Vom Schlafen so weit entfernt wie vom Wachen

Wie war es in Bosnien, in Sarajevo, und was ist davon geblieben? Dzevad Karahasan schickt "Berichte aus der dunklen Welt", die sich zwischen Erfindung und Wirkichkeit bewegen. Von Yvonne Gebauer

Der bosnische Schriftsteller Dzevad Karahasan; Foto: dpa
Dzevad Karahasan geht in seinem neuen Buch auf eine Reise in die Zwischenwelt von vereinsamten, entwurzelten Menschen.

​​Die Belagerung Sarajevos im Jahr 1992 begann mit der Zerstörung des Orientalischen Instituts und seiner museologischen Sammlung. "Mit der Auslöschung der Vergangenheit beginnt die Barbarei, eine ausgelöschte Geschichte: Erinnerung wird gelöscht", sagt der Autor Dzevad Karahasan.

Seit seiner Flucht 1993 aus Bosnien, seit Beginn seines Exils hat er in seinen Büchern Erinnerungen festgehalten, in denen die zerstörte Stadt immer wieder vermessen wird. Er erzählt von den Schönheiten des Lebens in Sarajevo und der mosaikartigen Buntheit Bosniens, die seit dem Krieg nicht mehr existiert. Er schreibt, wie er sagt "ins Ideale, in die Erinnerung, unter die Schatten".

Ein Fremder in der Nacht

Sein jüngstes Buch "Berichte aus der dunklen Welt" versammelt fünf Prosatexte, die sich auf dem Grenzgebiet zwischen Erfindung und Wirklichkeit bewegen. Der Erzähler ist auf eine Reise gegangen und hat die "dunkle Welt" durchwandert, eine Zwischenwelt von vereinsamten, entwurzelten Menschen, die von Dämmerzuständen heimgesucht werden, "vom Schlaf ebenso weit entfernt wie vom Wachsein".

Dzevad Karahasan hat ihre Geschichten, Erlebnisse und Überlegungen aufgezeichnet. Entstanden ist daraus eine Sammlung von lose zusammenhängenden Berichten über das Leben "in Zeiten der Not und in der Fremde". Was sie verbindet, ist ihr gemeinsamer Fluchtpunkt: das Land Bosnien und dessen Zentrum, die Hauptstadt Sarajevo.

Karahasan erzählt von Menschen, die erlebt haben, wie die Stadt, in der sie den größten Teil ihres Lebens verbracht haben, in der Zerstörung verschwindet - und sie fangen an, daran zu zweifeln, ob sie das Leben, an das sie sich erinnern, tatsächlich gelebt haben. Ihnen kommt die Wirklichkeit abhanden und wird zu etwas Ungreifbarem.

Davon erzählt Emilio, ein bosnischer Exilant in Piacenza, in einem langen Monolog. Es ist ihm nicht gelungen, in seiner neuen Heimat Wurzeln zu schlagen. Als "stranger in the night" führt er ein Leben, das "bequem, leise und tot" geworden ist. Und immer regnet es, der Regen ist nicht auszuhalten. Sosehr er sich bemüht, sich zu erinnern, an konkrete Situationen, an Berührungen oder Gespräche, seine Erinnerungen bleiben "abstrakt, allgemein und unwirklich".

"Sarajevo ist tot, Onkel, nicht du."

Vergebens zerrt ihn seine Nichte therapeutisch-wohlmeinend in ein Konzert der "Rolling Stones", um ihn in seine Jugend zurückzuversetzen und an vergessene Möglichkeiten zu erinnern: "Sarajevo ist tot, Onkel, nicht du." Die Welt zerfällt in Bruchstücke, die Erinnerungen werden von Tag zu Tag blasser, und in Gedanken geht jemand alle Höfe durch, die in den letzten Jahren beim Wiederaufbau des alten Sarajevo vernichtet wurden: "Irgendwo in mir ist bis zum heutigen Tag das Rauschen des Brunnens aufbewahrt,... sind die Schritte auf der Holztreppe noch da, ... hallt das Lachen jenes Mädchens noch nach ..." In fast manischer Präzision rekonstruieren sie ihr Leben, jede kleinste Erinnerung wird verteidigt, wie um sich selbst zu bestätigen, dass die Welt, in der sie gelebt haben, existiert hat.

Die Reise des Erzählers ist auch eine Reise in die Vergangenheit. Die privaten Erinnerungen berühren die historische Erinnerung an die Geschichte Bosniens: "Vorfälle aus der ruhmreichen Vergangenheit meiner Völker, von denen ich nichts wissen und über die ich nicht nachdenken wollte, weil sie zu vieles Unentwirrbares, Unbegreifliches, Bedrohliches und Düsteres enthalten."

Im ehemaligen Konzentrationslager Theresienstadt stößt der Erzähler auf die Spuren von Gavrilo Princip, dem Attentäter von Sarajevo, der 1914 den habsburgischen Thronfolger und dessen Frau erschoss und den Anlass für den Ersten Weltkrieg lieferte. In Istanbul begegnet ihm die Geschichte von Dzelaluddin Ali- Pascha, einem der blutrünstigsten Wesire Bosniens, der seine zärtliche Liebe zu seinem Elefanten nach dessen Tod im Herbst des Jahres 1821 in einer Kalligraphie verewigte: "Auch du, mein Bruder, bist genau wie ich, ein Fremder an diesem Ort."

Die Berichte gleichen einem Puzzle, dessen Teile den imaginären Raum eines immer wieder beschworenen Bosnien und eine erträumte Welt ins Bild setzen. Dem mitreisenden Leser begegnen dabei vor allem Fragen. Danach, wie es um die Darstellung und Erzählbarkeit dieser Welt steht, wenn es "hinter allem Geschriebenen eine ebenso starke, ebenso wichtige Kehrseite gibt, die zu dem Geschriebenen in direktem Widerspruch steht. Wie soll man das aufschreiben?" - So fragt ein bosnischer Student seinen Professor und schickt ihm anstelle einer Seminararbeit über das "innere Sarajevo" zwei Briefe, die von dem Leben an diesem Ort erzählen.

Über die Brücke gelaufen

In diesen Briefen verbirgt sich eine augenfällige Hommage Dzevad Karahasanas an den großen bosnischen Erzähler Ivo Andric, dessen Erzählung "Brief aus dem Jahre 1920" er in einigen Passagen in seinen Text hineingeschmuggelt hat. Für Andric, der den Orient als "das größte Wunder und das größte Grauen" zugleich bezeichnet hat, war der Begriff der "Brücke" - der Titel seines ersten Epos' - Inbegriff seines gesamten Schaffens.

Karahasan, in der Hoffnung, dass "der zuverlässigste Weg zu verborgenen Wahrheiten über die Literatur führt - zu Wahrheiten, die wir suchen oder verstecken möchten", folgt Andric, indem er ein vergangenes Bosnien ausschließlich anhand persönlicher Erinnerungen rekonstruiert. Und sich allen Ansprüchen auf Wahrheit entzieht: Denn "wir wissen es nicht und können es nicht wissen, wir können nur hoffen, dass wir etwas von allem dem begreifen oder zumindest erahnen".

Yvonne Gebauer

© Süddeutsche Zeitung

Dzevad Karahasan: " Berichte aus der dunklen Welt", Insel Verlag, 215 Seiten, ISBN 3458173374

Qantara.de

Filmtipp: "Armin" von Ognjen Svilicic
Bosnischer Stolz und westliches Vorurteil
Filme, die auf dem Balkan spielen, müssen von Krieg und Zerstörung erzählen. Dieses ungeschriebene Gesetz wurde auf der diesjährigen Berlinale durch eine lakonische Tragikomödie in Frage gestellt. In der kroatisch-deutsch-bosnischen Co-Produktion "Armin" haben die Protagonisten ganz andere Sorgen. Ariana Mirza berichtet.

Fortschritt kommt langsam aber sicher
Sarajevo galt in den 1980er Jahren als Symbol des multi-ethnischen Zusammenlebens im sozialistischen Jugoslawien. Am 8. April 1992 begann für die Bewohner der Stadt der Krieg, 43 Monate lang dauerte die Belagerung, die schätzungsweise 10.000 Einwohner das Leben kostete. Wie haben sich Sarajevo, seine Menschen und das kulturelle Leben seitdem verändert? Eindrücke von Zoran Pirolic

Islam in Bosnien-Herzegowina
"Ich bin Muslim - keine Panik!"
Zehn Jahre nach Kriegsende wagt die muslimische Jugend in Bosnien-Herzegowina den Aufbruch. Doch der Westen vertut die Chance, im Islam des Landes eine Brücke zwischen Ost und West und ein Vorbild für Europa zu sehen. Tobias Asmuth berichtet aus Sarajewo.