"Balance zwischen Freiheit und Sicherheit wahren"

Die Gesetze in der Bundesrepublik reichen aus, mit den Meinungen von Anhängern religiöser Minderheiten umzugehen, meint Christian Walter vom Heidelberger Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht.

"Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet." Was so selbstverständlich in Artikel 4 des Grundgesetzes festgeschrieben ist, verursacht in der Realität zahlreiche Konflikte. Doch Christian Walter vom Heidelberger Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht meint, dass die bestehenden Gesetze ausreichen, mit den Meinungen von Anhängern religiöser Minderheiten umzugehen.

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​​Warum ist die Frage der Religionsfreiheit momentan so aktuell?

Christian Walter: Das liegt hauptsächlich an den Problemen, die eine Zuwanderungsgesellschaft mit sich bringt. Durch den Zuzug von muslimischen Mitbürgern entsteht eine starke religiöse Minderheit, die auch Rechte einfordert. Ein anderer Grund ist aber wichtiger: Man unterscheidet verschiedene Formen der Zuordnung von Staat und Religion – oder traditionellerweise Staat und Kirche.

In Frankreich und den USA sind beide getrennt, während wir in Deutschland immer von einem Modell der Kooperation und des freundlichen Miteinanders gesprochen haben. Das deutsche Modell hat viele Vorteile, bringt aber auch einige Probleme mit sich: Wir müssen – stärker als das laizistische Frankreich – je nach Einzelfall immer wieder definieren, wo die Religionsfreiheit beginnt und wo sie ihre Grenzen hat.

Wo liegen die Unterschiede zwischen den drei genannten Ländern

Walter: Die auf den ersten Blick ähnlich anmutenden Systeme der Trennung von Staat und Kirche in Frankreich und den USA beruhen auf zwei ganz unterschiedlichen historischen Voraussetzungen: Während die Franzosen den Versuch unternahmen, den Staat von der Kirche zu befreien – der Akzent also auf dem Staat liegt –, haben die Amerikaner aufgrund der spezifischen Situation der religiös verfolgten Einwanderer die Perspektive gehabt, die Kirche vom Staat zu befreien, den Akzent also auf die Religion gesetzt. In Deutschland ist es dagegen nie zu einer Trennung von Staat und Kirche im amerikanischen oder französischen Sinne gekommen.

Warum hat sich in Frankreich die streng neutrale Haltung des Staates durchgesetzt, die religiöse Symbole in die private Sphäre verbannen will?

Walter: Die strenge Haltung passt zu der laizistischen französischen Tradition. Es ist aber immer wichtig zu sehen, wer solche Vorgaben formuliert. 1989 war es ein Gericht, der französische Staatsrat, das eine eher liberale Linie anhand der Religionsfreiheit vorgab; nun geht der strenge Kopftuch-Beschluss von der Politik aus, die den Versuch unternimmt, die "wahre Laizität" durchzusetzen. Man muss nun abwarten, wie die Gerichte auf das neue Gesetz reagieren. Zu einer Überprüfung durch den französischen Verfassungsrat ist es bedauerlicherweise nicht gekommen.

Unter welchen Voraussetzungen hat sich die Religionsfreiheit in Deutschland entwickelt?

Walter: Ganz wesentlich für den historischen Prozess waren die Glaubenskriege im 16. Jahrhundert und deren "föderalistische" Bewältigung. Im Augsburger Religionsfrieden von 1555 findet diese Lösung ihren Ausdruck: Cuius regio, eius religio. Die Territorialherren sollten entscheiden können, welche Religion ihre Untertanen annehmen.

Als Konsequenz musste das Reich in religiösen Fragen neutral bleiben. In Deutschland entwickelte sich im Anschluss in einzelnen Territorialstaaten dann – auf die unterschiedlichen Konfessionen bezogen – eine relativ liberale Haltung, insbesondere in Preußen und Österreich. Andere religiöse Gemeinschaften sollten ihren Platz erhalten, und das hatte zum Teil ganz pragmatische Gründe: Man wollte gute Staatsbürger bekommen, egal welchen Glaubens. Das konnten auch französische Hugenotten sein.

Im Unterschied zu Frankreich, wo der Katholizismus erst Staatsreligion war und dann radikal durch den Laizismus ersetzt wurde ...

Walter: In Frankreich gab es dagegen immer einen sehr zentralistischen Staat, der sich an einer Religion, dem Katholizismus, orientierte und – seit der Aufhebung des Toleranzedikts von Nantes – sehr intolerant agierte. Dem französischen System fehlte ein der deutschen Entwicklung vergleichbares "föderalistisches Ventil".

In der Französischen Revolution kam es dann zur Explosion und – unter Einfluss der Aufklärung – zu einer sehr viel stärkeren Individualisierung als sie der deutschen Entwicklung zugrunde lag, die sich an den Konfessionen und nicht an der individuellen religiösen Überzeugung orientiert hatte. Daneben gab es seit der Revolution einzelne deutlich anti-religiöse Strömungen, die sich in der französischen Entwicklung immer wieder bemerkbar gemacht haben.

Wie unterschiedlich Frankreich und Deutschland mit dem Prinzip der Religionsfreiheit umgehen, zeigt ja gerade der aktuelle Disput: Während es bei uns um die Frage geht, ob eine verbeamtete Lehrerin mit Kopftuch unterrichten darf, sind die Franzosen viel rigoroser: Sie weiten das Kopftuchverbot auf die Schülerinnen aus.

Walter: Für die Franzosen ist es selbstverständlich, dass Lehrerinnen an öffentlichen Schulen kein Kopftuch tragen dürfen. Das ist Teil der laizistischen Schule, in der auf einer symbolischen Ebene Neutralität gewahrt werden muss. Frankreich ist hier besonders restriktiv, wie der europäische Ländervergleich zeigt:

Großbritannien, Belgien, die Niederlande oder Dänemark sind in der Kopftuchfrage eher auf der Linie der Bundesrepublik. Man kann das wohl nur historisch erklären. Auf die katholische Prägung im Ancien Régime folgte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein anderes ideologisches Ideal: die republikanische Egalité, die bis heute nachwirkt.

Wie stehen denn die Amerikaner zur Religionsfreiheit?

Walter: Amerika hat eine liberale Staatstradition, der Staat gilt weniger – er regelt weniger, wird aber auch weniger als schützender Faktor für schwache Individuen tätig. Das trifft auch mit Blick auf die Gefahren von Religion zu. Die Franzosen haben als einziges Land ein Anti-Sekten-Gesetz verabschiedet, in dem sie bewusst gesetzliche Regelungen im Umgang mit Sekten schaffen – gerade, um schwache Individuen zu schützen, die anfällig sein könnten für Sekten. Das wäre in den USA undenkbar.

Der Rechtsphilosoph Uwe Volkmann von der Universität Mainz plädiert dafür, auch in Deutschland die Grenzen der Religionsfreiheit enger zu ziehen. Es sei an der Zeit, schreibt Volkmann, "die weite Auslegung der Glaubensfreiheit wieder auf sozialverträgliches Niveau zurückzuführen". Was denken Sie?

Walter: Ich bin da eher skeptisch, auch wenn man feststellen muss, dass diese Diskussion in der Rechtswissenschaft im Moment intensiv geführt wird. Dabei wird der Vorwurf immer lauter, man habe von 1945 an die Religionsfreiheit übersteigert. Es ist zwar richtig, dass der Schutzbereich weit ausgelegt wurde, das ist aber bei diesem Grundrecht ganz unvermeidlich.

Es erscheint mir auch rechtspolitisch nicht unproblematisch, dass wir jetzt im Umgang mit dem Islam die Grenzen der Religionsfreiheit neu entdecken. Die Debatten um den Kopftuch-Streit zeigen auch: Was an christlich-abendländischen Symbolen vorhanden ist, wird nun als kulturelle Tradition vermittelt, und nicht als Teil der Religion.

Beim Islam setzt man dagegen andere Maßstäbe. Ich plädiere dafür, allgemein anwendbare Kriterien für die Religionsfreiheit zu finden. Das Bundesverfassungsgericht hat ja immer wieder betont, dass das Selbstverständnis der Religion von erheblicher Bedeutung für die Bestimmung des Schutzbereichs ist. Dies heißt freilich nicht, dass es keine Grenzen gibt: Das Selbstverständnis muss plausibel gemacht werden und die Schranken der Religionsfreiheit müssen beachtet werden. Beides ist aber schon nach bisherigem Verständnis erforderlich.

Müssen diejenigen Lehrerinnen, die ein Kopftuch in der Schule tragen wollen, dann auch erklären, warum dies ein Teil ihrer Religion ist – und kein politisches Statement?

Walter: Wenn man ein Kopftuch tragen will, muss man das begründen, aber man braucht keine definitiven Aussagen über den Inhalt der Religion zu machen. Das wird in Deutschland zum Teil verlangt, ist aber ein Irrweg – stellen Sie sich einmal vor, was passiert, wenn staatliche Gerichte etwa den Koran auslegen wollen. Einige Juristen argumentieren aber in diese Richtung: Weil es im Islam keine einheitliche, allgemeingültige Lehrmeinung mit Blick auf das Kopftuch gebe, könne man kein entsprechendes religiöses Gebot feststellen.

Ich halte das für eine hochproblematische Rechtsauffassung, denn wenn man das konsequent weiterdenkt, gibt es nur im Katholizismus eine einheitliche Lehrmeinung. In den anderen Religionen fehlt es an einer Instanz, die das Gebot verbindlich feststellen kann. Es muss deshalb ausreichen, wenn das behauptete religiöse Gebot von einer hinreichend großen Strömung innerhalb einer Religion als verbindlich angesehen wird. Das muss plausibel gemacht werden, mehr aber nicht.

Wäre es dann nicht logisch, wenn man Nonnen ebenfalls das Kopftuch im Unterricht verbieten würde?

Walter: Wenn man das religiöse Symbol in der Schule an sich verbieten will, dann gehört die Ordenstracht der Nonne ebenfalls dazu. Die Nonnen drücken durch die Wahl ihrer Kleidung aus, dass ihr Leben Gott geweiht ist. Dies auf ein bloßes Traditionssymbol christlich-abendländischer Kultur zurückzustutzen, halte ich für die Bedeutung des Aktes sehr verkürzend.

Wenn man religiöse Symbole verbietet, hat das nun einmal auch Konsequenzen für christliche Symbole. Ich meine, man sollte lieber das Kopftuch erlauben – allerdings sicherstellen, dass es nicht in einer missionierenden Absicht getragen wird.

In Deutschland gibt es keine einheitliche Rechtsauffassung, ob das Kopftuch zulässig ist. Welche Konsequenzen ergeben sich aus dem jüngsten Urteil des Bundesverfassungsgerichts?

Walter: Das Bundesverfassungsgericht hat den Ländern die Aufgabe zugewiesen, in den jeweiligen Landesgesetzen Kriterien zu entwickeln, unter welchen Voraussetzungen religiöse Symbole wie das Kopftuch erlaubt oder verboten sein sollen. Es wird also keine bundesweit einheitliche Lösung geben. Darüber kann man streiten – ich glaube, es wäre besser, keine neuen Gesetze zu erlassen, sondern die vorhandenen Kriterien im Einzelfall anzuwenden.

Wie sieht die Rechtslage beim Schächten aus?

Walter: Es gibt einige neue Urteile dazu, und es gibt die Änderung des Grundgesetzes, nach der der Tierschutz nun ein nach Artikel 20a verfassungsmäßig geschütztes Rechtsgut ist. Die Religionsfreiheit hat deshalb nicht mehr automatisch Vorrang. Allerdings ist das Schächten sowohl nach der europäischen Menschenrechtskonvention als auch nach dem Grundgesetz zulässig, und alle Gerichte gehen davon aus, dass es grundsätzlich unter die Religionsfreiheit fällt.

Die entscheidenden Fragen gehen ins Detail: Welche Anforderungen müssen die Metzger erfüllen? Darf man einfach so im Hinterhof schächten? Das Bundesverfassungsgericht hat es den Behörden überlassen, diese Fragen in der Praxis einzuschätzen. Im Übrigen ist noch nicht geklärt, ob das Schächten wirklich schlimmer für das Tier ist als die Betäubung mit einem Bolzenschussautomaten, die in der Praxis offenbar nicht immer ganz einwandfrei funktioniert.

Anders als im Kopftuchstreit war die Debatte um das Schächten sehr viel sachlicher.

Walter: Ja, denn es gibt einen entscheidenden Unterschied: Das Schächten ist in der Öffentlichkeit nicht sichtbar, es findet weitgehend im Verborgenen statt – und deshalb ist die Aufregung viel geringer als bei einer Lehrerin, die in der Öffentlichkeit ein Kopftuch tragen möchte. Beim Kopftuch geht es um die symbolische Wirkung, weniger um ein konkretes Problem. Sonst hätten in Nordrhein-Westfalen muslimische Lehrerinnen nicht über viele Jahre Kopftuch tragen können, ohne dass jemand etwas dagegen gehabt hatte.

Können wir von unseren europäischen Nachbarn etwas mehr Gelassenheit lernen?

Walter: Mich hat ein Erlebnis in London sehr beeindruckt: Bei der Ankunft am Flughafen wurde mein Pass von einem Sikh mit Turban kontrolliert. Offensichtlich ist es in Großbritannien kein Problem, dass der erste Repräsentant der britischen Staatsgewalt, dem der Fremde bei der Ankunft begegnet, ein Turbanträger ist. Das spricht für sehr viel Gelassenheit.

Angesichts der momentanen deutschen Diskussion kann man sich so etwas hier kaum vorstellen. Wahrscheinlich wird es noch lange keine einheitlichen europäischen Standards bei der Feststellung geben, wie weit die Schranken der Religionsfreiheit zu fassen sind. Es gibt den Mindeststandard der Europäischen Menschenrechtskonvention, der von allen Mitgliedstaaten zu beachten ist. Davon abgesehen werden wir aber weiterhin sehr unterschiedliche Ausgestaltungen haben.

Noch wird über die Europäische Verfassung gestritten, auch über die Präambel, in der einige Grundwerte zusammengefasst werden sollen. Sollte man in der Präambel das religiöse Kulturerbe Europas festschreiben – oder wäre das eine bloße Worthülse?

Walter: Präambeln enthalten keine verbindlichen Rechtsregeln. Sie sind aber wichtig als Ausdruck eines bestimmten Zeitgefühls, das für das Verständnis des Textes eine Rolle spielt. Der europäische Verfassungsgeber muss sich entscheiden, ob er den religiösen Bezug will – ich würde es begrüßen.

Es kann ja keiner bestreiten, dass es eine religiöse Tradition in Europa gibt. Genauso wenig kann man in Abrede stellen, dass es eine humanistisch-aufklärerische Tradition gibt – und deshalb steht auch diese zu Recht explizit im Entwurf. Ob sich letztlich der religiöse Zusatz gegen das laizistische Frankreich politisch durchsetzen lässt, bleibt abzuwarten.

Unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit versammeln sich in Deutschland auch Islamisten, die das Schutzgebot missbrauchen. Brauchen wir noch strengere Gesetze oder eine Einschränkung der Religionsfreiheit, wie sie etwa der bayerische Innenminister vorschlägt?

Walter: Nein. Das Problem hat nichts mit unserer Verfassung zu tun, sondern mit einfachen Gesetzen. Es gab im Vereinsgesetz, das die Vereinigungsfreiheit nach Artikel 9 ausgestaltet, bis 2001 das so genannte Religionsprivileg. Damit war die Anwendbarkeit des Vereinsgesetzes auf religiöse Gemeinschaften ausgeschlossen. Auch unter dem Eindruck der Terroranschläge des 11. September 2001 wurde diese Klausel aufgehoben.

Wir haben jetzt die Möglichkeit, religiöse Gemeinschaften zu verbieten. Der Bundesinnenminister hat ja bereits bewiesen, dass ein Verbot möglich ist, als er gegen den Kalifatstaat vorgegangen ist. Ich glaube, dass der Gesetzgeber auf die Gefahren des Terrorismus angemessen reagiert hat.

Es ist jetzt eher eine Frage der Anwendung der Gesetze. Es ist unübersehbar, dass die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus einen "Sicherheitsaktivismus" begünstigt, der zu erheblichen Beschränkungen der Grundrechte der Bürger führen kann. Es gilt, auch unter den gegenwärtigen Schwierigkeiten die richtige Balance zwischen Freiheit und Sicherheit zu wahren.

Interview: Christian Mayer

© MaxPlanckForschung 2004

Der Artikel erschien in der Publikation MaxPlanckForschung 2/2004

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