Die Rolle der Christen im Nahost-Konflikt

Palästinensische Christen sind integraler Bestandteil der palästinensischen Nationalbewegung. Zu diesem Schluss kommt der in Chile geborene palästinensische Politikwissenschaftler Xavier Abu Eid im Interview mit Andrea Krogmann.

Von Andrea Krogmann

Herr Abu Eid, wie sah das christliche Palästina bis 1917 aus, als die Briten den Juden in der Balfour-Erklärung eine "nationale Heimstätte" in Palästina zusicherten?



Abu Eid: Palästina vor der Balfour-Erklärung kannte keine internen Grenzen. Christen hatten freien Zugang zu ihren heiligen Stätten. Das Land war vergleichbar mit dem Rest der Region, die sich in Richtung nationale Unabhängigkeit bewegte. Gleichzeitig expandierten christliche Gemeinden trotz wirtschaftlicher Schwierigkeiten. Wir sprechen hier von der Wiege der Christenheit. Ein gutes Beispiel ist das Lateinische Patriarchat von Jerusalem, das in alle Landesteile expandierte. Als die Briten Palästina im Ersten Weltkrieg einnahmen, machten Christen rund neun Prozent der Bevölkerung aus.

Christen in Bethlehem; Foto: Debbie Hill/UPI/newscom/picture-alliance
Weihnachten in Bethlehem: Die Nakba, die palästinensische Katastrophe, betraf die Christen unter den Palästinensern genauso wie die Muslime. Über 50 Prozent der palästinensischen Christen wurde über Nacht zu Flüchtlingen. Familien wurden getrennt, christliche Einrichtungen geschlossen, darunter Kirchen. 1948 lebten die meisten Christen nicht in Bethlehem oder Ramallah, sondern in Westjerusalem, Jaffa, Akka, Nazareth, in den Dörfern Galiläas. Sie wurden als Christen nicht anders behandelt als andere Palästinenser.

Was hat sich mit der Balfour-Erklärung geändert?



Abu Eid: Balfour war eine Zeitenwende. Die Briten versprachen unser Land Menschen, die nicht von hier waren. Gleichzeitig änderte die Erklärung die logische Bewegung Palästinas in Richtung Freiheit und Unabhängigkeit, in die sich die anderen Länder der Region bewegten.



Welche Rolle spielten Christen in der palästinensischen Nationalbewegung?



Abu Eid: Sie spielten zu verschiedenen Zeiten jeweils unterschiedliche Rollen Zeiten. Bis 1948 waren Christen im Kampf um die nationale Befreiung Palästinas vor allem an der Front. Dann kam die Nakba, die Katastrophe der Vertreibung von hunderttausenden Palästinensern nach der Gründung Israels, ohne deren Verständnis sich die Geschichte nach 1948 nicht verstehen lässt. Die Nakba war ein beinahe tödlicher Schlag für die Christen in Palästina, von der sie sich nie erholt haben.



Warum nicht?



Abu Eid: Die Nakba zielte auf die Lebensfähigkeit der christlichen Präsenz. Über 50 Prozent der palästinensischen Christen wurde über Nacht zu Flüchtlingen. Familien wurden getrennt, christliche Einrichtungen geschlossen, darunter Kirchen. 1948 lebten die meisten Christen nicht in Bethlehem oder Ramallah, sondern in Westjerusalem, Jaffa, Akka, Nazareth, in den Dörfern Galiläas. Sie wurden als Christen nicht anders behandelt als andere Palästinenser.

Christlicher Pilger in Jerusalem; Foto: Reiuters/A.Awad
Exodus der Christen aus Palästina? „Oft wird auf die Abwanderung von Christen fokussiert. Dies mag im Sinne jener sein, die zeigen wollen, dass Christen nicht von hier stammen und hier keine Zukunft haben,“ sagt der Politikwissenschaftler Xavier Abu Eid. „Aber was ist mit den Tausenden, die trotz allem hiergeblieben sind? Mit tausenden palästinensischen Christen, die gerne wiederkommen würden, und Israel lässt sie nicht? Man kann Christen nicht vom Rest der Palästinenser abkoppeln. Unsere Rechte als Palästinenser zu erlangen, ist eine Grundvoraussetzung, ohne die es nicht geht. Ohne ein Ende der Besatzung und die Verwirklichung unserer Rechte ist die Lebensfähigkeit einer christlichen Präsenz schwierig. Und ohne eine christliche Präsenz fehlt die Essenz Palästinas.“





Oft heißt es, Christen könnten wegen des Ideals der Gewaltfreiheit eine Brücke im Konflikt sein. Stimmt das?



Abu Eid: Christen waren als Palästinenser Teil aller Phasen der palästinensischen Nationalbewegung, einschließlich des bewaffneten Widerstands. Es stimmt, dass der bewaffnete Kampf zu einer theologischen Debatte geführt hat. Teile der Christen sahen in der Gewalt eine Abkehr von der christlichen Botschaft. Die gewaltfreien Aktionen im überwiegend christlichen Beit Sahour im Westjordanland während der beiden Intifadas sind Beispiele für einen erfolgreichen friedlichen Widerstand.

In Ihrem Buch beschreiben Sie Spannungen zwischen ausländischen Kirchenleitungen und einheimischen Christen in der Haltung zur palästinensischen Frage.



Abu Eid: Nicht alle ausländischen Kirchenführer hatten dieselbe Position. Es gab unter ausländischen Klerikern unzählige, die an der Seite ihrer palästinensischen Gläubigen standen. Aber Menschen sind mit unterschiedlichen Zielen nach Palästina gekommen, manche von ihnen mit mythischen Ideen. Ihnen lag mehr am Schutz der heiligen Stätten als an den Menschen. Anderen ging es um Pilger, und hier muss man sagen: westliche Pilger.

Bis 1948 und 1967 waren die meisten Pilger arabische Christen. Heute haben sie nicht die Freiheit, zu kommen. Diese Abriegelung ist ein weiterer Punkt, der das nationale Wachstum und die natürliche Struktur der Christen in der Region zerstört. Ein weiterer Aspekt ist die Frage von Kircheneigentum. Wenn eine Kirche ihr Land den Zionisten überlässt, sendet sie die Botschaft an ihre Gemeinde: "Es gibt für uns hier keine Zukunft".

Autor Xavier Abu Eid bei der Vorstellung seines Buches an der Dar al-Kalima University in Bethlehem. (Foto: Dar al-Kalima University)
Autor Xavier Abu Eid bei der Vorstellung seines Buches an der Dar al-Kalima University in Bethlehem. (Foto: Dar al-Kalima University)





Eine Zeit lang gab es eine Arabisierung der Kirchenführungen.



Abu Eid: Michel Sabbah war als erster palästinensischer Lateinischer Patriarch von Jerusalem ein Wendepunkt in jeder Hinsicht. Es ist ihm gelungen, nicht nur Katholiken eine Stimme zu verleihen, sondern die christliche Präsenz für alle wiederzubeleben. Mit seiner Art, sich an die Seite der Unterdrückten zu stellen, hat er viele von der Auswanderung abgehalten.

Nach seiner Emeritierung haben sich die Kirchenführer jedoch wieder zurückgezogen. Heute konzentrieren sie sich im Wesentlichen auf zwei Dinge: den Schutz ihrer Rechte im Sinne des Status quo sowie den Steuerstreit mit Israel. Wenn sie sich in seltenen Fällen mit anderen Anliegen befassen, wie etwa im Fall des Jaffators, wo Siedler sich Kircheneigentum aneignen, sieht man, dass sie doch Stärke zeigen können, wenn sie zusammenstehen.



Sehen Sie eine Zukunft für die Christen in Palästina?



Abu Eid: Oft wird auf die Abwanderung von Christen fokussiert. Dies mag im Sinne jener sein, die zeigen wollen, dass Christen nicht von hier stammen und hier keine Zukunft haben. Aber was ist mit den Tausenden, die trotz allem hiergeblieben sind? Mit tausenden palästinensischen Christen, die gerne wiederkommen würden, und Israel lässt sie nicht? Man kann Christen nicht vom Rest der Palästinenser abkoppeln.

Unsere Rechte als Palästinenser zu erlangen, ist eine Grundvoraussetzung, ohne die es nicht geht. Ohne ein Ende der Besatzung und die Verwirklichung unserer Rechte ist die Lebensfähigkeit einer christlichen Präsenz schwierig. Und ohne eine christliche Präsenz fehlt die Essenz Palästinas. (KNA)

 

Xavier Abu Eid, "Rooted in Palestine: Palestinian Christians and the Struggle for National Liberation 1917-2004“ (dt. "Verwurzelt in Palästina: Palästinensische Christen und der Kampf um nationale Befreiung", Verlag Dar al-Kalima University Press, Bethlehem 2022

 

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