Libyens doppelte Tragödie

Das Schicksal Libyens ähnelt dem einiger anderer kriegsgeschüttelter Länder im Nahen Osten, insbesondere Afghanistan, Syrien und Jemen. Überall dort halten interne Streitigkeiten und fehlgeleitete Interventionen aus dem Ausland einen zähen Konflikt am Leben. Von Amin Saikal

Von Amin Saikal

In seinen Memoiren mit dem Titel Duty erinnert sich der ehemalige amerikanische Verteidigungsminister Robert Gates an die US-geführten Invasionen in Afghanistan (2001) und im Irak. Er argumentiert, die Vereinigten Staaten seien gut darin, ein Regime zu stürzen, hätten dann aber keine Idee, was an dessen Stelle treten sollte.

Der Grund dafür ist seiner Meinung nach, dass die USA die nationalen und regionalen Komplexitäten nicht ausreichend berücksichtigen. Dies gilt auch für die NATO-Militärintervention in Libyen im Jahr 2011.

Die immer noch andauernde libysche Krise hat sowohl interne als auch externe Gründe: Oberst Muammar al-Gaddafis Diktatur wurde im Oktober 2011 während des sogenannten Arabischen Frühlings bei einem Volksaufstand gestürzt. Dazu hatte auch eine bewaffnete anglo-französische Intervention beigetragen, die vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen aufgrund der "Verantwortung" genehmigt wurde, das libysche Volk "zu schützen".

Kein Plan für die Post-Gaddafi-Ära

Aber weder die Rebellen noch die Interventionsmächte hatten für das tief gespaltene Land einen Plan für eine politische Ordnung nach Gaddafi. Die revolutionären Splittergruppen besaßen – über das Ende von Gaddafis mörderischem Regime hinaus – keine gemeinsame Agenda, und den Interventionsstaaten mangelte es an einer Strategie, um ihnen beim Aufbau einer stabilen neuen Ordnung helfen zu können.

Türkischer Soldat im Salah al-Din-District südlich von Tripoli; Foto: Getty Images/AFP/M. Turkia
This week, the leaders of France, Italy andGermany issued a joint statement in which they said that Libya faces a "heightened risk of regional escalation" and urged "all foreign actors" to stop interfering in Libya and to respect the UN arms embargo on the country. Earlier this month, the UN Secretary-General Antonio Guterres warned that foreign meddling in Libya conflict at 'unprecedented levels'. Pictured here: a Turkish fighter in the Salah al-Din district south of Tripoli

Die Interventionisten konnten Gaddafis Streitkräfte schnell überwältigen, scheiterten aber an den beabsichtigten und unbeabsichtigten Folgen des Sturzes. Wie auch in Afghanistan und im Irak unterschätzten sie die Stammesstruktur der libyschen Gesellschaft und die geostrategische Bedeutung der Lage des Landes in der nordafrikanischen Mittelmeerregion.

Die ausländischen Mächte schienen mehr darauf bedacht, die lukrativen libyschen Ölreserven zu schützen, als daran, den Menschen des Landes zu helfen, einen Sinn für nationale Einheit wiederzugewinnen oder eine inklusive und repräsentative innenpolitische Ordnung aufzubauen.

Zementierte politische Spaltung

Als Libyen dann schnell ins Chaos stürzte und Teile des Landes von verschiedenen bewaffneten Gruppen kontrolliert wurden, fanden die Interventionsmächte es angebracht, ihr Engagement zu verringern. Vor allem wollten sie vermeiden, in dieselben Sumpf zu geraten wie die USA damals im Irak und noch heute in Afghanistan. Diese Entscheidung hat es regionalen und weiter entfernten Mächten ermöglicht, in Libyen ihre eigenen Interessen zu verfolgen, indem sie sich durch die Unterstützung unterschiedlicher Gruppen am Kampf beteiligten.

Seit 2015 sind zwei gegnerische Kriegsparteien in einem immer blutigeren Machtkampf um die Kontrolle des Landes gefangen: die von den UN anerkannte Regierung der Nationalen Einheit (GNA) in Tripolis und die Libysche Nationalarmee (LNA) mit Sitz in Tobruk unter der Leitung des abtrünnigen Generals Khalifa Haftar.

Und so konnten sie – hauptsächlich aufgrund der Unterstützung aus dem Ausland – ihren Konflikt aufrechterhalten. Den hohen menschlichen und wirtschaftlichen Preis dafür muss das libysche Volk zahlen. Die GNA wurde von der Türkei, Qatar und Italien unterstützt, während Ägypten, die Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi-Arabien, Russland und Frankreich der LNA halfen. Die USA wiederum schwankten zwischen beiden hin und her, obwohl Präsident Donald Trump anscheinend eine Vorliebe für Haftar geäußert hat.

Ölinteressen vor Bürgerinteressen

In einer besorgniserregenden neuen Entwicklung hat der ägyptische Präsident die Türkei und ihre Verbündeten davor gewarnt, die strategisch wichtige Stadt Sirte zu übernehmen, die (gemeinsam mit großen Gebieten östlich in Richtung der libysch-ägyptischen Grenze) momentan unter Kontrolle der LNA steht.

Obwohl wahrscheinlich weder die Türkei noch Ägypten – insbesondere angesichts ihrer schweren innenpolitischen Probleme – eine direkte militärische Konfrontation wollen, könnte ihre Positionierung zu einem Zusammenstoß führen, der Nordafrika und den Mittelmeerraum erheblich destabilisieren würde.

Weil es an einem nationalen, regionalen und internationalen Konsens mangelt, haben die Friedensgespräche in Genf unter der Schirmherrschaft der UN bisher keine greifbaren Ergebnisse gebracht, da immer eine Seite unnachgiebig war oder eine andere die Verhandlungen torpediert hat. Durch dieses Patt bleibt Libyen fest im Griff einer strukturellen Instabilität und Unsicherheit, und es besteht nur wenig Aussicht darauf, bald zu einem Normalzustand zurückzukehren, der der leidenden Bevölkerung Hoffnung bringen könnte.

Um das Problem zu lösen, müssten sich die ausländischen Kräfte zurückziehen und es der libyschen Bevölkerung ermöglichen, ihre Zukunft selbst zu bestimmen. Leider sind die Ölvorkommen und die geopolitische Bedeutung des Landes zu einem Magnet für externe Interventionen und einem Fluch für seine Bürger geworden.

Amin Saikal

© Project Syndicate 2020

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff