Der saudische Schattenregent

Ist er Reformer oder Gewaltherrscher oder beides? Ben Hubbards ausführliche Biografie erkundet Mohammed bin Salmans Herrscherstil. Moritz Baumstieger hat das Buch gelesen.

Von Moritz Baumstieger

Um die politische Biografie eines gerade mal 34-Jährigen abzuhandeln, mag ein Buch mit 384 Seiten recht umfangreich erscheinen - vor allem, wenn sich die Person erst eine halbe Dekade in der Nähe der Macht bewegt.

Dennoch kann man nicht sagen, dass Ben Hubbard, der Leiter des Beiruter Büros der New York Times, sein Werk über Mohammed bin Salman vorschnell verfasst hätte. Zum einen, weil der junge Kronprinz Saudi-Arabiens in fünf Jahren mit mehr Aufsehen erregenden Entscheidungen in die Schlagzeilen drängte als andere Monarchen in ihrer gesamten Regierungszeit.

Zum anderen, weil er als künftiger Regent der Regionalmacht aller Voraussicht nach noch sehr viel Zeit für spektakuläre Entschlüsse hat, die den Nahen Osten auf Jahrzehnte prägen werden. Und selbst wenn der "MbS" abgekürzte Kronprinz von seinen heute oft impulsiven Entscheidungen zu einem ruhigerem Regierungsstil finden sollte: Sein Handeln als absoluter Monarch des größten, reichsten und wichtigsten Golfstaats wird immer in Bezug zu seinem politischen Kaltstart seit 2015 stehen.

Wegbereiter für tiefgreifende Veränderungen

"The Rise to Power of Mohammed bin Salman" (bisher liegt das Werk nur auf Englisch vor) enthüllt keine bisher unbekannten politischen Skandale des Kronprinzen. Da Hubbard sich auf seine Eindrücke aus vielen Reisen ins Königreich und auf Gespräche mit Saudis verschiedenster Gesellschaftsschichten stützen kann, gelingt es ihm vielmehr, die schon bekannten schlagzeilenträchtigen Ereignisse umfassend zu beleuchten und einzuordnen - und das sind ja einige.

Buchcover Ben Hubbard: MbS - The rise to power of Mohammed bin Salman, HarperCollins Publishers, Glasgow 2020
Die Schattenregentschaft von Mohammed bin Salman zeigt, dass Modernisierung ohne Demokratisierung letztlich hohl bleibt. Der junge Thronfolger mag seinen Untertanen ein paar Reformen geschenkt haben. Weil er jedoch darauf besteht, dass das Königshaus der einzige Motor der Veränderung sein darf, ist der Preis, dass die saudische Gesellschaft an der Paranoia eines Überwachungsstaats zu kranken beginnt.

Vor allem aber bringt sein Buch die beiden so widersprüchlich erscheinenden Wesenszüge des jungen Kronprinzen zusammen: Auf der einen Seite ist da der dynamische Modernisierer, der überkommene Traditionen über Bord wirft. "Mit einem einzigen königlichen Dekret", schreibt Hubbard, "hat MbS die Kleriker geschwächt und den Weg für tief greifende Veränderungen frei gemacht".

Begleitet von großen PR-Kampagnen kam Wandel ins knochenkonservative Königreich: Frauen durften endlich Auto fahren, Kinos und Konzerte galten plötzlich als kompatibel mit Abaya und Qamis, den traditionellen saudischen Gewändern.

Die zwei Gesichter des Mohammed bin Salman

Gleichzeitig jedoch hat sich MbS in kürzester Zeit den Ruf eines unberechenbaren Gewaltherrschers erworben, der Rivalen kaltstellen lässt, wie etwa Ende 2017, als MbS mehr als 300 Prinzen, Politiker und Geschäftsleute wochenlang in einem Luxushotel einsperrte.

Der sich spontan zu waghalsigen Manövern wie einer Intervention in Jemen hinreißen lässt, der den zu Besuch weilenden Premier des Libanon festsetzt und vor laufenden Kameras zum Rücktritt zwingt.

Der Kritiker wegsperren oder horrorfilmreif ermorden lässt, wie etwa Jamal Kashoggi. Die Entwicklung, die dazu führte, dass dessen Leiche im Istanbuler Konsulat des Königreichs mit einer Kettensäge zerlegt wurde, zeichnet Hubbard besonders eindrücklich nach.

Er zitiert ganze Passagen seines SMS-Verkehrs mit einer Unterstützerin, die sich schon lange vor Oktober 2018 besorgt um Kashoggi zeigte, sollte der im Exil Lebende jemals ein saudisches Konsulat betreten.

Dass MbS einmal die Nachrichtenlage mit solchen Manövern weltweit diktieren würde, war selbst für Kenner der königlichen Familie nicht abzusehen. Hunderte Prinzen konkurrierten darum, die Macht in die dritte Generation zu überführen, die Staatsgründer Abdulaziz al-Saud aufgebaut und die nach seinem Tod 1953 seine Söhne untereinander weitergereicht hatten.

Einige Aspiranten unter den Prinzen heute taten sich mit einer Karriere im Militär hervor, andere flogen ins Weltall, wieder andere managten Firmen, viele studierten an renommierten Hochschulen im Ausland. Auf MbS traf nichts davon zu.

Und trotzdem sollte plötzlich er derjenige sein, der als Verteidigungsminister die Luftwaffe des Königreiches in ihren ersten wirklichen Kriegseinsatz führte. Der sich von einer Armee teurer Unternehmensberater eine "Vision 2030" basteln ließ, die Saudi-Arabien unabhängig von den Öleinnahmen machen sollte. Der es in den USA zuerst wagte, Präsident Barack Obama vor Publikum zu belehren und später auf Tournee von Küste zu Küste ging, um mit den Eliten Washingtons, Hollywoods und des Silicon Valleys Selfies zu schießen.

Mahnwache für den ermordeten saudischen Dissidenten Jamal Khashoggi; Foto: picture-alliance/AA.
Schonungslose Restrukturierung der saudischen Monarchie auf Kosten der Menschenrechte: MbS hat sich in kürzester Zeit den Ruf eines unberechenbaren Gewaltherrschers erworben, der Rivalen kaltstellen lässt, wie etwa Ende 2017, als MbS mehr als 300 Prinzen, Politiker und Geschäftsleute wochenlang in einem Luxushotel einsperrte. Oder der Kritiker wegsperren oder horrorfilmreif ermorden lässt, wie etwa Jamal Kashoggi.

Absolute Monarchie als Demokratie mit nur einer Stimme

"Eine absolute Monarchie ist im Grunde eine Demokratie mit nur einer Stimme", schreibt Hubbard, "und MbS bekam die seines Vaters, die einzige, die zählt". Als der nach Berichten bereits damals Anzeichen von Demenz zeigende Vater Salman 2015 den Thron bestieg, rühmte Mohammed sich, binnen der ersten zehn Tage der Regentschaft "die gesamte Regierung restrukturiert" zu haben.

Er baute den königlichen Hof so um, dass er es war, der über den Zugang zum Vater bestimmte - und seine Position somit immer weiter festigte. Wo bisher ein informeller Rat der Königsfamilie gemeinsam Entscheidungen traf oder auch gerne aufschob, wenn sich kein Konsens finden ließ, galt nun das Wort eines relativ unerfahrenen jungen Mannes, der keine Gegenrede akzeptiert.

Mohammed bin Salman sieht in dieser Machtkonstellation einen Vorteils für sein Land: "Der schnelle Wandel, den ein absoluter Monarch in einem Schritt bringen kann, würde in einer traditionellen Demokratie zehn Schritte erfordern", zitiert Hubbard einen Satz, den der Kronprinz in einer informellen Runde in den USA gesagt haben soll.

Bisher jedoch, das wird in Hubbards Buch von Seite zu Seite deutlicher, steht die Schattenregentschaft von Mohammed bin Salman für eine andere Dynamik: Sie zeigt, dass Modernisierung ohne Demokratisierung letztlich hohl bleibt. Der junge Thronfolger mag seinen Untertanen ein paar Reformen geschenkt haben. Weil er jedoch darauf besteht, dass das Königshaus der einzige Motor der Veränderung sein darf, ist der Preis, dass die saudische Gesellschaft an der Paranoia eines Überwachungsstaats zu kranken beginnt.

Moritz Baumstieger

© Süddeutsche Zeitung 2020