Muslime als Sündenbocke

Radikale Hindu-Nationalisten, darunter auch Abgeordnete der Regierungspartei BJP, hetzen auf der Straße und in sozialen Medien gegen die muslimische Minderheit und reden vom "Corona-Dschihad": Muslime, so behaupten sie, würden den Virus verbreiten, um Indien zu schaden. Von Dominik Müller

Von Dominik Müller

Von der Ankündigung bis zur Umsetzung der Ausgangssperre für die 1,3 Milliarden Inder vergingen nur vier Stunden. Seit dem 24. März liegt das öffentliche Leben lahm, keine öffentlichen Verkehrsmittel fahren mehr. Millionen von Wanderarbeitern, die aus den Städten zurück in ihre Dörfer wollten, sind im Nirgendwo gestrandet.

"Zu Hause bleiben, soziale Distanzierung und Händewaschen" lautete auch das Motto der indischen Regierung. Damit haben Premierminister Narendra Modi und seine hindu-nationalistische Partei BJP zwar den Ton getroffen, den ihre Wählerbasis aus der Mittelschicht angesichts der Bedrohung durch das Coronavirus erwartet hat. Das Motto ging aber völlig an den Bedürfnissen der Mehrheit der Bevölkerung vorbei: 80 bis 90 Prozent der Inder arbeiten im informellen Sektor, ohne Kranken- Renten- und Unfallversicherung.

Vor allem in den Slums der urbanen Zentren leben sie, viele von ihnen Wanderarbeiter, manchmal mit einem Dutzend Menschen in einem Raum. Fließendes Wasser ist hier die Ausnahme. Noch schlimmer wirkt die Ausgangssperre, denn die meisten sind auf ihren Tageslohn angewiesen, leben von der Hand in den Mund, als Hilfsarbeiter auf Baustellen, Rikscha-Fahrer, Straßenhändler und Tagelöhner in Fabriken.

Dalits als Zielscheibe der Hindu-Nationalisten

Zu den Tagelöhnern gehören vor allem Dalits (ehemals sogenannte "Unberührbare") und Angehörige der muslimischen Minderheit, die in Indien 14 Prozent der Bevölkerung ausmacht. Vor allem letztere sind, seitdem die Hindu-Nationalisten die Regierung stellen, immer wieder Ziel von Diskriminierung und tätlichen Angriffen geworden. Mit dem neuen Einbürgerungsgesetz hat die BJP erst Ende des vergangenen Jahres ein Gesetz erlassen, das Muslime offen ausgrenzt. Proteste dagegen nutzten radikale Hindus als Rechtfertigung für gewalttätige Übergriffe.

Indien und das Coronavirus: Wanderarbeiter flüchten in ihre Heimatdörfer; Foto: Reuters
Von der Pandemie am schwersten getroffen: In Indien sind nach der Verhängung einer Ausgangssperre im Kampf gegen die Coronavirus-Pandemie hunderttausende arbeitslos gewordene Wanderarbeiter aus den Städten in ihre Heimatdörfer zurückgekehrt. Die indischen Behörden versuchen nun, mit Grenzschließungen und provisorischen Massenunterkünften gegenzusteuern. Sie befürchten, dass die Massenflucht dazu beiträgt, das neuartige Coronavirus in den ländlichen Gebieten Indiens zu verbreiten.

Nun hetzen sie erneut gegen die muslimische Minderheit und behaupten, diese würde den Virus verbreiten, um Indien zu schaden: seiner Wirtschaft, seiner Regierung, seiner hinduistischen Bevölkerungsmehrheit. Muslime würden andere bewusst anhusten und einige Imame sogar zu solchen Handlungen aufrufen.

Eine These, die auch in den Mainstram-Medien aufgegriffen wird. Als Hauptquelle für die Infizierung in Indien machen sie den überwiegend muslimischen Stadtteil Nizamuddin in Neu Delhi aus, berühmt für seine Sufi-Schreine und Kebab-Stände. Dort befindet sich auch das sechsstöckige Hauptquartier der Tablighi Jamaat-Glaubensgemeinschaft.

Vom 13. bis zum 15. März fand dort ein lange geplantes internationales Pilgertreffen mit 4.000 Teilnehmern statt. Darunter waren mehrere Infizierte, zum Teil auch aus Malaysia und Indonesien. Nach dem Ende des offiziellen Programms hätte sich die Hälfte der Gläubigen noch mehrere Tage im Hauptquartier der Glaubensgemeinschaft aufgehalten. Ebenso wie die Wanderarbeiter seien viele von ihnen dann vom plötzlichen Shutdown überrascht worden und hätten nicht mehr in ihre Dörfer zurückkehren können.

Mediale Verschwörungstheorien

Die anderen hätten den Virus in ganz Indien verteilt, berichten indische Medien seit Anfang April. Vom "Nizamuddin Coronavirus Trail", dem "Pfad des Nizamuddin-Coronavirus" ist die Rede, der von Kaschmir bis zu den Adaman-Inseln reiche. Behörden nutzen Handy-Daten, Bewegungsprofile und offizielle Datenbanken der Regierung, um die Teilnehmer des Treffens zu identifizieren.

Die Nachrichtenagentur Reuters spricht von einer regelrechten "Menschenjagd", die auch medial inszeniert werde. Einige indische Bundesstaaten haben Freiwillige rekrutiert, die in Dörfern und Städten nach dem Verbleib der Verdächtigen forschen. Anfang April waren es knapp 500 Fälle, die direkt mit dem Pilgertreffen in Verbindung gebracht wurden. Laut Angaben des Innenministeriums sind im Zusammenhang mit dem Tablighi-Treffen in Delhi derzeit 9.000 Menschen in Quarantäne.

Mujeeb ur Rehman, ein Sprecher der Tablighi-Jamaat, weist die Vorwürfe zurück: "Indien hatte zu diesem Zeitpunkt bereits Hunderte von Fällen. Es wäre also falsch zu sagen, dass unser Treffen eine große Quelle für den Ausbruch des Virus im Land war."

Muslimische Einwohner von Nizamuddin, einem muslimischen Stadtviertel Neu Delhis; Foto: Reuters
Von Hindu-Nationalisten als „Coronafabrik“ diffamiert: Das Viertel Nizamuddin in Neu Delhi war schon vor Covid-19 ein Hotspot des Konflikts zwischen Hindus und Muslimen. Mehr als 40 Menschen kamen vor wenigen Wochen bei Angriffen von Hindu-Nationalisten mit Unterstützung der Polizei während Demonstrationen gegen das neue Staatsbürgerrecht ums Leben, das muslimische Flüchtlinge aus islamischen Ländern wie Pakistan oder Afghanistan vom Erwerb der indischen Staatsbürgerschaft ausschließt.

Tatsächlich hatte die indische Regierung bereits am 10. März fünfzig Infizierte registriert. Trotz internationaler Warnungen erklärte sie sogar noch am 13. März, dass es keinen gesundheitlichen Notstand in Indien gebe. Mitte März fanden noch viele religiöse Massenveranstaltungen statt, wie z.B. ein Pilgerfest am 17. und 18. März im südindischen Tirupati-Tempel, an dem sich 40.000 Gläubige beteiligten.

Ablenken von den Fehlern der Regierungspartei

"Doch die Modi-Regierung hat bewusst versucht, die Tablighi-Jamaat-Affäre zu dramatisieren und hervorzuheben", so Achin Vanaik, emeritierter Dekan der Fakultät für Internationale Politik an der Universität Delhi und Autor des Buches "The rise of Indian Authoritarianism" (Der Aufstieg des indischen Autoritarismus"). Sie habe der "Verfolgung und Lokalisierung der Teilnehmer des Tablighi-Treffens in Delhi höchste Priorität eingeräumt". Keine andere Massenveranstaltung habe eine ähnliche Aufmerksamkeit durch Behörden und Medien erfahren.

"Die Botschaft der Hindu-Nationalisten, dass die Muslime wieder einmal die Hauptbedrohung sind, lenkt von den Versäumnissen der Regierung ab", so Vanaik weiter. Denn diese habe viel zu lange gezögert, bis sie überhaupt bereit war, Maßnahmen zu ergreifen. Und habe ebenso – wie andere Regierungen auch – im Rahmen ihrer neoliberalen Politik das öffentliche Gesundheitssystem in den vergangenen Jahren regelrecht "ausgehöhlt". Vor allem habe die Regierung keine Antwort auf die Situation der Wanderarbeiter, die überall in Indien gestrandet sind und nicht adäquat versorgt werden.

Hexenjagd gegen muslimische Pilger

Die Saat der Hindu-Nationalisten geht auf: Einzelne Ärzte weigern sich, Muslime zu behandeln, radikale Hindus greifen Moscheen an, eine Bürgerwehr in einem Nachbarstadtteil Nizamuddins hat Barrikaden errichtet, im Bundesstaat Assam sind zwei Dutzend Wanderarbeiter von einem bewaffneten Mob attackiert worden, in Karnataka verprügelten Dorfbewohner Muslime, weil sie "Coronavirus-Verteiler" seien.

Seit Anfang April ermittelt die Polizei gegen führende Geistliche der Gemeinde in Delhi, wegen "fahrlässiger Verbreitung einer Infektion oder einer lebensgefährlichen Krankheit" und wegen einer "bösartigen Handlung, die wahrscheinlich eine Infektion einer lebensgefährlichen Krankheit verbreitet", sowie "einer kriminellen Verschwörung".

In einem offenen Brief schreiben mehrere indische Intellektuelle von einer regelrechten "Hexenjagd  gegen die Teilnehmer des Nizamuddin-Pilgertreffens". "Die Teilnehmer sollten identifiziert werden, ohne sie zu kriminalisieren, und gemäß den Normen unter Quarantäne gestellt werden. Der Virus, so schreiben sie, kümmere sich nicht um religiöse oder nationale Unterschiede: "Eine Lösung wird nur durch wissenschaftliche Bemühungen und menschliche Solidarität erreicht werden".

Dominik Müller

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