Durchbruch oder Abbruch?

Nach zwei Jahren Stillstand in den Beitrittsgesprächen zwischen der EU und der Türkei wird dieses Jahr wohl darüber entscheiden, in welche Richtung die Verhandlungen gehen. Daniela Schröder analysiert die möglichen Szenarien.

EU Kommissionspräsident Barroso und der türkische Ministerpräsident Erdogan; Foto AP
Angesichts der stockenden Verhandlungen über einen türkischen EU-Beitritt mahnen die Europäische Union und die Türkei gegenwärtig zur Eile.

​​Normalerweise ist das kurze Wort im Alltag geläufig, in der Politik jedoch selten und gewichtig. "Dringend" müsse die Türkei ihre Beziehungen mit Zypern normalisieren, forderten unlängst die Außenminister der Europäischen Union.

Bisher war die Formulierung schwammig, jetzt klingt es wie eine Fristsetzung. Für den EU-Beitrittsprozess der Türkei dürfte das Jahr 2009 daher entscheidend werden: Sollte Ankara die Probleme mit Zypern bis Ende des Jahres nicht gelöst haben, könnte Brüssel die Verhandlungen unterbrechen. Sie danach wieder in Gang zu bringen, gilt als nahezu unmöglich.

Prüfstein Zypern

"Die Türkei geht in ein kritisches Jahr, in dem ihre Aussichten auf EU-Mitgliedschaft an den Punkt 'Durchbruch oder Abbruch' gelangen", warnen die Politikexperten der "International Crisis Group" (ICG). Ein Aussetzen der Beitrittsverhandlungen wäre fatal, denn einer Wiederaufnahme müssten alle 27 EU-Staaten zustimmen. Doch die Meinungen über ein mögliches EU-Mitgliedsland Türkei klaffen nach wie vor weit auseinander.

Dass der türkische Premier Recep Tayyip Erdogan jüngst bei seinem Besuch in Brüssel ungeschickt die Energiekarte ausspielte, kam bei seinen Gastgebern sehr schlecht an. Erdogan hatte gewarnt, dass Ankara sich beim Nabucco-Projekt quer stellen könne.

Für die EU spielt der Bau der Gaspipeline als Alternative zur Gasversorgung aus Russland eine zentrale Rolle. Der Chef der EU-Kommission reagierte auf Erdogans Aussage denn auch mit klaren Worten: Beitrittsgespräche und Energiesicherheit seien zwei verschiedene Paar Schuhe, sagte José Manuel Barroso, und schnell nahm Erdogan die Drohung zurück.

Zollunion als Stolperstein

Weil Ankara sich anhaltend weigert, Schiffe und Flugzeuge des EU-Mitglieds Zypern in die türkischen Häfen und Flughäfen zu lassen, froren die EU-Regierungen im Dezember 2006 die Gespräche zur Übernahme des europäischen Regelwerks in wichtigen Handels- und Wirtschaftsfragen ein.

So lange die Türkei das Zollabkommen mit der EU nicht komplett umsetzt, liegen die Verhandlungsbereiche auf Eis. Zudem werden bereits gestartete Gespräche erst abgeschlossen, wenn die Türkei das so genannte Ankara-Protokoll erfüllt.

Die türkische Regierung macht das Öffnen der Häfen von den Verhandlungen über eine Wiedervereinigung Zyperns abhängig. Die EU will sich aus dem Streit um das Anerkennen der griechisch-zypriotischen Regierung als der einzig legitimen auf der Insel heraus halten.

Dimitris Christofias (rechts) mit dem türkisch-zyprischen Führer Ali Talat in Nikosia
Friedensverhandlungen mit ungewissem Ausgang: Treffen des zyprischen Präsidenten Dimitris Christofias (rechts) mit dem türkisch-zyprischen Führer Ali Talat in Nikosia im September 2008

​​ Mit Zypern als Mitgliedsland kann die Union keine neutrale Vermittlerrolle mehr spielen – was vielen EU-Staaten ohnehin gut passt, schließlich liefert der Zankapfel Zypern ein Argument, mit dem sich ihr Widerstand gegen einen Beitritt der Türkei sachlich untermauern lässt.

Kommen Ankara und Nikosia bis Ende des Jahres nicht zu einer Lösung, dann werden die Beitrittsgegner unter den 27 EU-Staaten die Chance nutzen, um eine Grundsatzdebatte über den größten und umstrittensten Kandidaten Türkei zu beginnen, meint ICG.

"Sollte eine europäische Regierung die Suspendierung der Beitrittsverhandlungen fordern, dann scheint derzeit die Gefahr besonders groß, dass auch das Folgen haben könnte", warnt ICG-Experte Hugh Pope.

Beitritt in immer weiterer Ferne

Bisher hat die EU keine eindeutige Position zur Türkei bezogen. Seit Oktober 2005 verhandelt sie mit Ankara über einen Beitritt, der vor 2020 jedoch als unwahrscheinlich gilt. Die Vollmitgliedschaft ist zwar das offizielle Ziel der Gespräche, automatisch zum EU-Mitglied wird das muslimisch geprägte Land jedoch auch dann nicht, wenn es alle Kriterien erfüllt.

Denn ob die EU die Aufnahme wirtschaftlich und politisch verkraften kann, vor allem aber, ob sie es überhaupt will, das wird am Ende der Verhandlungen ebenfalls eine Rolle spielen. Vor keinem anderen Mitgliedskandidaten hat die EU solche Hürden aufgebaut, bei keinem anderen wandelte die Union eine politische Entscheidung in einen offenen Prozess um.

Eine verlogene Haltung, heißt es sogar in Brüsseler Diplomatenkreisen. Dass die EU nach wie vor keinen Klartext rede, stärke vor allem die anti-europäischen Kräfte in der Türkei. Auch das Ausbleiben von Reformen, die die EU fordert, liege zum Teil an der Unverbindlichkeit der Europäer.

In den vergangenen drei Jahren hat die Regierung Erdogan ihren Reformeifer verloren und sich stattdessen mit innenpolitischen Problemen beschäftigt. Weil die EU-Staaten ohnehin gegensätzliche Signale senden, rutschte das Projekt Europa auf Ankaras Aufgabenliste immer weiter nach unten.

Neuen Schwung für den Dialog

Entscheidend für die Stimmung in Brüssel werde nun sein, ob Erdogan nach den Kommunalwahlen im März die Reformen wieder voran treibe, sagt der niederländische Europaparlamentarier Joost Lagendijk (Grüne), ein Kenner der Beitrittsgespräche.

Plakat von Gegnern eines EU-Beitritts der Türkei; Foto: AP
Hitzige Debatten und wachsender politischer Widerstand der konservativen Parteien in Europa gegen einen möglichen EU-Beitrittskandidaten Türkei

​​ Dass in Ankara ein Europaminister die Arbeit aufgenommen hat, lässt die Beitrittsbefürworter in der EU hoffen. Darunter auch Schweden, das seine EU-Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte dazu nutzen will, neuen Schwung in den Dialog mit Ankara zu bringen.

In den Ende 2008 vorgelegten Türkei-Berichten drängten EU-Kommission und Europaparlament erneut darauf, die seit Jahren versprochene Verfassungsreform endlich in Gang zu bringen. Auch in den Bereichen Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit und in der Kurdenfrage sieht die EU "Stillstand statt Fortschritt", so Erweiterungschef Olli Rehn.

Harter aber fairer Kurs

Der finnische EU-Kommissar fährt in Sachen Türkei einen harten aber fairen Kurs. Gegebene Versprechen werden nicht gebrochen, betont Rehn immer wieder, zudem sei die EU kein christlicher Club. Einen "Rabatt bei den Beitrittskriterien" jedoch werde die Türkei auch für ihre Rolle in der Sicherheitspolitik Europas nicht bekommen.

Im jüngsten Zeugnis der Kommission steht die strategische Bedeutung der Türkei erstmals im Vordergrund. Ankaras Anstrengungen in den Kaukasus- und Nahostkrisen haben den Europäern gezeigt, dass sie beim Verhindern und Lösen von Konflikten in der Nachbarschaft nicht auf die Türkei verzichten können.

Auch wegen des Widererstarken Russlands in der Weltpolitik und aufgrund der zunehmend bedeutenderen Rolle für die Energieversorgung und Energiesicherheit Europas will die EU die Türken nicht verlieren.

Wirtschaftlich sind beide Seiten voneinander abhängig. Für die Türkei haben sich die Beitrittsaussichten als Stabilitätsanker erweisen, und die Finanzkrise hat deutlich gemacht, dass die Zukunft des Landes als Handelspartner und Investitionsstandort untrennbar mit der EU-Perspektive verknüpft ist.

Konkurrenz auf dem europäischen Arbeitsmarkt

Für die EU ist es gerade auf längere Sicht entscheidend, den Wachstumsmarkt Türkei an sich zu binden, um im Wettbewerb mit den boomenden Wirtschaftsnationen in Asien nicht den Kürzeren zu ziehen. "Die EU wird von den jungen, eher gut ausgebildeten Arbeitskräften der Türkei profitieren", betont Kommissar Rehn.

Doch viele Bürger Europas befürchten, dass eine EU-Mitgliedschaft des großen Landes die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt verschärfen werde. Rehn hat daher bereits angekündigt, dass die Mitgliedsstaaten sich befristet oder dauerhaft gegen den Zuzug türkischer Arbeiter sperren dürfen.

"In der EU brauchen wir nicht nur die Unterstützung der Regierungen", sagte Barroso nach seinem Treffen mit Erdogan. "Wir müssen auch die öffentliche Meinung in der EU für eine türkische Mitgliedschaft gewinnen."

2009 wird nicht nur für den Ablauf der bürokratischen Verhandlungen entscheidend sein. Im Juni stehen die Wahlen des neuen Europaparlaments an, und im Oktober wählt Deutschland. Europas Politiker orientieren sich in ihrer Politik in erster Linie an den Ängsten der Wähler.

Der EU-Abgeordnete Lagendijk rät der Türkei daher zu Pragmatismus. "Ankara muss in diesem Jahr eng mit den Beitrittsbefürwortern zusammen arbeiten", sagt er. "Wartet nicht darauf, dass euch alle mit offenen Armen empfangen."

Daniela Schröder

© Qantara.de 2009

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