Begegnung - Juden und Araber besuchen Auschwitz

Rund 250 jüdische und arabische Israelis haben gemeinsam das Konzentrationslager Auschwitz besucht - eine Begegnung von Mensch zu Mensch, in einer Geste der Versöhnung und weit entfernt von den Kampfstätten des Nahost-Konfliktes. Eine Reportage von Igal Avidan.

Mit gebrochener Stimme trägt Avi Giesser, Rabbiner der Westbank-Siedlung Ofra, das jüdische Totengebet Kaddisch vor. Er ist umgeben von jüdischen, christlichen und moslemischen Betern, die auf einen kleinen Teich blicken, in den vor 60 Jahren die Asche vergaster Juden hineingeschüttet wurde. Die traditionelle Bitte an Gott, dem Volk Israel den Frieden zu schenken, erweitert Giesser zu einer Bitte um Frieden für alle Menschen.

Einen Moment lang stehen alle still vor diesem Grab – ein Araber legt seine Hand auf die Schulter des jüdischen Siedlers Giesser, eine Palästinenserin streichelt zärtlich den Rücken einer Jüdin, die in ihr Taschentuch weint. Obwohl kein Wort fällt, scheinen die Palästinenser mit israelischem Pass den Schmerz ihrer jüdischen Mitbürger zu teilen, die um ihre ermordeten Familienangehörigen trauern. Ob diese stumme Erinnerung an den Holocaust in Sichtweite des Krematoriums den Frieden zwischen den verfeindeten Völkern ein Stück näher bringen kann? Können rührende menschliche Gesten im größten Friedhof der Welt das Blutvergießen und das Misstrauen im Nahen Osten überwinden?

Daran glaubt zumindest Emile Shoufani, der höchste griechisch-orthodoxe Geistliche in Nazareth, der diese Initiative "Erinnerung für den Frieden" ins Leben gerufen hat und diese Israelis zusammen nach Auschwitz brachte. Obwohl sich der Priester und Schulleiter seit 15 Jahren für die Versöhnung einsetzt, wurde ihm erst durch die jüngste Intifada klar, dass die existenzielle Unsicherheit der Juden in Israel auf die Erfahrungen des Holocaust zurückzuführen ist. Mit diesem Verbrechen sollten sich die Araber bedingungslos auseinandersetzen, d.h. ohne im Gegenzug eine Debatte über das Leiden der Palästinenser zu fordern: "Mit unserer Initiative wollten wir den Kreis brechen, in dem wir uns alle befinden, diesen Wettbewerb um die Frage, wer das größere Opfer sei", meint Shoufani und betont: "Wir erkennen das Leiden der Juden an. Doch das Leiden der jüdischen und der palästinensischen Mütter ist gleich, denn das Leiden lässt sich nicht an der Zahl der Opfer messen. Und im Mitleiden kommt die Menschlichkeit zum Ausdruck."

Auch der Vater von Nili Gross verlor seine ganze Familie in einem Konzentrationslager. Sie hat kein Problem, auch mit Arabern über eine solche traumatische und zugleich persönliche Erfahrung wie die Judenvernichtung zu sprechen. "Wenn die Araber, mit denen wir leben, einen Bezug zu unserem Holocaust finden, ist das für uns, für sie und für den ganzen Konflikt gut. Sie versuchen zu verstehen, mit was für einem Volk sie leben und was dieses dermaßen traumatisierte Volk bewegt", meint die 44-jährige Nili Gross. Sie unterrichtet Computergrafik und Design in einem Gymnasium und leitet seit drei Jahren mehrere Projekte für jüdische und arabische Jugendliche. Sie hält solche binationalen Begegnungen für äußerst wichtig, damit die Kinder ohne Vorurteile aufwachsen und schon entstandene Stereotypen abbauen.

Ihr arabisches Pendant ist Fatina Hazzan, Arabisch-Lehrerin in der gemischten Stadt Akko. Durch die Teilnahme an dieser Reise wollte sie ihre ohnehin guten Beziehungen zu ihren jüdischen Schülern vertiefen, erntete aber dafür Kritik von arabischer Seite. Aber ihre engen Freunde hatten ihr den Rücken gestärkt und auch ihr Mann unterstützte sie sehr. "Meine Kinder hatten ein wenig Angst. Der größere Sohn meinte, unsere Gruppe sei ein Angriffsziel für Terroristen, gerade weil wir eine jüdisch-arabische Delegation seien. Dennoch bin ich hier, einfach für mich", erzählt Hazzan.

Beim Betreten des Auschwitz-Museums, lauschen die Besucher den erschütternden Erzählungen der ehemaligen KZ-Insassin Esther Mannheim und blicken fassungslos auf die Berge von Brillen, Haare, Gebetsschalen und sogar Prothesen, die einmal anderthalb Millionen Juden gehörten. Fatina Hazzan ist sichtlich erschüttert:"Ich fühle mich, als ob mich jemand physisch und seelisch stark geschüttelt hat. Es wird lange dauern bis ich mich erhole. Jetzt muss ich weinen, aber ich hoffe, dass meine Tränen trocknen, damit ich anfange zu begreifen, was hier einmal stattgefunden hat", sagt sie.

Der gemeinsame Besuch endet an der Todesmauer, an der täglich Erschießungen stattfanden. Nach dem Vorlesen von Psalmen legen eine arabische und eine jüdische Frau dort Kränze nieder.

Igal Avidan, © 2003 Qantara.de