Dayton braucht eine Reform

Immer wieder drohen Separatisten mit der Zerstörung von Bosnien und Herzegowina. Was der kleine Westbalkanstaat im Kampf gegen sie braucht, sind Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Wohlstand und eine baldige EU-Integration. Von Rüdiger Rossig

Von Rudiger Rossig

Jedes Jahr am 6. April begehen die Bürgerinnen und Bürger der bosnischen Hauptstadt den "Tag der Stadt Sarajevo". Er steht für die Befreiung von der deutschen Besatzung 1945 - und für den Beginn der Belagerung durch Truppen der bosnischen Serben im Jahr 1992. Am Tag davor hatte das bosnische Parlament das bisher zum kommunistischen Jugoslawien gehörende Land für unabhängig erklärt. 

An diesem 5. April 1992 hatten in Sarajevo zudem mehr als 100.000 Menschen für den Frieden demonstriert - bis aus dem Sitz der serbischen Nationalistenpartei heraus auf die Demonstranten geschossen wurde. Die Kugeln töteten zwei Frauen: die ersten Opfer des Bosnienkrieges. Tags darauf begann die bis dahin jugoslawische Armee, die nun von serbischen Nationalisten kontrolliert wurde, mit der Belagerung Sarajevos. Sie sollte 1425 Tage dauern und 11.541 Menschen das Leben kosten. 

Zu diesem Zeitpunkt glaubten die meisten Bosnier - unabhängig davon, ob sie zu den rund 44 Prozent muslimischen Bosniaken, den 17 Prozent katholischen Kroaten, den 31 Prozent orthodoxen Serben oder zu den zahlreichen nationalen Minderheiten unter den damals knapp 4,4 Millionen Einwohnern des kleinen Westbalkanstaats gehörten - nicht, dass es zum Krieg kommen würde. Sie hatten gute Gründe: Ein Drittel aller Ehen im Land war national gemischt, infolge der Industrialisierung waren viele Arbeitsmigranten aus anderen Teilen Jugoslawiens eingewandert; trotzdem war es in den Jahrzehnten zuvor nie zu Konflikten gekommen.

Die "Ewige Flamme" im Zentrum der bosnischen Hauptstadt Sarajevo; Foto: Amel Amric/AP/picture-alliance
Schmerzhafte Erinnerung: Jedes Jahr am 6. April begehen die Bürgerinnen und Bürger der bosnischen Hauptstadt den "Tag der Stadt Sarajevo". Er steht für die Befreiung von der deutschen Besatzung 1945 - und für den Beginn der Belagerung durch Truppen der bosnischen Serben im Jahr 1992. Am Tag davor hatte das bosnische Parlament das bisher zum kommunistischen Jugoslawien gehörende Land für unabhängig erklärt. 



Aber es herrschte längst Streit darüber, wie es mit Bosnien weitergehen sollte. Am 1. März 1992 hatten 99,4 Prozent der Wählerinnen und Wähler bei einem Referendum für die Unabhängigkeit von Jugoslawien gestimmt. Doch die Wahlbeteiligung lag nur bei 63,4 Prozent, da die meisten bosnischen Serben das Referendum boykottierten. Der Großteil der serbischen Abgeordneten hatte das gemeinsame bosnische Parlament schon Ende 1991 verlassen und am 9. Januar 1992 einen eigenen Staat gegründet, die Republika Srpska (Serbische Republik).

Nicht die Völker kämpften gegeneinander

Anfang April 1992 begannen die serbischen Nationalisten mit der brutalen "ethnischen Säuberung" der von ihren Truppen kontrollierten Teile Bosniens. Ziel war nicht nur die Zerschlagung der nicht-serbischen Eliten, sondern jeglicher Opposition und Zivilgesellschaft - und der Zusammenschluss mit dem benachbarten Serbien. 1993 griffen zudem bewaffnete bosnisch-kroatische Nationalisten ihre bisherigen bosniakischen Verbündeten an. Sie forderten eine Vereinigung mit dem benachbarten Kroatien. Dieser "Krieg im Krieg" sollte über ein Jahr dauern. 

Wer kämpfte in Bosnien gegen wen? Es waren nicht etwa Völker, die einander überfielen, sondern zum Nationalismus konvertierte ex-kommunistische Funktionäre, Geheimdienstler und Militärs kämpften gegen eine Bevölkerung, deren Mehrheit nach allen Meinungsumfragen Demokratie, Rechtsstaat und Wohlstand wie im Westen Europas einforderte. Das aber hätte das Ende der Herrschaft der damaligen Eliten bedeutet und musste deshalb mit allen Mitteln verhindert werden.

Ene bosnische Frau betet am Friedhof nahe Srebrenica, Bosnien (Foto: Reuters/D. Ruvic)
Erinnerung an das Massaker von Srebrenica: Serbische Bewaffnete ermordeten am 11. Juli 1995, einige Tage nachdem sie den Ort erobert hatten, in Srebrenica mehr als 8000 bosniakische Jungen und Männer. Das Massaker – das von zwei internationalen Gerichten als Genozid eingestuft wird – fand am Ende des Krieges zwischen bosnischen Kroaten, Serben und Muslimen statt, der von 1992 bis 1995 dauerte und rund 100.000 Menschen das Leben kostete. Für bosnische Muslime ist es für einen dauerhaften Frieden unerlässlich, dass das Ausmaß der Gewalttaten anerkannt wird. Aber die meisten Serben sowohl in Bosnien als auch in Serbien weigern sich bis heute, von einem Völkermord zu sprechen.

Fehleinschätzung der internationalen Vermittler

Doch die internationalen Vermittler, die sich seit 1991 in den Krieg im zerfallenden Jugoslawien einschalteten - allen voran die Vereinten Nationen und die Europäische Gemeinschaft, die Vorläuferorganisation der heutigen EU -, versuchten, zwischen schwer bewaffneten Angreifern und fast wehrlosen Angegriffenen zu vermitteln, als handle es sich um einen Konflikt zwischen gleich starken Parteien.

Eine Folge dieser Fehleinschätzung war die Entsendung der leicht bewaffneten UN-Truppe UNPROFOR zur Friedenssicherung in ein Gebiet, in dem bereits Krieg herrschte. Die Blauhelme konnten nicht nur keinen der unzähligen "Waffenstillstände" der folgenden dreieinhalb Jahre durchsetzen; sie versagten auch in der UN-"Schutzzone" Srebrenica, wo serbische Bewaffnete im Juli 1995 mehr als 8000 bosniakische Jungen und Männer ermordeten.

Erst der Völkermord und serbische Angriffe auf Angehörige der UNPROFOR-Truppe führten dazu, dass die internationale Gemeinschaft Ende 1995 endlich den Dayton-Friedensvertrag inklusive einer neuen Verfassung erzwang. Bosnien blieb laut dem nach dem Ort der Verhandlungen, der US-Luftwaffenbasis Dayton im Bundesstaat Ohio, benannten Vereinbarung zwar ein Staat, wurde aber in zwei "Entitäten" – die Republika Srpska und die "Föderation Bosnien und Herzegowina", die wiederum in zehn Kantone aufgeteilt ist - sowie eine Sonderverwaltungszone aufgeteilt: eine der kompliziertesten Staatskonstruktionen der Welt mit einem unübersehbaren Wirrwar an Ministerien und Kompetenzen.

Milorad Dodik, Präsident der Republika Srpska, zu Besuch bei Putin in Sochi in 2018 (Foto: Reuters)
Der Präsident der Republika Srpska, Milorad Dodik, zu Besuch bei Putin im September 2018. Putin unterstützt die serbischen Nationalisten und versucht damit, die Westbalkan-Politik der EU und der USA zu destabilisieren. Die Politik dieser Nationalisten ist geprägt von aggressiver Rhetorik, ständiger Obstruktion des politischen Betriebs und regelmäßigen Abspaltungsdrohungen. Opposition und zivilgesellschaftliche Organisationen wie Transparency International werfen ihnen Korruption, Klientelismus sowie Verletzungen der Bürger- und Menschenrechte vor.

Die Einhaltung des Friedens überwacht ein Hoher Repräsentant, der den im Peace Implementation Council (PIC) versammelten Dayton-Garantiemächten verantwortlich ist, zu denen neben mehreren europäischen Staaten, darunter Deutschland, auch die USA und Russland gehören.

Ein nicht-funktionierender Staat 

Dayton war ein schlechter Kompromiss - aber der einzige, der den Krieg, durch den mehr als 100.000 Menschen getötet und über zwei Millionen vertrieben worden waren, schnell beenden konnte. Denn auch die serbische Seite hatte 1995 angesichts massiver militärischer Niederlagen gegen die mittlerweile hochprofessionelle bosnische Armee erhebliches Interesse an einem Ende der Kämpfe: Während serbische Soldaten in Srebrenica mordeten, rückten bosnische Truppen bis weit in die Republika Srpska vor. Ohne Dayton wäre die serbische Entität in Bosnien heute viel kleiner. 

Doch anstatt dankbar für das Abkommen zu sein, interpretierten die bosnisch-serbischen Führer Dayton als ihren Sieg. In den folgenden Jahren baute Milorad Dodik, Präsident der Republika Srpska, seinen Machtbereich immer mehr zu einem Staat im bosnischen Staat aus. Weder die Republika Srpska noch der Rest Bosniens entwickelten sich positiv im Sinne ihrer Bürgerinnen und Bürger.

Heute hat das Westbalkanland gerade noch 3,2 Millionen Einwohner. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Löhne sind niedrig, die Bevölkerung ist überaltert, die Lebenserwartung sinkt immer weiter und die Jugend wandert aus. Ex-kommunistische Nationalisten wie Dodik oder der bosnisch-kroatische Politiker Dragan Covic dominieren weiter die Politik. Opposition und zivilgesellschaftliche Organisationen wie Transparency International werfen ihnen Korruption, Klientelismus sowie Verletzungen der Bürger- und Menschenrechte vor.

Dragan Covic, Chef der kroatischen Nationalisten in Bosnien (l.), und sein serbisches Pendant Milorad Dodik; Foto: Klix
Was tun gegen die "Verbal-Separatisten“? Politiker wie Dragan Covic, Chef der kroatischen Nationalisten in Bosnien (li.), und sein serbisches Pendant Milorad Dodik profitieren von der derzeitigen Situation und von den internationalen Subventionen, die den gemeinsamen Staat am Leben erhalten. Rüdiger Rossig hält ein Auseinanderbrechen Bosniens daher für unwahrscheinlich. Doch das Land braucht neue Perspektiven. "Um die Agonie zu beenden, die seit Ende des Krieges in Bosnien herrscht, müssen das Amt des Hohen Repräsentanten und der Peace Implementation Council zu funktionsfähigen Institutionen umgebaut werden, zu deren Mandat auch eine Reform des Dayton-Abkommens gehören müsste,“ schreibt Rossig. "Zudem braucht Bosnien eine klare Perspektive für einen EU-Beitritt und Wirtschaftshilfen, die den Lebensstandard der Bevölkerung heben“.

Die Rolle Putins

Die Politik dieser nationalen Führer ist von aggressiver Rhetorik, ständiger Obstruktion des politischen Betriebs und regelmäßigen Abspaltungsdrohungen geprägt. Unterstützt werden vor allem die serbischen Nationalisten dabei seit Jahren von Putins Russland, das so versucht, die Westbalkan-Politik der EU und der USA zu destabilisieren. 

Ein Auseinanderbrechen Bosniens ist trotzdem unwahrscheinlich - denn die Machthaber dort profitieren von den internationalen Subventionen, die den gemeinsamen Staat am Leben erhalten. Zudem ist fraglich, ob die Regierungen Serbiens und Kroatiens wirklich eine Vereinigung mit den Serben und Kroaten in Bosnien wollen, die die innenpolitischen Verhältnisse in ihren Ländern grundsätzlich verändern würden. 

Sollten die "Verbal-Separatisten“ in Bosnien trotzdem versuchen, ihre Ziele mit Gewalt durchzusetzen, dürfte ihr Aufstand nicht lange dauern: Die nächste russische Kaserne ist weit, in Bosnien selbst stehen über 1000 NATO-Soldaten der Schutztruppe EUFOR - und tausende mehr in allen Nachbarländern außer Serbien. 

Was Bosnien tatsächlich droht, ist eine endlose Verlängerung der Agonie, die seit Ende des Krieges herrscht. Um sie zu beenden, müssen das Amt des Hohen Repräsentanten und der Peace Implementation Council zu funktionsfähigen Institutionen umgebaut werden, zu deren Mandat auch eine Reform des Dayton-Abkommens gehören müsste. Das geht nur ohne Moskau, das offensichtlich keinen funktionierenden demokratischen Rechtsstaat in Bosnien will. Zudem braucht Bosnien eine klare Perspektive für einen EU-Beitritt und Wirtschaftshilfen, die den Lebensstandard der Bevölkerung heben.

Demokratie, Rechtsstaat, Wohlstand und EU-Integration - das sind die wirksamsten Instrumente, die Demokratien gegen die Herrschaft von mächtigen Cliquen in postkommunistischen Staaten in Stellung bringen können. In Bosnien genauso wie in Belarus oder Russland. 

Rüdiger Rossig

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