Ankaras Einstieg ins nukleare Zeitalter

Drei Atomkraftwerke will die Türkei bis zum Ende des nächsten Jahrzehnts in Betrieb nehmen. Das erklärte Ziel: Unabhängigkeit von Erdöl und Erdgas aus Iran und Russland. Doch Atomkraftgegner wehren sich gegen die Pläne im Land. Von Susanne Güsten

Umkehren ist fast unmöglich, denn die ersten konkreten Schritte in Richtung Atomkraft sind bereits getan: Im vergangenen Herbst verabschiedete das türkische Parlament die gesetzlichen Grundlagen für den Einstieg in die Atomenergie.

Im Frühjahr schrieb das Energieministerium nun das erste Atomkraftwerk zum Bau aus. In Akkuyu bei Mersin am Mittelmeer soll der erste Meiler entstehen, der zweite in Sinop an der Schwarzmeerküste ist auch schon in Planung. Doch in beiden Orten regt sich Widerstand.

Angst vor zweitem Tschernobyl

Viele haben Angst vor einem zweiten Tschernobyl. Das Trauma sitzt tief, schließlich leidet die Türkei noch immer unter den Folgen des Atomunfalls in der Ukraine. Die Schwarzmeerküste wurde damals im April 1986 völlig verstrahlt.

Nur zu gut erinnern sich viele Türken an den laxen Umgang der türkischen Behörden mit der radioaktiven Gefahr, so auch der Istanbuler Händler Sükrü Dogan. "Uns hat die Regierung damals gesagt, wir könnten alles unbesorgt essen und trinken", erzählt er.

Der zuständige Minister habe sogar im Fernsehen Tee getrunken und erklärt, dass ein wenig Strahlung noch niemandem geschadet habe. Alles nur, um die Tee-Ernte zu retten.

Allen Ernstes behauptete der damalige Regierungschef Turgut Özal sogar, dass radioaktiver Tee besser schmecke. Die Bewohner wurden mit ihren verstrahlten Ernten im Stich gelassen, wie sich die Haselnuss-Bäuerin Gönül Erdem erinnert. "Was sollten wir denn damals machen, irgendwas mussten wir ja essen – und alles war verstrahlt."

Jetzt haben alle in ihrer Verwandtschaft Krebs und auch die Krankenhäuser in der Schwarzmeerregion sind überfüllt mit an Krebs erkrankten Patienten. Aus diesen Gründen wollen viele Türken nie wieder etwas mit Atomkraft zu tun haben.

Schatten der Vergangenheit

Die Behörden seien an dieser Einstellung der Bevölkerung selbst schuld, meint Melda Keskin, die Autorin des bisher umfassendsten Untersuchungsberichts zu den Folgen von Tschernobyl in der Türkei.

"Wenn wir damals auch nur die einfachsten Vorsichtsmaßnahmen befolgt hätten, wenn wir etwa den Tee gewaschen hätten, dann hätten die Menschen weniger Strahlung abbekommen – das wissen wir heute." Damals wurde jedoch nichts unternommen.

Das Vertrauen in die Türkische Atomenergiebehörde ist jetzt sehr gering. Die soll aber mit der Aufsicht über die türkischen Atomkraftwerke betraut werden – schon in fünf bis sechs Jahren soll das erste Atomkraftwerk in Akkuyu ans Netz gehen – sehr zum Entsetzen des Energieexperteen Özgür Gürbüz.

Auf der Welt gebe es wohl keine andere Behörde, die weiter von einem Atomkraftwerk ferngehalten werden sollte wie die Türkische Atomenergiebehörde, so Gürbüz.

Dilettanten, die nun Atomkraft ausbauen wollen?

Denn selbst ohne ein eigenes türkisches Atomkraftwerk war die Behörde vor einigen Jahren für einen tödlichen Atomunfall verantwortlich. Die Internationale Atomenergiebehörde musste sich sogar einschalten.

Damals ging es um medizinisch genutztes Kobalt, das auf dem Schrottplatz landete. Dies sei kein gutes Omen für die Zukunft mit Atomkraftwerken, meint Gürbüz. "Eine Regierung, die nicht einmal 20 Gramm atomares Material unter Kontrolle behalten kann, die will nun drei Atomkraftwerke bauen?"

Noch in diesem Jahr soll der Bau der ersten Anlage in Akkuyu beginnen, wenn alles nach den Plänen des Energieministeriums läuft. Atomkraftgegner sind darüber besorgt, denn Akkuyu liegt in einem erdbebengefährdeten Gebiet – erst vor zehn Jahren gab es im nahen Adana das letzte schwere Beben.

Grund zur Sorge sieht auch Energieexperte Gürbüz, denn von einer Sicherheitskultur könne in der Türkei keine Rede sein, sagt er. Das geplante Atomkraftwerk sei eine unglaubliche Gefahr, nicht nur für die Türkei, sondern für die ganze Welt.

Susanne Güsten

© DEUTSCHE WELLE 2008

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