Sein letzter Kampf. Eine marokkanische Legende

Unter dem Titel "Sein letzter Kampf" ist der letzte Roman des marokkanischen Schriftstellers Mohammed Khaïr-Eddine auf Deutsch erschienen. Die Stammes-Saga kreist um die Figur des Agoun’chich, der als "lonesome rider" durch die Bergwelt Südmarokkos streift. Von Regina Keil-Sagawe

Unter dem Titel "Sein letzter Kampf" ist der letzte Roman des marokkanischen Schriftstellers Mohammed Khaïr-Eddine auf Deutsch erschienen. Die Stammes-Saga aus dem Anti-Atlas kreist um die legendäre Figur des Agoun’chich, der als "lonesome rider" durch die zerklüftete Bergwelt Südmarokkos streift. Von Regina Keil-Sagawe

Mohammed Khair-Eddine; © casafree.com
Ikone der Berber-Renaissance: Mohammed Khair-Eddine

​​"Eine unendliche Vielfalt an Kakteen taucht früh am Morgen auf beiden Seiten der in die trockene und steinige Erdkruste gehauenen Straße auf. Kümmerliche, verstaubte Arganienbäume, flaschengrün, von den amberfarbenen, noch unreifen Früchten gelblich gefärbt, recken ihre von Unwetter und Sonnenglut geschlagene Silhouette dem Himmel entgegen. Dornige Bäume, tausend Mal besiegt und tausend Mal wiedererstanden. Nichts kann jemals ihren Widerstand vollends brechen …"

High Noon im tiefen Süden: Einen makabren Western hat er uns vermacht, Mohammed Khaïr-Eddine (1941-1995), der marokkanische Rimbaud, mit dieser Stammes-Saga aus dem Anti-Atlas, die um die legendäre Figur des Agoun’chich kreist, der als lonesome rider durch die zerklüftete Bergwelt Südmarokkos streift, als einsamer Rächer – bandit d’honneur – dem Clan des Mörders seiner Schwester auf der Spur, in archetypischer Landschaft, die seit Menschengedenken geprägt ist von Armut und Hungersnöten, Blutrache und Stammesfehden, Sklavenhandel und Aberglauben, Gewalt und Unwissenheit, einer Landschaft, dem Himmel so nah wie der Hölle …

"Seine Ahnen hatten ihm vorausgesagt, die Toten würden ihn begleiten, wohin auch immer er gehen würde, und er könne ihnen unmöglich entfliehen."

Agoun’chich, der verfolgte Verfolger, nächtigt in Höhlen und Heiligengräbern, verlassenen Friedhöfen, zerfallenen Burgruinen, als reitender Bote einer Vergangenheit, die sich in Halluzinationen manifestiert und in Traumvisionen, in Begegnungen mit Geistern und Dämonen …

Der Roman kommt streckenweise als Reiseführer daher: durch den mythischen, archaischen Süden, das Dreieck Tafraout-Tiznit-Taroudant, jene Gegend, in der Khaïr-Eddine zuhause ist, die er in all seinen Texten beschwört, doch in keinem so packend und eindringlich, anrührend und aufwühlend wie in Vie et Légende d’Agoun’chich, seinem siebten und letzten Roman, dem ersten, den er in Marokko zu Papier bringt, zwischen 1979 und 1983, nach jahrzehntelangem Exil:

"Wie köstlich schmeckt nach den schweren Weinen in der Fremde der Krug mit Molke, die mit gemahlenem Thymian bestäubt ist!"

Persönliche Erinnerung und Kollektivgedächtnis, öffentliche Geschichte und Einzelbiographie verschmelzen zu einem Phantombild des Südens, der zu jener Zeit, da die eigentliche Handlung einsetzt, in den 1930ern, schon die Stigmata des Exodus und der Landflucht trägt, der Emigration und des (schmerzhaften) Kontakts mit der (kolonialen) Moderne.

​​Mit so plastischem wie phantastischem Pinselstrich hält Khaïr-Eddine die Sprache der Berber und ihr Brauchtum fest, schildert Alltagssitten und Festtagsriten, Schöpfungsgeschichten und Ursprungsmythen, erzählt aus dem Leben von Heiligen, Sidi Hmad ou Moussa, Lalla t’I’azza T’asemlalt, oder von Sagenhelden und Märchengestalten wie Hmad ou Namir, in dem sich Agoun’chich wiedererkennt:

"Mein Haus war ein Stern und ich war Hmad ou Namir, ein Genie … ich war aus der Materie der Sterne … mein Körper tränkte mit seinem Schweiß die Erde, denn ich arbeitete im himmlischen Exil …"

Nichts weniger als himmlisch ist das Exil, dem Agoun’chich am Ende des Romans entgegensieht: Was als pittoresker Ethno-Western beginnt, als Roman on the road, oder besser off road, mit surrealem Touch, gerät zunehmend zum Protokoll eines clash of civilizations, dem brutalen Zusammenstoß mit der Kolonialgewalt, bei dem Agoun’chich, der "König der Berge", die Seele des Südens, um so mehr in die Defensive gerät, je weiter er nach Norden reitet.

Als am Ende gar ein Lastwagen die geliebte Mauleselin überfährt, seine einzige Gefährtin, da steht ihm sein letzter Kampf, auf den der Titel der deutschen Übersetzung anspielt – und den der Autor der Imagination des Lesers überlässt –, erst noch bevor.

"Noch am gleichen Tag vergrub er seine Waffen neben seinem Maultier und nahm den Bus nach Casablanca."

Denn eines steht fest: nicht mit Waffen ist dieser Kampf zu gewinnen, der ein "Kulturkampf" ist, und erst recht nicht in den Bergen.

Genau genommen ist der gesamte Roman, der sich wie Khaïr-Eddines Vermächtnis liest, Teil dieses Kampfes, und die Tatsache, dass er erst 2002 in Casablanca veröffentlicht wird, 18 Jahre nach der Pariser Erstausgabe, 7 Jahre nach Khair-Eddines Tod, lässt erkennen, dass Agoun’chich – und mit ihm die uralte, immer wieder in die Defensive gedrängte Berberkultur, zu der sich in Marokko rund 50-60 Prozent der Bevölkerung bekennen – tatsächlich so resistent und erneuerungsfähig zu sein scheint wie die eingangs erwähnte Arganie, Sinnbild des marokkanischen Südens.

Von jener "Sprachguerilla", die Khaïr-Eddines Markenzeichen ist, die er in jungen Jahren postuliert und in zahllosen Texten selbst praktiziert, angefangen bei Agadir, seinem furiosen Romandebüt, für das er 1967 in Paris den von Cocteau begründeten Prix des Enfants Terribles erhält, scheint der Roman auf den ersten Blick indes weit entfernt.

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Doch wenn er auch die Rückkehr zum Erzählen reflektiert, die mit den 1980ern einsetzt und für seine Generation (man denke an Tahar Ben Jelloun) so überaus typisch ist, so knüpft er doch in den theoretischen Passagen an die Positionen von Souffles (1966-1972) an. Das war jene avantgardistische Literatur- und Kulturzeitschrift, die er mit Laâbi, Nissaboury u.a. gegründet hat und die (bevor sie der Zensur zum Opfer fiel), vehement zur "Entkolonisierung des Bewusstseins" aufrief.

Mit anderen Worten: zur Aufwertung der arabo-berberischen Volkskultur, der der Purismus des arabo-islamischen Mainstreams vielleicht sogar noch stärker zugesetzt hat als die französische Kolonialdominanz.

"Meine Welt ist begraben wie mein Maultier …"

… konstatiert Agoun’chich, bevor er nach Casablanca aufbricht.

Khaïr-Eddine, der sprachmächtige Déterreur, der sich in der Pose des verfemten Dichters gefiel, hat sie als einer der ersten ausgegraben und wieder auferstehen lassen – gegen den öffentlichen Zeitgeist.

Heute ist der poète maudit zur Ikone der Berber-Renaissance avanciert, einer Renaissance, die seit nunmehr fünf Jahren sogar von staatlicher Seite gefördert wird, mit der Gründung des IRCAM, des Institut Royal pour la Culture Amazighe, dem Königlichen Institut für Amazigh-Kultur, das sich ganz im Sinn des Erzählers darum bemüht, einer dreitausendjährigen Kultur den Weg in die globale Zukunft zu ebnen, einer "Kultur, die man wie das Brot und das Wasser mit seinen Reisegefährten teilt."

Regina Keil-Sagawe

© Regina Keil-Sagawe 2006

Der Text wurde vorab auf der Website von Arte veröffentlicht

Mohammed Khaïr-Eddine: Sein letzter Kampf. Eine marokkanische Legende. Aus dem Französischen von Morna Dörr. Verlag Donata Kinzelbach, Mainz 2006. 176 Seiten, € 19,00.

Qantara.de

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