Jeder gegen jeden

Libyen, das ist ein politisches Chaos, das sich von außen kaum mehr verstehen lässt. Zwei Regierungen, eine im Westen und eine im Osten, kämpfen um die Macht. Selbst innerhalb der Machtblöcke gibt es militärische Auseinandersetzungen unterschiedlicher Milizen. Von Karim El-Gawhary

Von Karim El-Gawhary

In dem vom Bürgerkrieg seit dem Ende Gaddafis schwer gezeichneten nordafrikanischen Land hat der sogenannte "Islamische Staat" (IS) zwar inzwischen sein dortiges Territorium wieder verloren, doch es ist alles andere als sicher, dass die Tage der Dschihadisten gezählt sind. Und Europa betrachtet Libyen scheinbar nur noch unter einem einzigen Aspekt: Wie kann man verhindern, dass sich von der libyschen Küste aus Flüchtlinge und Migranten auf den Weg nach Europa machen?

Libyen, das ist vor allem eines: ein sich auflösender Staat, in dem gleichzeitig zwei rivalisierende Blöcke um die Macht ringen: die von der UNO anerkannte Regierung in Tripolis, im Westen des Landes, und die selbsternannte Regierung unter General Khalifa Haftar im östlichen Bengasi.

"Libyen weist heute zwei Merkmale auf: Es erlebt einen Bürgerkrieg und den Zusammenbruch des Staates", fasst der libysche Politik-Experte Emadeddin Badi in einem Gespräch mit Qantara.de die Lage zusammen. "Wir haben es mit zwei Regierungen zu tun. Doch keine dieser beiden Regierungen schafft es, die Kontrolle über das gesamte Territorium zu erlangen und das staatliche Machtmonopol zu stellen. Eine dieser Regierungen, nämlich die in Tripolis, ist durch die UNO international legitimiert. Doch diese Regierung wird nicht nur von der anderen abgelehnt, sondern zunehmend intern herausgefordert – und zwar innerhalb des Gebietes, das sie bislang kontrolliert hatten", berichtet Badi, womit er sich auf die jüngsten Kämpfe verschiedener Milizen untereinander in Tripolis bezieht.

Einen Gaddafi losgeworden, zehn weitere bekommen

"Wir sind einen Gaddafi losgeworden und haben zehn Gaddafis bekommen", schrieb unlängst eine frustrierte Libyerin auf Twitter. In Libyen hatten die Menschen 40 Jahre lang ihre Hoffnung in einen Herrscher gesetzt, nicht in einen Staat, meint Badi dazu. "Viele Menschen ziehen heute Parallelen zur Vergangenheit, weil sie inzwischen vom Erbe der Revolution enttäuscht sind. Was vielen dabei unklar ist: Wir leben immer noch unter dem gleichen System, das Gaddafi schuf, weil es niemand verändert hat!"

Libyens früherer Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi; Foto: AFP/Getty Images
Eins, zwei, viele Gaddafis...: "Viele Menschen ziehen heute Parallelen zur Vergangenheit, weil sie inzwischen vom Erbe der Revolution enttäuscht sind. Was vielen dabei unklar ist: Wir leben immer noch unter dem gleichen System, das Gaddafi schuf, weil es niemand verändert hat", meint Libyen-Experte Emadeddin Badi.

Und ein Ausweg aus der verfahrenen Situation lässt sich nur schwer finden, meint der Libyen-Experte: "Das Problem ist, dass die politischen Führungen im Land versuchen, durch ihre Politik den jeweils anderen auszuschließen. Und das macht es schwierig, sie alle an einen Tisch zu bringen."

Auch ausländische Mächte wie Ägypten, Qatar und die Vereinigten Arabischen Emirate sind im Libyenkonflikt involviert. Aber Russland und die Europäer hätten das ihre zu dieser verfahrenen Situation beigetragen, denn die lokalen Konflikte in Libyen würden von externen Mächten instrumentalisiert. "Jeder unterstützt jeweils die bewaffnete Gruppe, von der angenommen wird, dass sie ihren Einfluss auf Libyen erweitern kann", so Badi. "Und diese Länder haben unterschiedliche Ideen, wie das Land stabilisiert werden kann und wie Libyen am Ende aussehen soll", sagt Badi, der auch für die Carnegie-Stiftung tätig ist. "Das ist auch der Grund dafür, dass jeder sein eigenes Süppchen kocht, anstatt an einem Strang zu ziehen."

Das ein vom "Islamischen Staat" gehaltenes Territorium in Syrte, im Zentrum des Landes, im Dezember 2016 nach monatelangen Kämpfen zurückerobert werden konnte, war zwar einer der wenigen Erfolge, den das Land vorweisen konnte. Derweil ist aber offen, ob die Tage des IS in Libyen tatsächlich gezählt sind. Da das von Gaddafi einst aufgebaute interne Geheimdienstsystem praktisch zusammengebrochen ist, gibt es keine wirklichen Möglichkeiten, die operative Stärke des IS angemessen einzuschätzen.

Die Ohnmacht des Staates

"Viele sagen heute, dass wir in Libyen in einer Post-IS-Zeit leben", berichtet Emadeddin Badi. "Andere gehen davon aus, dass der IS zurückkommen wird. Das Problem ist, dass die Bedingungen, die einst den Aufstieg des IS begünstigten, immer noch die gleichen sind", erklärt er. Und darauf setzen die Dschihadisten: ein schwacher Staat, die Unfähigkeit zur Kooperation mit internationalen Organisationen im Anti-Terror-Kampf und die Schwäche, die Grenzen umfassend kontrollieren zu können.

Als zusätzliches Problem sieht er, dass jene Gruppen, die 2016 gegen den IS kämpften, große Verluste erlitten haben und dafür keinerlei Anerkennung fanden. Sollte der IS noch einmal erstarken, wäre es wohl noch schwieriger, innerlibysche Kräfte gegen die Dschihadisten zu mobilisieren - auch aus Angst davor, im innerlibyschen Machtkampf zwischen den beiden Regierungen militärisch den Kürzeren zu ziehen, so Emadeddin Badi.

Die von General Haftar eroberte liybsche Küstenstadt Derna; Foto: Reuters
Chalifa Haftars Etappensieg: Der abtrünnige General hatte Ende Juni die "Befreiung" der Stadt Derna im Osten Libyens verkündet. In der Küstenstadt herrschte zuvor eine Allianz aus Islamisten und dschihadistischen Milizen, darunter auch dem Terrornetzwerk Al-Qaida nahestehende Gruppen. Sie stehen sowohl Haftar als auch der Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) feindlich gegenüber.

Dass Europa Libyen nur noch verkürzt als Transitpunkt für Migranten und Flüchtlinge wahrnimmt, betrachtet Badi als großen Fehler. Allein Libyen politisch zu stabilisieren und dessen Wirtschaft wieder aufzubauen, damit die Migranten aus Afrika auch in Libyen wieder Arbeit finden, wie das traditionell der Fall war, könnte diesen Trend umkehren.

Das lukrative Geschäft der Schleuser

Der Versuch die Grenze zur EU nach Libyen auszulagern und einzelne Kräfte dort zu stützen, damit sie Migranten aufhalten, sei eine Politik, die scheitern wird, ist sich der Libyen-Experte sicher. Als Beispiel nennt er die europäische Unterstützung für die libysche Küstenwache. "Das Problem ist, dass diese Küstenwache selbst am Menschenschmuggel beteiligt ist. Sie bekommen einerseits von Europa Hilfe, damit sie Flüchtlinge auf dem Meer aufbringen und wieder zurückbringen. Doch andererseits arbeiten sie auch mit Schleusern zusammen, wenn sie nicht sogar selbst in diesem Bereich aktiv sind. Sie kassieren also doppelt", so Badi.

Zwei ihrer Hauptkommandeure seien mit Sanktionen des UN-Sicherheitsrates belegt worden. Einer von ihnen sei Abdel Rahman Milad, der die Küstenwache in Zawiya kommandiert, eine der aktivsten Einheiten der Küstenwache, die offen von der EU unterstützt wird. Das zeige bereits, wie wenig nachhaltig dieser Prozess doch sei, schildert er.

Von den sogenannten Anlandezentren für Migranten und Flüchtlinge, die in Europa diskutiert werden, hält der Libyen-Experte nichts. "Sie kleben damit nur ein winziges Pflaster auf eine riesige Wunde. Und man ist sich nicht mal sicher, ob dieses Pflaster überhaupt an der richtigen Stelle klebt", sagt er und lacht. "Keines der nordafrikanischen Länder ist hierzu bereit – und Libyen mit Sicherheit auch nicht."

So strategisch wichtig Libyen für Europa auch sein mag, so irrelevant sind die meisten diesbezüglichen Diskussionen und Politikansätze, da sie stets an der libyschen Realität scheitern. Vor allem, solange man in den europäischen Hauptstädten lediglich darüber diskutiert, wo man in Libyen welches Pflaster platziert.

Karim El-Gawhary

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