschra, in diesem Jahr der 29. August.

Eingeschränkte Ashura-Feiern im Iran; Foto: picture-alliance/dpa
Unter strengen Auflagen und nur mit Mundschutz in der Öffentlichkeit: Im schwer von der Corona-Pandemie getroffenen Iran waren die meisten Ashura-Feierlichkeiten dieses Jahr verboten. Stattdessen wurden die religiösen Rituale im Fernsehen und Internet übertragen. Beim Ashura-Fest gedenken die Schiiten Hussein, eines Enkels des Propheten Mohammed, der bei der Schlacht von Kerbela im Jahr 680 als Märtyrer fiel.

Hinter diesen nackten Daten verbirgt sich ein kompliziertes Universum, das zahlreiche Religionssoziologen, Mythologen, Ethnologen, Historiker, Psychologen oder Politologen immer noch zu vermessen versuchen. Was geschah am Ashura-Tag tatsächlich? Was bedeutet dieses Ereignis für die Geschichte des Schiismus? Welche Ideen vermittelt Ashura und warum sind seine Mythen und Riten immer noch so mächtig und gegenwärtig? Wie entscheidend war Ashura für den Sieg der islamischen Revolution im Iran? Wie gehen die heutigen Machthaber der Islamischen Republik mit diesem Tag um?

Die Liste der Fragen ist ebenso offen wie die Suche nach Antworten. Bibliotheken ließen sich füllen mit dem, was seit dem siebten Jahrhundert über diesen Tag und seine Hintergründe und Konsequenzen geschrieben wurde.

Der Monat der Identität

Im schiitischen Volksglauben hat Imam Hussein den Beinamen سید الشهدا – „Herr der Märtyrer“. Er ist in vieler Hinsicht mehr als Jesus bei den Christen. Wie Jesus steht auch Hussein für Gerechtigkeit, auch er wird Opfer von Feinden, die ihn unbarmherzig töten. Doch Hussein ist ein Krieger, ein mutiger und entschlossener Kämpfer, der sich gegen einen ungerechten Herrscher erhebt, obwohl er weiß, dass er und seine Mitstreiter getötet werden und seine Familie in Gefangenschaft gerät.

Seit Jahrhunderten werden in den ersten zehn Tagen des Monats Muharram in oft blutigen Straßenprozessionen Husseins letzte Tage mit Weinen und Klagen dargestellt. Ein alljährlich wiederkehrendes Massenevent sondergleichen, das inzwischen zu einer wahren Industrie geworden ist.

Diese kriegerische Traditionspflege prägte im Laufe der Zeit die schiitische Identität. Hussein mutierte zu einem Revolutionär, einem Helden, den jeder nachahmen muss. Nur vor diesem Hintergrund lässt sich verstehen, warum Khomeini sagte, dass er alles, was er habe, Muharram verdanke. Er sagte die Wahrheit. Mit diesem Satz fasste Khomeini seine eigene Lebenserfahrung zusammen.

Ein Monat der Revolution

Der 3. Juni 1963 war ein Ashura-Tag. Im ganzen Land gab es Straßenprozessionen. In der Stadt Qom bestieg am Nachmittag in der religiösen Feizeih-Schule ein bis dahin weitgehend unbekannter Geistlicher die Kanzel. Er hielt eine Brandrede über die nie endende revolutionäre Mission von Imam Hussein.

In seiner Predigt tat der Geistliche etwas Ungeheuerliches. Er griff den Schah persönlich an, verdammte dessen weiße Revolution und mahnte ihn zur Reue sowie zur Rückkehr zum Islam. Damit betrat Khomeini die politische Bühne – im Iran und über das Land hinaus. Zwei Tage später wird er verhaftet, später geht er ins Exil.

Iranerin mit Atemschutzmaske; Foto: AFP/Getty Images
Anlass zur Bsorgnis: Nach Angaben des Gesundheitsministeriums liegt die aktuelle Zahl der Corona-Toten im Iran bei über 23.000, die der bisher nachgewiesenen Infektionen bei mehr als 400.000. Das Ministerium befürchtet, dass im Herbst die Fallzahlen weiter steigen werden.

Doch in diesen Exiljahren werden Ashura-Tage zu solchen, an denen nicht nur an Husseins Aufstand gegen den Herrscher, sondern auch an den exilierten Khomeini gedacht wird. 25 Jahre später, im Revolutionsjahr 1978, wird Ashura zu einer politischen Demonstration mit Millionen Teilnehmern, Khomeinis Bilder überall. Den Rest kennen wir.

Khameneis „Jakobsweg“

Khomeinis Nachfolger Ali Khamenei ging einen großen Schritt weiter und versuchte, den alljährlichen Straßenprozessionen eine neue, Grenzen überschreitende Dimension zu geben. An Husseins Gedenktag sollten Schiiten aus allen Ländern der Welt nach Kerbela in den Irak pilgern, natürlich zu Fuß und am besten barfüßig. Eine Art schiitischen Jakobsweg rief Khamenei ins Leben.

So wurde man in den letzten Jahren Zeuge archaischer und aufregender Szenen. Tausende Schiiten aus Afghanistan, Pakistan und anderen Ländern sammelten sich zunächst im Iran und gingen dann gemeinsam mit Hunderttausenden Iranern zu Fuß über die Grenze Richtung Kerbela zum Grab Imam Husseins. Khameneis Konterfei dominierte wie Meilensteine den Weg. Entlang des Einhundert-Kilometer-Events wurden Wasser und Verpflegung verteilt. Eine politisch-religiöse Machtdemonstration, die die gesamte Welt, vor allem die Sunniten beeindrucken sollte.

[embed:render:embedded:node:26725]Und sie wurde zu einer religiöse Machtprobe zwischen Teheran und Riad. Setzten sich die saudischen Herrscher jedes Jahr mit der Hajj und Millionen Mekka-Pilgern in Szene, so wartete Khamenei mit seiner Million schiitischer Pilger auf, die zu Fuß nach Kerbela liefen.

Die Doppelmacht verschwindet aus der Öffentlichkeit

Doch all das klingt nun wie eine Geschichte aus der Vorzeit, der Vor-Corona-Ära. Das Virus zwang die Saudis in diesem Jahr, die Pilgerfahrt nach Mekka zu verbieten und die Hajj auf etwa 1.000 Personen aus dem eigenen Land zu beschränken. Und im Iran?

Die Prozessionen von ersten bis zum zehnten Tag des Monats Muharram sollten in die virtuelle Welt verlegt werden und vor allem im Fernsehen stattfinden. Doch nicht jeder Gläubige zeigte Einsicht. Trotz dringlicher Warnungen versammelten sich allabendlich in manchen iranischen Moscheen Hunderte, die weinend und klagend Husseins gedachten. Das Ergebnis: Die Zahl der „roten Zonen“ mit steigenden Corona-Infektionszahlen steigt seither unaufhörlich. Ob im kommenden Schuljahr die Schulen wieder eröffnen, ist deshalb mehr als fraglich.

Khamenei selbst vermeidet seit sechs Monaten die Öffentlichkeit. Er zeigt sich nur ab und zu im Fernsehen. Auf die beeindruckende Demonstration seiner Doppelmacht muss er verzichten. Auch den Zug der Millionen Pilger zum Gedenken am 40. Tag nach dem Tod Husseins wird es in diesem Jahr nicht geben. Die Grenzen zum Iran blieben dicht, ließ die Bagdader Regierung verkünden.

Ali Sadrzadeh

© Iran Journal 2020