Das Wunder von Sumela

Die türkische Regierung will die Rechte der religiösen Minderheiten weiter stärken: Deswegen erlaubte sie dem orthodoxen Patriarchen, eine Messe im Kloster Sumela nahe Trabzon zu feiern. Iason Athanasiadis berichtet.

Russisch-orthodoxer Priester in Sumela; Foto: Iason Athanasiadis
Russisch-orthodoxer Priester in Sumela, der gemeinsam mit dem griechisch-orthodoxen Patriarchen in Istanbul die Regierung dazu bewegte, die Liturgie wiederaufleben zu lassen.

​​ Als der Ökumenische Patriarch Bartholomäus I. die Steinstufen des einem Amphitheater ähnelnden Klosters hinabschritt, in einen Raum, der fast 90 Jahre lang still geblieben war, schallten die Rufe und verstärken sich zu einem Crescendo: "Axios, axios!" ("Würdig, würdig!").

Das Kloster gehört zu den gefühlsgeladensten Orten unter all den aufgegebenen griechisch-orthodoxen Stätten in der Türkei.

Zwei Stunden später war die erste griechisch-orthodoxe Liturgie im Kloster Sumela beendet. Erst als die letzten Gesänge der Priester langsam im Äther verklangen und sich die 500 anwesenden Pilger, Politiker und Kleriker noch etwas verwirrt anblinzelten, schien ihnen klar zu werden, dass sie gerade einen historischen Moment miterlebten.

Geheime Gebete

Das Schweigen eines schier unlösbar scheinenden ethnischen Konflikts löste sich in einer Veranstaltung auf, die zeigte, dass die Herauslösung der Pontos-Griechen aus der Region im Zuge des Bevölkerungsaustausches von 1923 endlich überwunden ist.

"Die Seelen unserer Vorfahren sind erlöst worden", sagte Thanassis Stelidis, ein Musiker aus dem nordgriechischen Thessaloniki. Er verzauberte das schweigende Publikum mit seiner dreisaitigen Lyra, auch Kemençe genannt, beim emotionalsten Teil der Zeremonie.

Junge mit Kerze und orthodoxer Priester bei der Zeremonie; Foto: Iason Athanasiadis
Historischer Moment: Die griechische Minderheit wartete mehr als 80 Jahre bis sie im Kloster Sumela erneut die Liturgie feiern konnte.

​​ "All diese Jahre spürten wir die Verpflichtung gegenüber unseren Vorfahren, kamen heimlich hierher und zündeten Kerzen an, um ihrer zu gedenken. Die Lyra durften wir nicht spielen und mussten auch unsere Gebete und das Kreuzzeichen vor den türkischen Autoritäten verheimlichen."

"Endlich", fügt er emphatisch hinzu, "dürfen wir dies wieder in aller Öffentlichkeit tun."

Es kam nicht überraschend, dass es ein Politiker der islamischen AKP war, und nicht etwa einer aus den Reihen der säkular-kemalistischen Linke, der die Erlaubnis zu dieser einmaligen Messe erteilte.

Zeitungen verstanden den Zusammenhang und brachten auf ihren Titelseiten die Veranstaltung mit dem Wiederaufleben des Osmanentums in Verbindung, das sie im politischen Leben der Türkei derzeit beobachten: "Ein Gebet für neun Sultane", stand auf der Titelseite der Boulevardzeitung Posta, eine Anspielung auf den Patriarchen, der die osmanischen Schutzherren des Klosters erwähnt hatte.

Griechisch-türkischer Bevölkerungsaustausch

Das pittoresk gelegene Kloster Sumela (gr. Panagia Soumela), das sich 1000 Meter oberhalb des Schwarzen Meeres an einen hohen und steilen Felsen schmiegt, hat für die Pontos-Griechen eine besondere Bedeutung: "Für uns ist Sumela wie eine patrida, eine Heimat", sagt ein bei der Zeremonie anwesender Pilger.

Zerstörte Ikonendarstellungen in Sumela; Foto: Iason Athanasiadis
Im 18. Jahrhundert waren die Ikonendarstellungen in Sumela von muslimischen Fanatikern zerstört worden, weil diese glaubten, dass die Darstellung von menschlichen Körpern eine Sünde ist.

​​ Das Kloster wurde aufgegeben, nachdem die griechische Invasion Kleinasiens 1923 gescheitert war und durch den im Vertrag von Lausanne festgelegten türkisch-griechischen Bevölkerungsaustausch bis zu einer halben Million Pontos-Griechen gezwungen wurden, das Land zu verlassen. Als erbitterte Guerrilla-Angriffe die Region erschütterten, wurden auf beiden Seiten Zehntausende getötet.

Die Last dieser blutigen Kämpfe waren es – im Kontrast zu der friedlichen Evakuierung anderer Zentren griechischen Lebens wie etwa Kappadokiens –, die bei der türkischen Regierung und den kirchlichen Würdenträgern bezüglich der Sonntagsliturgie Anlass zur Sorge gaben.

Tausende von Polizisten und militärischen Eliteeinheiten in Patrouillenfahrzeugen und gepanzerten Kleintransportern sperrten die Zufahrten zum Kloster in konzentrischen Ringen ab und kontrollierten Asphaltstraßen und Feldwege gleichermaßen, um die Zeremonie zu schützen.

Verschwörungstheorien und extremer Nationalismus

Trotz dieser historischen Last war es schon überraschend, dass der Gottesdienst überhaupt stattfinden konnte. Einige Ereignisse im Vorfeld der Messe machten dies noch komplizierter. Drei Molotow-Cocktails explodierten im Hof des türkischen Konsulats in Thessaloniki, nur zwei Tage vor der Liturgie.

Patriarch Bartholomäus I. während der Zeremonie in Sumela; Foto: Iason Athanasiadis
"Heute sind die Tränen der Jungfrau Maria getrocknet", sagte Patriarch Bartholomäus in einer auf Griechisch und Türkisch gehaltenen Rede. Bartholomäus I. ist der ökumenische Patriarch von Konstantinopel.

​​Eine türkische Tageszeitung berichtete, dass eine extremistische Gruppe griechischer Nationalisten einen muslimischen Friedhof in Nordgriechenland entweiht hatte und in der Stadt Trabzon, in der Nähe des Klosters, nahm die Polizei drei Nationalisten fest, die eine Facebook-Seite eingerichtet hatten, auf der dazu aufgerufen worden war, die Zeremonie zu verhindern.

Arslan Bulut, Kommentator der ultra-nationalistischen Zeitung Yeni Cag, schrieb, dass die AKP eine heimliche Agenda zur "Wiederbelebung des Christentums" verfolge. Er kritisierte die Regierung dafür, dass sie einerseits Messen in ehemaligen christlichen Kirchen erlaube und den inter-religiösen Dialog mit dem Vatikan suche, andererseits aber den Muslimen noch immer untersage, in Museen wie der Hagia Sophia in Istanbul zu beten, die von Kirchen zu Moscheen umgewandelt worden waren.

Gegner der Liturgie fanden noch andere Gründe, warum ihnen das Timing der Messe verdächtig vorkam: Sie wiesen darauf hin, dass der 15. August, das Fest der Jungfrau Maria, nicht nur mit dem Datum der osmanischen Eroberung Trabzons im Jahr 1461, sondern auch mit dem ersten bewaffneten Angriff der PKK zusammen fiel, worin sie einen geheimen Plan vermuteten.

Zerstörte Heiligenfiguren und getrocknete Tränen

Am Tag des Gottesdienstes kletterten hunderte Gläubige die gleichen steilen Berghänge hinauf wie die athenischen Mönche Barnabas und Sofronios im Jahr 386 auf ihrem Weg, so die kirchliche Überlieferung, die wundertätige Ikone der Panagia Soumela (Allheilige des Schwarzen Bergs) zu finden. Priester in weißen Gewändern und mit schwarzen und purpurnen Kopfbedeckungen bildeten einen Kreis um den Patriarchen Bartholomäus.

Patriarch Bartholomäus I. während der Zeremonie in Sumela; Foto: Iason Athanasiadis
In den letzten Jahren erlebten die christlichen Minderheiten in der Türkei eine Wiederbelebung ihrer Gottesdienste.

​​Doch als ob sie zeigen wollten, wie sehr die Vergangenheit die Gegenwart überschattet, folgten die blinden, herausgelösten Augen dutzender griechisch-orthodoxer Heiliger, gemalt auf die Wände des Klosters, den Bewegungen der Priester. Zerstört wurden sie von muslimischen Fundamentalisten schon im 18. Jahrhundert, weil sie daran glaubten, dass jede Darstellung des menschlichen Körpers eine Sünde ist.

"Heute sind die Tränen der Jungfrau Maria getrocknet", sagte Patriarch Bartholomäus in einer auf Griechisch und Türkisch gehaltenen Rede.

"An einem Ort, der 88 Jahre lang keine Liturgie erlebte, passierte ein heiliges Wunder", erklärte Pater Dorotheos Tzevelekas, ein Priester, der anlässlich der Messe aus seiner Gemeinde in Clearwater, Florida angereist war. "Es war ein völlig unerwarteter diplomatischer Coup von der Art, die Menschen einander näher bringt."

Wie im Fall anderer neu auflebender Gottesdienste in griechisch-orthodoxen und armenischen Kirchen in der Türkei könnte es nun eine sich jährlich wiederholende Veranstaltung werden.

Türken und Griechen vereint im leidenschaftlichen Volkstanz

Am Abend der Liturgie kamen Pontos-Griechen, die sowohl aus den benachbarten Dörfern als auch aus Griechenland und Russland angereist waren, zu einer Party im örtlichen Hotel zusammen. Sie lauschten der Lyra, gespielt von ortsansässigen muslimischen Pontos-Griechen, tanzten zunächst langsame, später aber auch komplizierte, leidenschaftliche Volkstänze.

"Bis vor kurzem wussten sie noch nicht einmal, dass in dieser Region noch Pontos-Griechen leben und waren geradezu schockiert, als sie merkten, dass es Menschen gibt, die in ihrem Dialekt singen und keine Muslime sind", sagte Nikos Mihailidis, ein griechischer Musiker und Doktorand aus Princeton, als er sah, wie die Menschen Kontakt knüpften und miteinander plauderten. "In den letzten 15 Jahren ist alles offener geworden, Straßen wurden gebaut und die Kommunikation zur Außenwelt ist in Gang gekommen."

Und tatsächlich ist die Türkei gerade dabei, ihr nicht-muslimisches kulturelles Erbe zu entdecken, und bereitet so den Pfad zu einer besseren Zukunft.

Iason Athanasiadis

© Qantara.de 2010

Iason Athanasiadis ist Autor und Fotograf, der sich besonders für die Kultur des Nahen und Mittleren Ostens zwischen Istanbul und Kabul interessiert.

Übersetzung aus dem Englischen: Daniel Kiecol

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

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