Aus dem Leben der Kofferkinder

"Daughters and Sons of Gastarbeiters" ist ein Autorenkollektiv von Kindern der ersten "Gastarbeiter-Generation". In Kurzgeschichten erzählen sie von ihren persönlichen Erfahrungen mit der Migration nach Deutschland und beleuchten damit einen bislang vernachlässigten Teil deutscher Geschichte. Von Ceyda Nurtsch

Von Ceyda Nurtsch

Ok-Hee Jeong war acht als ihre Eltern sie und ihre zwei Brüder nach Deutschland holten. Eindrucksvoll und aus kindlicher Perspektive beschreibt sie in ihrer Kurzgeschichte das Wiedersehen mit ihrer Mutter am Flughafen. Jahrelang hatten sie einander nicht gesehen.

Alleine das Paar Schuhe, das ihr die Mutter und der Großmutter, die sie aufzog, geschickt hatte, zeugte davon, dass die Tausenden von Kilometer zwischen Südkorea und der BRD das Band der Liebe zwischen Mutter und Tochter nicht zerrissen hatte. Und nun stand diese abgehetzte übermüdete Frau vor ihr. War das wirklich ihre Mutter? Vielleicht war es sicherer, diese Frau erst einmal zu siezen. Als Kind, erzählt Ok-Hee, erschien ihr die Trennung von ihren Eltern normal. Erst später stellte sie ihre Mutter zu Rede. Wie konnte sie es nur übers Herz bringen, sie und ihre Schwester in der Bundesrepublik zurückzulassen?

Ok-Hees Schicksal ist längst kein Einzelfall. Unter Kindern der ersten sogenannten Gastarbeitergeneration, die aus allen Teilen der Welt nach Deutschland kamen, ist es eher die Regel. Zerrissene Familien, zerrissene Schicksale. Kinder, die als sogenannte "Kofferkinder" zwischen Deutschland und dem jeweiligen Heimatland ihrer Familien hin- und hergeschickt wurden. Eltern, die nur das Beste für ihre Familien wollten und erfahren mussten, dass sie sich innerlich von ihrer Heimat entfernt hatten ohne eine neue gefunden zu haben.

Autorengeschichten – persönlich und entlarvend zugleich

Die Familien der "Daughters and Sons of Gastarbeiters" stammen aus der Türkei, Serbien, Griechenland oder Pakistan. Ihre Geschichten speisen sich aus Berichten der Eltern, eigenen Erfahrungen, Erinnerungen und Tagebucheintragungen. Die Geschichten der Autoren sind sehr persönlich und entlarvend ehrlich geschrieben.

Sätze wie "Wenn ich nach Deutschland gehe, werde ich einen roten Traktor kaufen" stammen aus der Kurzgeschichte der Autorin Çiçek Bacık über ihren Vater und lassen auf die Fallhöhe der Erwartungen schließen, die die Elterngeneration dazu veranlassten, ihre Heimat hinter sich zu lassen.

Lesung des Autorenkollektivs "Daughters and Sons of Gastarbeiters" in Berlin; Foto: Ceyda Nurtsch
Zerrissen zwischen Herkunftsland und Deutschland: Das Projekt „Daughters and Sons of Gastarbeiters“ informiert anhand zahlreicher Autorenberichte über die Lebensrealität der Kinder der ersten Gastarbeiter-Generation, die als sogenannte „Kofferkinder“ zwischen Deutschland und dem jeweiligen Heimatland ihrer Familien hin- und hergeschickt wurden.

Die Kurzgeschichten ergeben ein Mosaik unterschiedlichster Schicksale, die sich im Kern doch ähneln. Vor allem beleuchten sie einen wichtigen Teil der deutschen Nachkriegsgeschichte, der vielen Menschen in Deutschland noch zu wenig bekannt ist.

Die Initiatorin des Autorenkollektivs ist Çiçek Bacık. Anfang 2015 fand die erste Lesung statt und stieß auf große Resonanz. Anfangs wollte sie sich vor allem mit ihrer eigenen Geschichte auseinandersetzen, erzählt sie. "Gezielt reflektieren, was die Eltern geleistet hatten. Wir haben das jahrelang vernachlässigt."

"Wir" und "sie"

So setzen sich die Autoren in ihren Geschichten zum einen mit ihrer eigenen persönlichen Geschichte auseinander. Zum anderen bringen sie sich in den Diskurs in Deutschland mit ein. Heute noch beobachte sie ein "wir" und "sie" in der deutschen Gesellschaft, erzählt Bacık. Immer noch beobachte sie, dass man vor allem die Unterschiede zwischen Deutschen und Neuzuwanderern betone.

Gegen dieses Schwarz-Weiß-Denken wollen die Autoren anschreiben. "Es wird langsam Zeit, dass man über diesen Teil der Geschichte der letzten 60 Jahre reflektiert und dass unsere Perspektive, unser Blick, in diesen Diskurs mit eingebunden wird und auch Niederschlag in den Geschichtsbüchern findet", meint die 1980 nach Berlin eingereiste Migrationsexpertin Çiçek Bacık.

Die Einwanderungsgeschichten sind so unterschiedlich wie die Menschen selbst. Da gibt es den Fabrikarbeiter, der den Plan hat, einige Jahre in Deutschland zu arbeiten, bevor er in sein anatolisches Dorf zurückkehrt, der aber bald sieht, dass das Leben andere Pläne für ihn hat. Da gibt es die Mutter von Shlomit Tulgan, Melek, eine Istanbuler Jüdin, die sich aus Abenteuerlust in den Zug setzt und nach Deutschland reist und auf einer Demo einen anderen Istanbul Juden kennenlernt und heiratet.

Und dann gibt es da noch die Familie von Zoran Terzić. Der Vater ist Arzt, die Mutter Arzthelferin aus dem ehemaligen Jugoslawien. 1974 zieht die Familie in die Kleinstadt Kirchenlamitz. Intelligentbeobachtet und humoristisch boshaft zeichnet Terzić ein Bild des bürgerlichen Umfelds, in dem er aufwuch. Seine Eltern mit der "Mission dazuzugehören, egal wo" bemühen sich um ein bürgerliches Leben und stoßen die Einheimischen, die eine bestimmte Vorstellung und Erwartung davon haben, wie Ausländer zu sein haben, vor den Kopf. Das geht soweit, dass eine ältere Dame, die angesichts der bürgerlichen Wohnungseinrichtung der Arztfamilie eine derartige Reaktion an den Tag legt, dass sie in den Augen des kleinen Zoran "von einer netten zu einer typischen Deutschen" wird.

Mal Liebeserklärungen, mal Anklageschriften

Bis heute haben 20 Autoren an dem Projekt mitgewirkt und es werden immer mehr. Es scheint, als brenne eine ganze Generation von neuen Deutschen darauf, ihre Geschichten und die ihrer Eltern und Großeltern zu erzählen.

Die Texte sind mal Liebeserklärungen, mal Anklageschriften an die Eltern, eine Suche nach Antworten aus der eigenen Kindheit oder Sammlungen illustrer Begebenheiten und Anekdoten. Doch vor allem zollen die Autoren mit ihren Texten einer Elterngeneration, die meist unter äußerst schwierigen Bedingungen ein Leben aufgebaut hat, Respekt. Sie bringen die mündlich überlieferten Geschichten zu Papier und verschaffen damit sich und ihren Vorfahren Gehör.

Ceyda Nurtsch

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