Ein blutiges Schachspiel

Dem Assad-Regime ist es gelungen, Syrien in ein Schachbrett zu verwandeln, auf dem sich die beiden Global-Player USA und Russland über Ströme von Blut und Tränen hinweg ein Duell liefern. Verlierer in dieser Hängepartie ist in jedem Fall das syrische Volk, schreibt Elias Khoury in seinem Essay.

Von Elias Khoury

Baschar al-Assad ist dem drohenden amerikanischen Militärschlag von der Schippe gesprungen. Die Kräfte der von ihm konstruierten "Achse des Widerstands" haben einen Sieg über den Imperialismus errungen! So jedenfalls deren Interpretation des Deals über die Zerstörung des syrischen Chemiewaffenarsenals – welches angeblich nur existierte, um ein strategisches Gleichgewicht mit der Atommacht Israel herzustellen.

Das Schlagwort vom "Widerstand" hat den Sieg davongetragen, wie schon im Juni 1967 nach der vernichtenden Niederlage im Sechstagekrieg, als die Chefideologen der Baath-Partei kurzerhand das Scheitern des Erzfeinds Israel verkündeten, da dieser es nicht vermocht habe, das progressive Lager innerhalb der arabischen Regimes zu stürzen! Den Rausch ihres großartigen Sieges durften die Araber dann inmitten eines Szenarios von Napalmbomben, neuerlichen Flüchtlingsströmen und barfüßig umherziehenden Soldaten auskosten, nachdem Israel den Sinai, die Golanhöhen, die Westbank und den Gazastreifen besetzt hatte…

Das syrische Oppositionslager, das uns auf allen Kanälen die Notwendigkeit eines Militärschlags eingebläut hatte, verfügt eben nicht über eine so hohe Professionalität im Fabrizieren von Lügen wie die "Antiimperialisten" des sogenannten "Widerstands-Lagers". Deshalb hat sich dieses auch in seinen Schmollwinkel zurückgezogen und flucht nun über den Verrat durch seinen Verbündeten USA – obwohl doch dieses Bündnis stets nur eine Fiktion gewesen ist.

Politik als Kaffeesatzleserei

Flüchtlinge aus Aleppo; Foto: DIMITAR DILKOFF/AFP/Getty Images
Zivilisten als Zielscheibe in einem der blutigsten Bürgerkriege der Region: "Doch weder wird es der Tyrannei gelingen, sich an der Macht zu halten, noch wird sie den Willen des widerstandsfähigen und standhaften syrischen Volkes brechen können", meint Elias Khoury.

Man könnte sich mit solcherlei Substanzlosigkeit abfinden und sagen: Nichts Neues unter der arabischen Sonne, nichts als die üblichen leeren Phrasen. Nur dass diese dazu dienen, die Blutflecken zu kaschieren und die Verbrechen des Mörders von Damaskus, des syrischen Diktators, reinzuwaschen, indem man die Frage nach dem Verbrechen in eine Frage nach dem Tatwerkzeug ummünzt – anstatt nach der Verantwortung des Verbrechers zu fragen.

Das ganze Gerede ist langsam nur noch schäbig und peinlich. Was bleibt einem denn noch zu sagen in Anbetracht all der "friedfertigen" Strategieexperten, die die Politik zu einem Possenspiel degradiert haben? Anstatt Lehren aus dem blutigen amerikanisch-russischen Schachspiel zu ziehen, haben wir die Zeit mit Geschwätz und Analysen verschwendet. Die Politik gleicht mehr und mehr einer Kaffeesatzleserei.

Warum versuchen wir nicht endlich gemeinsam, einen Ausweg aus diesem endlosen Tunnel zu finden?! Es gilt das Schachspiel zu durchschauen, das mit dem amerikanischen Vorschlag zur Zerstörung des syrischen Chemiewaffenarsenals seinen überraschenden Höhepunkt erreicht hat. Ein Vorschlag, der daraufhin von den Russen als ihr eigenes Projekt ausgerufen wurde und dem das Assad-Regime sogleich mit überraschendem "Großmut" und ohne jeden Vorbehalt zugestimmt hat.

Wo ist der syrische oder arabische Akteur?

Zweifellos haben wir es mit zwei raffinierten Spielern zu tun, die es hervorragend verstehen, ihre Schwächen in Stärken zu verwandeln – eines der Merkmale geschickter Diplomatie.

Was aber auf keinen Fall übersehen werden darf, ist die Tatsache, dass kein syrischer oder arabischer Mitspieler am Tisch sitzt. Ja, ihnen ist nicht einmal die Rolle des Bauern auf dem Schachbrett vergönnt, sondern er darf nur herhalten.

Alle Versuche seitens des syrischen Außenministers Walid al-Muallim sowie des syrischen UNO-Botschafters Baschar al-Dschaafari, ihren Dienstherren mit Anspielungen auf dessen Chemiewaffenarsenal in den Rang eines Bauern zu erheben, schlugen fehl.

Tote in einem Massengrab nach dem Giftgasmassaker von Al-Ghuta
Überschrittene rote Linien: Am 21. August waren in Al-Ghuta, einem Vorort der Hauptstadt Damaskus mehr als 1.300 Syrer bei einem Giftgasangriff getötet worden. Nach dem Angriff von Ghuta hatte sich Syrien auf Druck der Weltgemeinschaft zur Zerstörung seines Giftgases bis zum Jahr 2014 bereit erklärt.

Die USA standen vor einem echten Dilemma, denn die von ihnen gezogene rote Linie wurde mit dem bestialischen Giftgasmassaker von al-Ghuta überschritten. Barack Obama sah sich zu einem kleinen, symbolischen Militärschlag gezwungen, widerwillig und vor dem Hintergrund einer öffentlichen Meinung (in den USA wie im gesamten Westen), die infolge des irakischen Debakels jeglichen militärischen Abenteuern ablehnend gegenübersteht.

Hier die zaudernde Friedenstaube Obama, unwillig Assad zu stürzen (und das ist der Kern des ganzen Problems), dort der Falke Putin, der aber nicht einfach so in den Krieg zu ziehen vermag, um seinen "syrischen Protegé" zu retten.

Possenspiel und politisches Unvermögen

Auf diese Weise haben sich Wankelmütigkeit und Unvermögen die Hand gereicht und einen der größten diplomatischen Schwindel unserer Zeit inszeniert. US-Außenminister Kerry zauberte mit einem Versprecher das Projekt Chemiewaffenvernichtung aus dem Hut, das von seinem russischen Amtskollegen Lawrow dankbar aufgegriffen und zu einem Resolutionsentwurf umformuliert wurde. Walid al-Muallim kam dann nur noch die Aufgabe zu, mit zittriger Stimme, so als würde er seinen Text zum ersten Mal vor sich sehen, die Zustimmung Syriens zu verlesen.

Der Petersburger Gipfel, wo die Vereinbarung ausformuliert wurde, war dann von einem frostigen Klima zwischen den beiden Staatsmännern beherrscht, was jedoch nicht nur auf die Gegensätzlichkeit der Positionen zurückzuführen war, sondern auch auf die Komplexität des syrischen Dilemmas, in das sich beide Seiten verstrickt sahen.

Damit hat sich die Sache allerdings noch nicht erledigt. Vielmehr ist die Chemiewaffenvereinbarung möglicherweise der erste Schritt hin zu einer Reglementierung der syrischen Zustände durch die beiden Großmächte, zu einer Umwandlung des Landes in eine riesige Isolierstation, hinter deren Türen Mord und Terror wüten, während man deren Auswirkungen unter Kontrolle zu halten und deren Ausbreitung zu verhindern trachtet.

Der kontrollierte Krieg

Meiner Ansicht nach ist diese Vereinbarung also kein Schritt hin zu einer Beendigung des Krieges in Syrien, sondern ein Schritt, um ihn zu regulieren und seine negativen Konsequenzen im Zaum zu halten. Die Demontage des Giftgasarsenals beruhigt Israel, was das Hauptanliegen der Amerikaner ist. Und sie dient als provisorischer Rettungsanker für das Assad-Regime, was den Russen zweifelsohne behagt. Auch vereitelt sie den Triumph des syrischen Volkes über ihre Henker, was sowohl von den USA als auch von Russland offensichtlich gebilligt wird!

Tatsächlich sind wir Zeugen einer bizarren Diplomatie, die Unvermögen und Wankelmütigkeit kaschiert sowie den Eindruck erwecken soll, dass die noch im Entstehen begriffene neue Weltordnung imstande ist, die Lunte des Krieges zu löschen, im Bemühen um eine Beilegung einer der derzeit komplexesten internationalen Krisen.

Der libanesische Schriftsteller Elias Khoury; Foto: dpa/picture-alliance
Elias Khoury, 1948 in Beirut geboren, gehört zu den namhaftesten arabischen Intellektuellen der Gegenwart. Er war Mitherausgeber zahlreicher politischer Journale und für einige Zeit der künstlerische Leiter des Beiruter Theaters. Heute ist er leitender Literaturredakteur der Beiruter Zeitung "An-Nahar". Zu Khourys Werk zählen zahlreiche Romane, darunter das auch auf Deutsch erschienene Buch "Der König der Fremdlinge" (1998) sowie "Bab Ashams", sein großer Roman über die Geschichte der Palästinenser, für den er 1998 den Palästina-Preis erhielt und der im Herbst 2004 unter dem Titel "Das Tor zur Sonne" auch auf Deutsch erschien.

Das syrische Regime, und mit ihm der ganze Tross der Antiimperialisten, tanzt vor Begeisterung über ihren Sieg, wohl wissend, dass das Zögern der Amerikaner nicht aus Angst vor ihnen geschah, sondern vielmehr aus Furcht vor dem, was nach ihrem Sturz kommen könnte. Der amerikanische Imperialismus vertraut nicht auf die Fähigkeit seiner Freunde und Bündnispartner, eine staatliche Ordnung zu errichten, welche die Sicherheit Israels in gleicher Weise garantiert, wie es das Assad-Regime über vier Jahrzehnte hinweg tat.

Außerdem fürchten die USA den Einfluss radikaler islamistischer Strömungen innerhalb der syrischen Opposition – ein Einfluss, der in erster Linie auf ihre arabischen Verbündeten zurückzuführen ist, welche in den salafistischen Strömungen ein probates Rezept gefunden haben, um den demokratischen Geist der Revolution zu brechen und diese in einen zerstörerischen sunnitisch-schiitischen Konflikt umzufunktionieren.

Eine blutige Hängepartie

Das Dilemma stellt sich also nicht primär für die USA und Russland, den beiden Gegenspielern in der syrischen Schachpartie, von dem Putin sich erhofft, dass sie ihm wieder einen Platz als gleichberechtigter Partner auf der internationalen politischen Bühne verschafft.

Vielmehr handelt es sich um ein Dilemma des syrischen Volkes im Kampf gegen ein totalitäres Regime. Dessen Massenvernichtungswaffen waren – wie sich herausgestellt hat – nicht zum Einsatz gegen Israel bestimmt, sondern zum Massakrieren des eigenen Volkes sowie dazu, alle Hoffnungen auf Veränderung im Keim zu ersticken.

Der Tyrannei ist es gelungen, Syrien in ein Schachbrett zu verwandeln, auf dem sich die beiden Global Player über Ströme von Blut und Tränen hinweg ein Duell liefern. Dieses Schachbrett hat der Welt vor Augen geführt, dass der verbrecherischen Energie keine Grenzen gesetzt sind.

Doch wird es der Tyrannei nicht gelingen, sich an der Macht zu halten, noch wird sie den Willen des aufopferungsvollen, widerstandsfähigen und standhaften syrischen Volkes brechen können. Diese Wette gilt.

Elias Khoury

Übersetzt aus dem Arabischen von Rafael Sanchez

© Qantara.de 2013

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de