"Bitte keinen White Saviour-Komplex"

Die Journalistin Waslat Hasrat-Nazimi musste als Kind mit ihrer Familie aus Afghanistan flüchten und ist in Deutschland aufgewachsen. Aus Anlass ihres Buches “Die Löwinnen von Afghanistan” hat sie mit Qantara.de über das Erwachsenwerden zwischen zwei Kulturen, ihren Fokus auf afghanische Frauen sowie den verzerrten medialen Blick auf das Land gesprochen. Ein Interview von Schayan Riaz

Von Schayan Riaz

Frau Hasrat-Nazimi, Sie schreiben am Anfang Ihres Buches, Sie hätten es sich nicht ausgesucht, es zu schreiben. Im Gegenteil, das Buch hätte Sie gefunden. Was meinen Sie damit? 

Hasrat-Nazimi: Von klein auf wollte ich nichts lieber, als nicht aufzufallen. Aber die deutsche Gesellschaft hat mir immer das Gefühl gegeben, dass ich nicht dazugehöre. Dass ich nicht Ur-Deutsch bin. Das zieht sich durch mein ganzes Leben und dazu gehört auch, dass ich als Expertin für mein Ursprungsland, für das Land meiner Eltern gesehen werde. Das kennen viele Kinder aus migrantischen Familien.

Seit dem 11. September 2001, als Menschen endlich etwas mit Afghanistan verbinden konnten, sollte ich mich bitte darüber äußern, was in Afghanistan passiert, was mit dem Islam sei, warum die Frauen dort so aussehen, wie sie aussehen. Irgendwann habe ich dann beschlossen, dass ich mich mit alldem auseinandersetzen muss, dass es nicht ausreicht, einfach die Meinungen meiner Eltern zu übernehmen.

Also habe ich viel gelernt, über die Geschichte des Landes, über marginalisierte Menschen in Afghanistan und ich lerne immer noch. Ich begann, mich mit politischen Themen in Afghanistan auseinanderzusetzen und entschied mich, in meiner journalistischen Arbeit darauf einen Fokus zu legen. Ich habe mehr als ein Jahrzehnt über und aus Afghanistan berichtet.

Einige Wochen nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021 kam der Rowohlt Verlag auf mich zu und hat mich gefragt, ob ich denn ein Buch über Afghanistan schreiben möchte. Obwohl das überhaupt nicht in meinen Zeitplan passte, war es eine gute Möglichkeit, zu Wort zu kommen. 

Cover von Waslat Hasrat-Nazimi "Die Löwinnen von Afghanistan" erschienen bei Rowohlt 2022; Quelle: Verlag
Für ihr Buch hat Waslat Hasrat-Nazimi zahlreiche Interviews mit Afghaninnen hier und im Land geführt. Zusammen mit ihrer eigenen Familiengeschichte gibt sie einen Einblick in den Kampf afghanischer Frauen gegen die systematische Unterdrückung. Sie erzählt von ihren Hoffnungen und Ängsten, von Mut, Verzweiflung und Stärke.

Erwachsenwerden zwischen zwei Kulturen

Sie schreiben über das Erwachsenwerden zwischen zwei Kulturen. Haben Sie durch dieses Buchprojekt die Probleme mit ihrer Identität verarbeiten können? 

Hasrat-Nazimi: Das Buch hat mir auf jeden Fall dabei geholfen, das große Ganze zu sehen. Es hat geholfen, alles in meinem Leben einmal Revue passieren zu lassen, das Schreiben war eine Art Selbsttherapie.

Ich hatte sehr lange mit meiner Identitätsfindung zu kämpfen. Bin ich denn jetzt afghanisch oder deutsch? Aber schon vor dem Buch hatte ich mich entschieden, mich als Afghanin zu sehen.

In Deutschland werde ich sowieso nicht als Deutsche gesehen, auch wenn ich sowohl die afghanische als auch die deutsche Staatsbürgerschaft habe. Auch wenn ich in Afghanistan nicht als lokale Einheimische gesehen werde, bin ich dort dennoch akzeptiert. Ich fühle mich als eine von ihnen.



All diese Fragen konnte ich mit dem Buch verarbeiten. Viel akuter war aber für mich die Auseinandersetzung mit der Machtübernahme der Taliban vor einem Jahr, die für mich sehr traumatisierend oder retraumatisierend war.

Denn dadurch musste ich mich erneut mit meiner eigenen Flucht aus Afghanistan auseinandersetzen.   

Sie nennen die afghanischen Frauen "Löwinnen“. Was hat es mit dieser Bezeichnung auf sich? 

Hasrat-Nazimi: Anfangs hatte ich große Vorbehalte, weil der Titel auf den ersten Blick romantisierend wirkt. Werden hier wieder Frauen exotisiert? Aber ich erkläre im ersten Kapitel des Buches, was diese Beschreibung bedeutet, was es für das kollektive Bewusstsein von Afghanen bedeutet, sich als "Löwen“ zu bezeichnen und welche Symbolik dahintersteckt.

Sogar Ex-Präsident Hamid Karzai hat mal in einer Rede gesagt, dass wir doch "Löwen“ seien. "Wir Löwen schaffen alles“, mit solchen Aussagen erreicht man in Afghanistan viele Menschen auf emotionaler Ebene. Gleichzeitig geht es aber bei solchen Aussagen immer um die männliche Form. Auch Frauen werden "Sher“ genannt, obwohl der korrekte Begriff "Sher zan“ ist. Ich wollte im Deutschen mit "Löwinnen“ den Spieß umdrehen, damit es ausschließlich um Frauen geht. 

Was hat Sie beim Schreiben über die "Löwinnen“ Afghanistans am meisten überrascht? 

Hasrat-Nazimi: Erst einmal war die Recherche gar nicht so einfach, weil es einfach so viele unterschiedliche Frauen gibt, Frauen unterschiedlicher Ethnien, Religionen, sozialer Herkunft und mit unterschiedlichen Lebensentwürfen. Meine Devise war es, auch Frauen zu porträtieren, mit denen ich nicht übereinstimme.

Was mich überrascht hat, war die Frauenfeindlichkeit unter Frauen. In diesem Ausmaß hatte ich nicht damit gerechnet. Ich fragte beispielsweise mal eine Frau, ob sie Kinder habe. Sie verneinte das, weil alle ihre Söhne verstorben waren, aber ihre Töchter hatte sie gar nicht mitgezählt. Für sie zählten die Mädchen gar nicht. Solche frauenfeindlichen Einstellungen ziehen sich durchs ganze Land. Oft werden Frauen nicht einmal als Personen gesehen.  

Mädchenbildung - unter den Taliban umstritten

Es hat mich überrascht, dass einige Frauen auch nach der Machtübernahme der Taliban ohne Einschränkungen arbeiten können. Wie ist das möglich? 

Hasrat-Nazimi: Es gibt Regionen und Städte, in denen Frauen weiterhin zur Arbeit und zur Schule gehen können. Es gibt auch private Schulen für Mädchen nach der 6. Klasse. Ob die Mädchen zur Schule gehen dürfen oder nicht hängt davon ab, welche Taliban-Gruppe an einem Ort herrscht. Das zeigt, dass die Taliban untereinander sehr große Differenzen haben. Als ich mein Manuskript abgeschlossen habe, war es bereits abzusehen und jetzt ist es total offensichtlich, dass die Taliban keine gemeinsame Linie fahren, dass es erhebliche interne Machtkämpfe gibt.

Mädchen an der Schultafel in Afghanistan; Foto: Zohra Bensemra/Reuters
Umstrittene Mädchenbildung: "Die Taliban sind sich nicht einig darüber, was Schulbildung von Mädchen nach der 6. Klasse angeht,“ sagt Waslat Hasrat-Nazimi. "Einige Taliban finden Bildung nach der 6. Klasse gut, andere sind dagegen. Grundsätzlich sind die Gelehrten in der afghanischen Gesellschaft für Mädchenbildung, aber die Taliban sind sich untereinander nicht einig. Mädchenbildung ist jedoch nicht das einzige Thema, bei dem die Taliban keine einheitliche Linie verfolgen. Wenn es so weitergeht, wird es irgendwann zwangsläufig knallen.“  

Ich gehe davon aus, dass diese Machtkämpfe noch zunehmen werden. Die Taliban sind sich nicht einig darüber, was Schulbildung von Mädchen nach der 6. Klasse angeht. Einige Taliban finden Bildung nach der 6. Klasse gut, andere sind dagegen. Grundsätzlich sind die Gelehrten in der afghanischen Gesellschaft für Mädchenbildung, aber die Taliban sind sich untereinander nicht einig. Mädchenbildung ist jedoch nicht das einzige Thema, bei dem die Taliban keine einheitliche Linie verfolgen. Wenn es so weitergeht, wird es irgendwann zwangsläufig knallen.  

Sie leiten die Afghanistan-Redaktion der Deutschen Welle und auch Ihre Kollegen mussten letztes Jahr nach der Machtübernahme der Taliban aus Afghanistan evakuiert werden. Wie geht es Ihren Mitarbeitern heute?  

Hasrat-Nazimi: Die Familien und ehemaligen Korrespondenten haben sich inzwischen in Deutschland eingelebt, ihre Kinder sprechen die Sprache, einige sind sogar Klassenbeste geworden, was ein tolles Ergebnis ist. Aber natürlich ist es nicht so einfach. Als Korrespondenten hatten sie ein ganz anderes Arbeitsumfeld. Hier im Hauptsitz des Senders sitzen sie von 9 bis 17 Uhr am Schreibtisch, in Afghanistan waren sie als Korrespondenten nur unterwegs. Diese Umstellung fällt ihnen sehr schwer. Auch der Statusverlust ist für viele nicht leicht zu verkraften. 

Die Berichterstattung ist entwürdigend

Sie schreiben in Ihrem Buch, wie deutsche Medien über Afghanistan berichten, wer die Deutungshoheit hat und dass nur wenige afghanische Stimmen zu hören sind. Hat sich das seit der Machtübernahme der Taliban im letzten Jahr gebessert?  

Hasrat-Nazimi: Wie in den Medien über Afghanistan berichtet wird, ist weiterhin entwürdigend. Die Politiker sagen etwas, die Medien greifen das auf, das Eine bedingt das Andere. Es ist einfach, sich keine Gedanken über die eigene Verantwortung zu machen. Aber Deutschland und der Westen tragen eine Verantwortung dafür, dass die Taliban heute an der Macht sind. Aber mittlerweile haben sich alle damit abgefunden.

Die Journalistin Waslat Hasrat-Nazimi leitet die Afghanistan-Abteilung der Deutschen Welle;  Foto: Julia Sellmann
Die Menschen in Afghanistan werden als Spielball missbraucht. So etwa bewerte der Westen die Taliban so, wie es ihm gerade politisch passt. "Ich frage mich, ob man überhaupt merkt, dass es hier um Menschenleben geht,“ fragt Waslat Hasrat-Nazimi. "Die Mehrheit der Bevölkerung leidet an Hunger, 95 Prozent der Afghaninnen und Afghanen hat nicht genug zu Essen. Aber das berührt uns hier in Deutschland gar nicht.“ Wer sich für das Schicksal Afghanistans interessiert, solle zunächst mal seine Klischees über das Land hinterfragen.

Nach 2001, als der Petersberger Prozess begann, hatten die Afghanen gefordert, auch die Taliban mit an den Verhandlungstisch zu holen. George Bush hatte das damals nicht zugelassen mit der Begründung, er würde nicht mit Terroristen sprechen.



Komisch, jetzt sind genau diese Terroristen in Kabul an der Macht. Das sind neo-koloniale Verhältnisse: Heute sind die Taliban schlimm und man muss sie bekämpfen und morgen sind sie es nicht mehr.

Wie die Taliban zu bewerten sind, wird von außen entschieden. Aber im Endeffekt sind es doch die Menschen vor Ort, die unter der Situation leiden. Sie werden als Spielball missbraucht. Ich frage mich, ob man überhaupt merkt, dass es hier um Menschenleben geht.

Die Mehrheit der Bevölkerung leidet an Hunger, 95 Prozent der Afghaninnen und Afghanen hat nicht genug zu Essen. Aber das berührt uns hier in Deutschland gar nicht. 

Wie kann man sich denn konkret für Afghanistan einsetzen? 

Hasrat-Nazimi: Zuerst einmal kann man sich informieren. Man muss das eigene Narrativ, die Klischees im Kopf und die eigenen Rassismen hinterfragen. Was habe ich eigentlich für ein Bild von den Menschen im Kopf und warum berührt mich ihr Schicksal so wenig?

Wenn man sich als Feministin oder Feminist bezeichnet, dann kann man nicht mit dem einverstanden sein, was in Afghanistan passiert. Denn was dort passiert, kann auch hier passieren. Ich bin überhaupt kein Fan von dem Begriff "Talibanisierung“, weil er realitätsverzerrend ist, aber wir sehen in Afghanistan, wie schnell Frauenrechte zurückgedreht werden können.

Deswegen kann ich nicht verstehen, warum man so tut, als ob Afghanistan so weit weg wäre. Wir brauchen uns nichts vorzumachen, das Land wird wieder zu einem Hafen für Terroristen werden und dann werden wir uns hier fragen, wie es so weit kommen konnte.



Wir müssen Afghanistan jetzt unterstützen, den Menschen auf Augenhöhe begegnen, ohne einen "White Saviour-Komplex“ bitte, auch das erlebe ich leider sehr oft bei weißen Menschen. Ich möchte nicht, dass man Dank für Hilfe verlangt. Zu helfen ist doch das Menschlichste, was man tun kann.  

Schayan Riaz

© Qantara.de 2022

Waslat Hasrat-Nazimi leitet die Afghanistan-Redaktion der Deutschen Welle. Von ihr ist erschienen: "Die Löwinnen von Afghanistan“, Rowohlt Verlag 2022