Indien: Auf dem Weg in den autoritären Staat

"Azadi", der neue Band mit Essays und Reden von Arundhati Roy, enthält eine aufschlussreiche Darstellung der aktuellen politischen Entwicklung in Indien. Im Vorfeld der letzten Parlamentswahlen entstanden, zeigt "Azadi", wie Indien auf irritierende Weise zunehmend in den Autoritarismus abgleitet. Von Richard Marcus

Von Richard Marcus

Für Menschen außerhalb Indiens, die von den Geschehnissen im Land nur durch Nachrichten und soziale Medien erfahren, ist es ungemein schwer, die dortige Lebenswirklichkeit zu verstehen. Wir mögen die Lage dort für schrecklich halten. Aber weder können wir den aktuellen Zustand wirklich begreifen, noch können wir uns das potenzielle Ausmaß der weiteren Entwicklung vorstellen.                            

Die Artikel und Reden, die Arundhati Roy in Azadi zusammenträgt, sind wie Teile eines Puzzles: Jedes von ihnen erzählt einen kleinen Teil der Geschichte; alle sind sie verstörend. In ihrer schockierenden Gesamtheit machen sie uns bewusst, wie weit sich die Dinge in Indien bereits verschoben haben.

Nur selten bekommen wir Gelegenheit, über Geschichte zu lesen, während sie stattfindet. Genau das ist Roy in Azadi gelungen, indem sie uns mit aktuellen Kommentaren zu bedeutenden Ereignissen versorgt. Genauer gesagt schreibt sie über die gegenwärtigen menschenverachtenden Zustände in Indien und wie die derzeitige Regierung von Narendra Modi dabei ist, in Indien ein autoritäres Regime zu errichten.

Wer das für eine Übertreibung hält, sollte Azadi lesen.

Umschlag von Arundhati Roys "Azadi: Freiheit. Faschismus. Fiction", erschienen auf Englisch bei Haymarket Books
Eine vernichtende Abrechnung mit dem schleichenden Aufstieg der totalitären Herrschaft in Indien: "Azadi" – auf Urdu das Wort für "Freiheit" – zeugt zudem von Roys Mut: "Unterstützer der Regierung Modi haben es exemplarisch für die Art von Schriften herausgegriffen, die aus den Schulbüchern entfernt werden sollen. Während in Indien Akademiker, Lehrer und Intellektuelle eingeschüchtert werden, tritt Roy weiter offen für die Armen und Minderheiten in ihrem Land ein," schreibt Marcus

Es geht nicht nur um Gewalt gegen Muslime – wie beispielsweise Lynchmorde an Menschen, die Rindfleisch essen –, sondern auch um den Entzug der Bürgerrechte von Nicht-Hindus und Hindus aus niedrigen Kasten, um die Entfernung von Büchern aus Universitäten, die Ideen und Gedanken (auch historische Ereignisse) enthalten, die nicht ins Weltbild von Premierminister Modi und seiner Regierung passen, und um die Zerstörung der ländlichen Regionen Indiens, in denen die Mehrheit der Bevölkerung mühsam ihren Lebensunterhalt bestreitet.

Die perfide politische Agenda der BJP

Dann ist da noch Kaschmir: Zankapfel zwischen Indien und Pakistan. Nominell ist ein Teil von Kaschmir heute ein Unionsterritorium Indiens, es hat aber eine mehrheitlich muslimische Bevölkerung und ist seit Langem ein Krisenherd. Sowohl Indien als auch Pakistan nutzen den dortigen Konflikt als Vorwand für gezielte Provokationen.

Im August 2019 schickte Modis Regierung die Armee nach Kaschmir und stellte das Territorium unter Kriegsrecht. Es wurde komplett abgeriegelt. Alle Telekommunikationsverbindungen wurden gekappt, sodass praktisch keine Informationen ausgetauscht werden konnten, es sei denn über amtliche Kanäle. Kein Internet oder Telefon für niemanden.

Nach der Unabhängigkeit Indiens und der Teilung des Landes 1947 wurde Kaschmir formal die Unabhängigkeit zugesprochen. Der faktisch von Indien kontrollierte Teil des Gebiets erhielt einen Sonderstatus als halbautonomer Staat. 2019 hob die indische Regierung unter Modi den Sonderstatus des von Indien kontrollierten Territoriums auf.

Roy hat die Essays in ihrem Sammelband in der Zeit vor und unmittelbar nach der letzten Parlamentswahl in Indien 2019 geschrieben. Die Texte beschreiben, wie Modi und seine Partei BJP trotz desaströser politischer Entscheidungen wieder an die Macht gelangten. Diese Politik betrifft insbesondere die Ärmsten, beispielsweise die unangekündigte Entwertung vieler Banknoten unter dem Vorwand, illegale Geschäfte einzudämmen.

Zu den weiteren schikanösen Maßnahmen, die Roy beschreibt, zählt auch das "Nationale Bürgerregister". Das Register war ursprünglich auf den Bundesstaat Assam beschränkt, um dort diejenigen "auszusortieren", die von nationalistischen Hindus als "nicht-registrierte Staatsbürger" bezeichnet werden: Bengalische Muslime, die 1971 aus Ostpakistan (dem heutigen Bangladesch) vertrieben wurden. Mittlerweile hat die Regierung Modi das Register auf ganz Indien ausgeweitet.

Ursprünglich mussten Polizei und Behörden beweisen, dass eine Person kein Staatsbürger ist. Heute liegt die Beweislast bei den Betroffenen selbst. Sie müssen nun nachweisen, "indisch" zu sein. Wenn eine Person Papiere vorlegt, die Ungenauigkeiten enthalten, wie beispielsweise ein falsch geschriebener Name, kann sie als Nicht-Staatsbürger eingestuft werden. Die arme Bevölkerung Indiens hat kaum die nötigen Mittel, um berichtigte Papiere vorzuweisen. Sie kann auch keine Anwälte beauftragen, die ihr dabei helfen würden.

Lesen Sie auch: Proteste gegen Modis Einbürgerungsgesetz – Vergewaltigung der Seele Indiens

Unerschrockene Kritikerin Modis

Modis Agenda beruht laut Roy auf der Tatsache, dass die Mehrheit der Armen in Indien Muslime oder Dalits sind – die in Indien als "unberührbar" geltenden Angehörigen der unteren Kaste. Was ist wirksamer, als Menschen, die man verachtet, aus dem Staat auszugrenzen? Wer nicht beweisen kann, dass er bereits vor 1971 im Land ansässig war, kann zu einem Nicht-Staatsbürger erklärt und in ein Internierungslager gesperrt werden.

Roy nimmt in ihrem Buch kein Blatt vor den Mund. Unerschrocken prangert sie die offene Diskriminierung all jener an, die in der schönen neuen Welt von Modi, seiner BJP und der noch perfideren radikal-hinduistischen Organisation RSS keinen Platz haben. In ihrem Buch legt Roy dar, wie tief die RSS mit der sozialen und politischen Struktur Indiens verwoben ist – und dies bereits vor Gründung der heutigen Staaten Indien und Pakistan.

 

Azadi ist auf Urdu das Wort für „Freiheit“. Urdu wird von den meisten Muslimen in Südostasien gesprochen. Das Buch beklagt schonungslos den schleichenden Aufbau einer totalitären Herrschaft in Indien. Es zeugt zudem von Roys Mut: Unterstützer der Regierung Modi haben ihr neues Werk exemplarisch für die Art von Schriften herausgegriffen, die aus den Schulbüchern entfernt werden sollen. Während in Indien Akademiker, Lehrer und Intellektuelle eingeschüchtert werden, tritt Roy weiter offen für die Armen und Minderheiten in ihrem Land ein. Ungeachtet der für sie resultierenden konkreten Gefahr.

Die in Azadi gesammelten Texte zeichnen ein klares Bild davon, wie eine autoritäre Regierung Hass und Angst als mächtige Waffe zur Festigung ihrer Macht schüren kann. Roy gibt uns damit ein Buch an die Hand, das uns für die Warnzeichen eines schleichenden Totalitarismus sensibilisiert. Warnzeichen, die wir beherzigen sollten.

Mit den gesammelten Essays und Reden in Azadi spricht Arundhati Roy Herz und Verstand an. Intelligent, reflektiert und mit viel Einfühlungsvermögen geschrieben, bringt sie uns die Lebenswirklichkeit des heutigen Indien so nahe, wie dies nur wenige andere Autoren vermögen.

Richard Marcus

© Qantara.de 2021

Aus dem Englischen von Peter Lammers