Das arabische Unglück

Die Zukunft der Araber liegt in der Neubewertung und Loslösung von ihrer Vergangenheit, so der leidenschaftliche Appell des vor einem Jahr ermordeten libanesischen Schriftstellers Samir Kassir an die arabische Welt. Susan Javad stellt das Buch vor.

Der libanesische Journalist Samir Kassir; Foto: AP
Samir Kassir fiel am 2. Juni 2005 einem Anschlag zum Opfer, hinter dem man syrische und libanesische Geheimdienstmitarbeiter vermutet

​​Gegenseitiges Unverständnis hat das Verhältnis zwischen Europa und den arabischen Ländern in den letzten Jahren bestimmt. Die Karikaturendebatte und ihre Folgen sind das bisher letzte Kapitel dieser Geschichte.

In der westlichen Presse wurde in diesem Zusammenhang immer wieder die Frage nach den Positionen arabischer Intellektueller gestellt: Können sie vielleicht verständlich machen, was uns Europäern so unverständlich scheint?

Samir Kassir ist einer dieser Intellektuellen, in den man die Hoffnung auf Vermittlung setzen könnte, wäre ihr nicht am 2. Juni 2005 bereits ein brutales Ende bereitet worden.

Der libanesische Journalist, Kolumnist und Universitätsdozent fiel an diesem Tag einem Autobombenattentat zum Opfer, als dessen Drahtzieher man eine Gruppe syrischer und libanesischer Geheimdienstmitarbeiter vermutet, die wohl auch das Attentat auf Rafik Hariri veranlasst hat.

"Araber zu sein, macht keine Freude"

Ein Jahr vor seiner Ermordung veröffentlichte Samir Kassir in Frankreich ein schmales Buch, das den provokanten Titel "Überlegungen zum arabischen Unglück" trug und fast zeitgleich auch auf Arabisch veröffentlicht wurde. In deutscher Übersetzung erscheint es nun als "Das arabische Unglück" im Verlag Hans Schiler.

"Araber zu sein, macht heutzutage keine Freude. Manche fühlen sich verfolgt, andere hassen sich selbst." Mit dieser Feststellung setzt Kassir zu seinem 93-seitigen Rundumschlag an und stellt gleich im Vorwort klar, dass es sich um die persönliche Meinungsäußerung eines arabischen Intellektuellen handle, nicht um eine politische Handlungsanleitung.

Zwei Sätze schließen hieran an, und sie sagen viel über das Selbstverständnis Kassirs und über die Lage vieler Intellektueller in der arabischen Welt: als säkularisierten Araber beschreibt er sich, und als kulturell assimiliert, verwestlicht gar und setzt in Bezug auf sich selbst nach: "aber er sieht sich nicht als entfremdetes Opfer einer ausländischen Kultur."

Damit ist Kassir bereits mitten im Thema. Es geht ihm um die Loslösung der Araber aus der Opferrolle, aus einem Ohnmachtsgefühl, das er als allgegenwärtig in der arabischen Welt beschreibt und unter dem Begriff "arabisches Unglück" zusammenfasst.

Das "Goldene Zeitalter" entmystifizieren

Seine Diagnose ist messerscharf: "Die Ohnmacht der Araber ist wohl noch schmerzlicher, weil sie nicht immer vorhanden war. Genauer gesagt, das Unglück der Araber könnte in ihrer Ohnmacht bestehen, die sie daran hindert etwas zu sein, nachdem sie etwas gewesen sind."

Kassir sieht das Hauptproblem der arabischen Welt darin, dass sie bisher nicht fähig war, sich von ihrer Sehnsucht nach dem "Goldenen Zeitalter" zu lösen. Einer Phase der arabischen Geschichte, die nach Kassir, jedoch ohnehin einer Neubewertung und Neuinterpretation bedürfe.

Außerdem vergäßen sie einen anderen, jüngeren Teil ihrer Geschichte, der viel Anlass zur Hoffnung gegeben hätte.

Kassir möchte das "Goldene Zeitalter" der arabischen Geschichte entmystifizieren. Es ist ihm wichtig, den Beitrag der verschiedenen Völker, die zu dieser Hochphase der arabischen Geschichte beigetragen haben, zu betonen.

Der Islam wird im Verständnis Kassirs damit zu einer von mehreren Komponenten, die zum damaligen Universalismus der arabischen Kultur beigetragen hätten. "Die arabische Geschichte, eine Geschichte von Großreichen", erweise sich, so Kassir, "als eine Akkumulation kultureller Erfahrungen. Ja noch mehr, als Anhäufung der kulturellen Vielfalt."

Religion zur Frustrationsbewältigung

Die Betonung der Vielfalt und der kulturellen Integrationsleistung des Islam in dieser Periode des "Goldenen Zeitalters" verwendet Kassir auch als Hauptargument gegen den Islamismus.

Dessen Ursprung verortet er im Ohnmachtsgefühl der Araber gegenüber Israel und in einem Mangel ideologischer Alternativen nach dem Scheitern des arabischen Nationalismus und Sozialismus. So "[…] bleibt nur noch der Rückgriff auf die Religion übrig, um die Frustration zu kanalisieren und den Veränderungswillen zu äußern."

Dagegen stellt er die kulturelle Öffnung der arabischen Länder in der Periode der "nahda", der "arabischen Renaissance", deren Auswirkungen, so Kassir, noch bis weit ins 20. Jahrhundert reichten:

Das Kino zog in die arabischen Städte ein, die Frauen begannen aus eigenem Antrieb, den Schleier abzulegen, Bildung bekam einen neuen Stellenwert und der Wille, an der Moderne und ihren Errungenschaften zu partizipieren, sei in vielen der arabischen Länder allgegenwärtig gewesen.

Dass dieser Teil der arabischen Geschichte nunmehr fast vergessen ist bzw. negativ als "Verwestlichung" interpretiert werde, sieht Kassir als einen schwerwiegenden Fehler. Denn die Erinnerung an diese Zeit des Aufbruchs und des Fortschritts, könne, so Kassir, das Gefühl der Araber, seit dem "Goldenen Zeitalter" nur im Niedergang begriffen zu sein, durchbrechen.

Kontraproduktive Wirkung durch Ölreichtum

​​Außerdem betrachtet er verschiedene Aspekte der Moderne, wie Frauenbildung, Menschenrechte und Demokratie als universalistisches Erbe der Menschheit, die nicht mit dem Argument des westlichen Kulturimperialismus abgetan werden könnten.

Kassir möchte ein differenziertes Bild des "arabischen Unglücks" zeichnen. Er vergisst weder die Schuldigkeiten der Kolonialpolitik Europas, später die der USA und die Israels zu erwähnen, noch lässt er die unrühmlichen, selbstverschuldeten Entwicklungen in den arabischen Staaten außer Acht.

Der autoritäre Herrschaftsstil der arabischen Potentaten, die Missachtung der Menschen- und Bürgerrechte, jeder Aspekt der heutigen Malaise findet Erwähnung.

Und auch eine gute Portion Pech sei mitverantwortlich für "das arabische Unglück". Die Verteilung der arabischen Länder auf zwei Kontinente, erleichtere die politische Einigung der arabischen Staaten nicht und nicht zuletzt der Ölreichtum habe kontraproduktive Wirkung gezeigt.

So habe er es, schreibt Kassir, gerade den rückständigsten arabischen Staaten, Saudi-Arabien und den Golfstaaten, ermöglicht, ihren Lebensstil in die anderen Länder der Region zu exportieren.

Samir Kassir möchte jedoch nicht nur eine Bestandsaufnahme der derzeitigen Situation zeichnen. Sein Buch ist auch ein Plädoyer für die Durchbrechung des Ohnmachtszyklus.

Der Islamismus ist dabei für ihn – zumal als säkularisierter arabischer Christ – keine Lösung, sondern nur die Multiplikation und Verewigung der Ohnmacht und leiste zudem einer Ideologie des Kampfs der Kulturen Vorschub – eine Haltung, der Kassir sich entschieden verweigert.

Kulturelle Globalisierung

Er setzt dagegen auf die positiven Auswirkungen einer kulturellen Globalisierung, die einerseits die arabischen Länder näher zusammenrücke und sie gleichzeitig auch für andere Einflüsse öffnen könne.

"Das arabische Unglück" ist der Versuch einer Analyse der momentanen Stimmung in den arabischen Ländern aus der Sicht eines ihrer prägnantesten Intellektuellen. Sie scheint in vielen Punkten zutreffend und gelungen.

Dabei fällt es jedoch nicht immer leicht, Kassir inhaltlich zu folgen, was auch an der Übersetzung aus dem Französischen liegen mag, die insgesamt zu nahe am Originaltext orientiert scheint und deswegen im Deutschen stellenweise Unklarheiten befördert.

Doch merkt man dem Buch das Ringen des Autors um die arabische Zukunft, d.h. die Überwindung des "arabischen Unglücks" auf jeder Seite an.

Dass ausgerechnet dieser Mann – dem es bei seinen für die Araber oft nicht nur schmeichelhaften Feststellungen niemals um die Herabwürdigung der Kultur geht, der er sich selbst zutiefst verbunden fühlt – den Machenschaften gewisser arabischer Politikercliquen zum Opfer fiel, muss wohl als eines der traurigsten Kapitel der neueren arabischen Geschichte vermerkt werden.

Susan Javad

© Qantara.de 2006

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