Wenn Realität und Fantasie verschwimmen

Hassan Blasims experimentelles Romandebüt "God 99“ bietet eine eindringliche Erfahrung aus Leid und Begeisterung, Wut und Abscheu. Er erzählt 99 Geschichten von Menschen, deren Leben durch Krieg und Zertreibung geprägt wurden. Geschichten die versuchen, den Härten eines Lebens im Exil die Kraft der Literatur entgegenzusetzen. Eine Rezension von Marcia Lynx Qualey

Von Marcia Lynx Qualey

Der Protagonist dieses experimentellen Debütromans ist "Hassan Owl, ein im Irak geborener Tierarzt und Schriftsteller, der jetzt in Finnland lebt. Hassan Owl ist nicht das genaue Alter Ego seines Autors, aber vielleicht doch eine Art verzerrtes Selbstbild. Zum Auftakt des Romans erhält Hassan Owl von den Finnen ein Stipendium mit dem Auftrag, einen Blog zu schreiben. Er nennt ihn God 99. Doch anstatt sich den 99 Namen eines allmächtigen Gottes zu widmen, wie sie die islamische Tradition kennt, erzählt Hassan Owl die Geschichten von 99 besonders verwundeten Menschen.

God 99 ist zwar Blasims erster Roman, doch der Autor hat sich bereits mit Kurzgeschichten einen Namen gemacht. Seine Werke wurden bisher in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt. Im Jahr 2010 schaffte er es mit seinem Erzählband Madman in Freedom Square, übersetzt von Jonathan Wright, auf die Longlist des International Foreign Fiction Prize (IFFP). Die darauffolgende Kurzgeschichtensammlung, ebenfalls in der Übersetzung von Wright, wurde mit dem IFFP ausgezeichnet. Darüber hinaus ist Hassan Blasim Autor von Theaterstücken und Filmdrehbüchern.

God 99 verwebt Merkmale all dieser Genres miteinander. Was der Protagonist im Roman über sein Werk sagt, könnte auf den Autor selbst zutreffen: "Seit langem hege ich den Verdacht, dass ich lediglich eine Collage von unterschiedlichen Techniken zusammenstelle, die ich hier und da aufgeschnappt habe. Bis auf die Details gibt es nichts wirklich Neues.“

Das mag so sein, aber genau diese Details machen die Lektüre von God 99 oft atemberaubend. Das Buch lebt vor allem von den darin geführten Gesprächen. Ein weiteres zentrales Thema sind die Briefe, die der Erzähler und seine kranke Freundin A.M., die gerade den Roman Dasein als Versuchung des rumänischen Philosophen Emil Cioran übersetzt, austauschen.

Obwohl den Briefen ein Urheber zugeschrieben wird, verschwimmt im Roman stets die Grenze zwischen Fakten und Fiktionen. Blasim hat den Roman seinem Freund Adnan al-Mubarak gewidmet. Die Briefe zwischen den Beiden bilden offensichtlich "die Grundlage für die Korrespondenz in diesem Buch“.

Cover von Hassan Blasims "God99" (erschienen bei Comma Press)
Blasim deliberately intertwines his own biography with Owl’s experiences. Stories spill into one another, while truth and invention become increasingly blurred: "I can no longer tell the difference between my real life and my imagined life"

Ein literarischer Parkour

Eine zweite Gesprächsebene umfasst die diversen Interviews zu God 99, die in den Roman eingeflochten sind. Oft sind sie im Frage-Antwort-Stil gehalten – als ob wir die Mitschrift von Interviews mit dem Erzähler lesen würden. So stellt sich das Gefühl einer unmittelbaren Begegnung ein – ganz so als säßen auch wir dort und hörten zu, wie sich die Geschichte entfaltet.

Wie der Protagonist Hassan Owl erklärt, soll der Blog God 99 kein ausgefeiltes literarisches Werk sein. Stattdessen solle er "ungefähr den gleichen Rhythmus haben wie die zusammengewürfelten Geschichten meines Onkels“. Die Geschichten hatte sein Onkel einst im Irak in Radiosendungen der BBC mitgehört.



Doch sein Onkel konnte sie leider nur bruchstückhaft verstehen, weil das irakische Regime den Sender immer wieder gestört hat. Sein Onkel lauschte also den Schnipseln dieser Geschichten und erzählte sie den anderen Kaffeehausbesuchern weiter.

Die dritte Ebene bilden die Gespräche zwischen Hassan Owl und den Finnen, eingebettet in Briefe und Interviews. Sie kommen mit einem leicht spöttischen Unterton daher, etwa wenn Hassan mit sich selbst die Wette eingeht, dass ihn sein finnischer Sitznachbar im Flugzeug gleich fragen wird, ob er ein religiöses Buch lese. Und tatsächlich: "Kaum sind wir über den Wolken, sagt der Finne: 'Arabisch ist eine schöne Sprache. Ist das der Koran?'“

Doch Owl mag die Finnen. Er hat ein raues aber herzliches Verhältnis zu ihnen. All diese unterschiedlichen Gespräche ergeben zusammen eine wunderbare Kakophonie.

Der finnische Übersetzer Sampsa Peltonen vergleicht den Roman mit einem Parkourlauf – einer urbanen Sportart, die aus dem Training für militärische Hindernisläufe entstanden ist. Wie beim Parkour üblich, folgt der Roman keinen Regeln.

"Nicht alles ergibt Sinn, Sätze überschneiden sich, es gibt Fehler, manchmal scheint ein Handlungsstrang abzubrechen, nur weil Hassan es leid ist, ihn zu erzählen, und ihm schon eine neue Idee gekommen ist“, sagt Peltonen. "Aber so wie ein Parkourlauf schön anzusehen ist und einem urwüchsigen elementaren Tanz gleich, so raubt uns Blasims Text bisweilen den Atem vor unerwarteter Schönheit[.]“

Tausendundeine Geschichte

In einem Roman mit so vielen verschachtelten Geschichten ist es vielleicht unvermeidlich, dass auch Scheherazade auftaucht.  Wie bei der Hauptfigur aus Tausendundeiner Nacht sind es Geschichten, die Hassan Owl das Leben retten. Literatur, so sagt er, sei eine "magische, betäubende Medizin“.

Hassan Owls Jugendfreund Habib denkt sogar, dass Geschichten töten könnten. Er selbst wurde damit beauftragt, eine alte Frau aus dem Weg zu räumen, deren Sohn das Land der Familie verkaufen will. Doch Habib bringt es nicht fertig, die alte Frau einfach zu töten. Mit Hassans Hilfe, so sein Plan, könne er die alte Frau mit einer Geschichte zu Tode erfreuen.

"Ich will Geschichten, die wie Heroin sind“, sagt Habib zu Hassan Owl. "Dazu braucht es nur einmal eine Überdosis.“

Doch die alte Frau kommt Habib auf die Schliche. Alia, so erfahren wir, war unter dem Pseudonym A.M. selbst Übersetzerin und Schriftstellerin. Irgendwann ist sie es leid, sich als kauzige alte Frau auszugeben. Sie schreibt Hassan und sagt ihm, wie sehr ihr seine Geschichten gefallen. In einer der vielen Wendungen des Romans stirbt der junge Habib bei der Explosion einer Autobombe vor Alia.

Hassan Owl, so erfahren wir, dachte oft daran, sein Projekt God 99 aufzugeben. Aber, so verrät er, "Alia würde das Feuer in mir am Brennen halten, mit ihren E-Mails als Brennholz.“



Der Mantel von Gogol und das Warten auf Godot

Das Buch dreht sich immer wieder um sich selbst und kehrt zurück an den Anfang, um neue Details über die Figuren und ihre Geschichten zu enthüllen. Schließlich kommt es auf Hassans Onkel zurück. Unter Einsatz seiner letzten Mittel reist unser Erzähler nach Kairo, um seinen verschollenen Onkel – den Geschichtenerzähler – zu suchen. Hinweise führen ihn bis zu den geheimen Tunneln zwischen Ägypten und Gaza. Allerdings endet der Roman nicht damit, dass Hassan seinen Onkel findet. Vielmehr kommt es zu einem letzten Austausch mit A.M., die spürt, dass sie dem Tod nahe ist.

Nicht zuletzt wegen der Korrespondenz mit A.M. finden sich im Roman zahlreiche literarische Anspielungen. Allein auf den letzten Seiten kommen Italo Calvinos Roman Herr Palomar von 1983, László Krasznahorkais Satanstango sowie der antike Komödiendichter Aristophanes und der Geist des Schriftstellers Nagib Mahfuz ins Spiel.

Überlagert wird all dies von Sarkasmus, Gewalt und Verzweiflung. Dieses Buch kann eine Geschichte über eine verstopfte Toilette ebenso erzählen wie eine Geschichte über die Unendlichkeit des Kosmos. Das ist einer der vielen Reize dieser literarischen Reise. Wie Alia Hassan erzählt: "Eigentlich gibt es keinen wesentlichen Unterschied zwischen Akakij Akakijewitsch, dem Helden Nikolai Gogols, dem der Mantel gestohlen wurde, und den Männern, die vergebens auf Godot warteten.“

Hassan Owl ist ebenso Atheist und Mystiker wie grimmiger Realist und experimenteller Denker. Jede seiner Geschichten aus God 99 könnte für sich genommen ein banales Leben abbilden. Doch zusammengenommen bilden sie eine andere Art von Heiligem - aus pulsierenden, schäbigen und wunderschönen  Details.

Marcia Lynx Qualey

© Qantara.de 2021

 

Aus dem Englischen übersetzt von Peter Lammers