Risse im System

Die Folgen der Corona-Pandemie sind für das saudische Königshaus wegen der wirtschaftlichen Verwerfungen dramatisch. Doch was passiert, wenn die Herrscher ihren Teil des Gesellschaftsvertrages nicht mehr ohne Probleme erfüllen können und die Untertanen aufbegehren? Eine Analyse von Karim El-Gawhary

Von Karim El-Gawhary

Saudi-Arabien hat ein Problem und das lässt sich schlicht in der Differenz zweier Zahlen ausdrücken. Für einen ausgeglichenen Haushalt braucht das Land, laut Schätzungen des Internationalen Währungsfonds, einen Ölpreis von 76 US-Dollar pro Barrel. Der liegt derzeit aber mit ungefähr 30 US-Dollar bei weniger als der Hälfte.

Und damit nicht genug. Selbst um diesen niedrigen Preis zu halten, muss Saudi-Arabien das Angebot des schwarzen Goldes auf dem Weltmarkt verringern und hat seine Ölproduktion auf den niedrigsten Stand seit 18 Jahren zurückgeschraubt. Das Ergebnis ist ein dramatisch wachsendes Haushaltsdefizit, das laut einigen Schätzungen auf einen neuen Rekordwert von 112 US-Milliarden Dollar steigen könnte.

Das ist der Grund, warum der saudische Finanzminister Mohammed Al-Jadaan diese Woche die Notbremse gezogen hat. Eine Mehrwertsteuer, die überhaupt erst vor zwei Jahren erstmals eingeführt wurde, wird von fünf auf 15 Prozent verdreifacht. Bereits ab kommenden Juni sollen auch Unterstützungszahlungen für Militärangehörige und Staatsbedienstete gestrichen werden. Große Infrastrukturprojekte werden auf Eis gelegt.

Die doppelte Krise

In Saudi-Arabien kommen gleich zwei Krisen zusammen. Schon vor der Corona-Wirtschaftskrise hatte das Land mit Russland einen Preiskrieg rund ums Öl begonnen, in einer denkbar schlechten Zeit, denn mit den weltweiten Lockdowns ging der globale Ölverbrauch zurück. Ein totaler Preiszusammenbruch war die Folge.

Dazu kommen die eigenen Lockdowns, mit denen Saudi-Arabien versucht, seine eigene Corona-Kurve flach zu halten. Bisher waren die nur lokal  begrenzt. Nun hat die Regierung zum Ende des Ramadan und zum kleinen Bayram-Fest einen totalen landesweiten Lockdown angekündigt.

Große Moschee mit der Kaaba in Mekka fast menschenleer seit Beginn der Corona-Krise; Foto: Getty Images/AFP
Krise an zwei Fronten: Saudi-Arabien ist den offiziellen Zahlen zufolge mit mehr als 41.000 Infektionen stark von der Pandemie betroffen. Möglicherweise könnte auch die große Wallfahrt Hadsch ausfallen, die Ende Juli beginnen soll. Das war zuletzt zwischen 1798 und 1801 der Fall, als Napoleons Feldzug in Ägypten die üblichen Wallfahrtsrouten nach Mekka unsicher machte. Gleichzeitig steht Saudi-Arabien derzeit eine seiner schlimmsten Wirtschaftskrisen seit Jahrzehnten durch. Mit einem Sparprogramm und einer drastischen Steuererhöhung versucht Riad, auf den beispiellosen Verfall der Ölpreise in der Corona-Krise zu reagieren.

Die Pilgerstätten in Mekka sind seit Wochen dicht. Der diesjährige Hadsch (Pilgerfahrt), auch wenn es noch nicht offiziell angekündigt ist, wird wahrscheinlich ausfallen. Die jährlichen Einnahmen aus den Pilgerfahrten und dem religiösen Tourismus belaufen sich auf 20 Milliarden US-Dollar, das sind ungefähr 20 Prozent der Einnahmen des Landes jenseits des Ölsektors.

Es gab sogar Pläne, die Pilgerfahrt für Saudi Arabien zum neuen Öl zu machen und die Einnahmen weiter auszubauen, etwa mit Luxus-Hotels in Mekka für reiche Pilger, in denen eine Suite mit Blick auf die Kaaba für über 5.000 US-Dollar die Nacht angeboten wird.

Nun ist Saudi-Arabien wirtschaftlich nicht einfach aus der Bahn zu werfen. Immerhin hat es einen Staatsfonds, der fast 300 Milliarden Euro schwer ist. Dennoch macht die derzeitige Wirtschaftskrise dem Land schwer zu schaffen. Der Internationale Währungsfonds (IWF) erwartet einen Rückgang der saudischen Wirtschaftsleistung in diesem Jahr um 2,3 Prozent.

"Vision 2030" auf Sand gebaut?

Da geht an den neuen Sparmaßnahmen kein Weg vorbei, die auch die von Kronprinz Muhammad bin Salman verkündete "Vision 2030" betreffen werden, mit denen er sein Land durch große Infrastrukturmaßnahmen vom Öl unabhängiger und gesellschaftlich öffnen will.

Plakat stellt Projekt "Vision 2030" mit dem Konterfei des saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman in der Stadt Dschidda vor; Foto: picture alliance/AP
Doch nun ein paar Nummern kleiner angelegt? Vor dem Hintergrund der Corona-Krise in Saudi-Arabien geht an den neuen Sparmaßnahmen kein Weg vorbei, die auch die von Kronprinz Muhammad bin Salman verkündete "Vision 2030" betreffen werden, mit denen er sein Land durch große Infrastrukturmaßnahmen vom Öl unabhängiger und gesellschaftlich öffnen will.

Ein Herzstück dieser Vision ist die futuristische Mega-Glitzerstadt NEOM, die für 500 Milliarden US-Dollar am Roten Meer aus dem Wüstensand gestampft werden und Touristen und internationale Investitionen anziehen soll.

Die saudische Haushaltskrise dürfte dazu führen, dass es hier nicht nur zu Verzögerungen kommt, sondern dass das Ganze ein paar Nummern kleiner angelegt werden muss. Da beißt sich die Katze in den Schwanz: Wenn der Ölpreis zusammenbricht und man kein Geld mehr hat, eine Wirtschaft aufzubauen, die vom Öl unabhängiger ist.

Jemen - der kostspielige Krieg

Auch bei den Plänen Bin Salmans, als Regionalmacht die Region neu zu ordnen, dürften ihm jetzt finanzielle Grenzen gesetzt werden. Der Krieg im Nachbarland Jemen, den er vor fünf Jahren begonnen hat, wiegt schwer auf dem Staatshaushalt. Die Gegner der saudischen Militärkoalition im Jemen, die Huthi-Rebellen haben Schätzungen veröffentlicht, laut denen Saudi-Arabien jährlich 60 Milliarden US-Dollar für diesen Krieg ausgibt.

Das ist wahrscheinlich eine übertriebene Zahl, aber von saudischer Seite gibt es dazu keine Angaben, was es kostet, die für diesen Krieg benötigten Waffen einzukaufen und einzusetzen, die dort am Boden kämpfenden Söldner zu bezahlen und die von den Saudis unterstützte Al-Hadi-Regierung in Aden am Leben zu halten.

Sanaa nach einem Luftangriff der von Saudi-Arabien geführten Militärallianz gegen die Huthi-Rebellen im Jemen; Foto: AFP/Getty Images
Der Krieg im Nachbarland Jemen, den er vor fünf Jahren begonnen hat, wiegt schwer auf dem Staatshaushalt. Die Gegner der saudischen Militärkoalition im Jemen, die Huthi-Rebellen haben Schätzungen veröffentlicht, laut denen Saudi-Arabien jährlich 60 Milliarden US-Dollar für diesen Krieg ausgibt.

Für Anfang Juni hat Saudi-Arabien zusammen mit der UNO eine virtuelle internationale Geberkonferenz einberufen, in der Hoffnung, die Auswirkungen des Kriegs, den das Land mit zu verantworten hat, nicht alleine tragen zu müssen. Und dabei geht es auch nicht um wenig Geld. Das Internationale Rote Kreuz warnte vor kurzem, dass dieser Krieg der Internationalen Gemeinschaft weitere 29 Milliarden US-Dollar an Hilfslieferungen kosten könnte, sollte die militärische Auseinandersetzung weitere fünf Jahre andauern.

Gesellschaftsvertrag auf dem Prüfstand

Aber es ist etwas anderes, das den Herrschern in Saudi-Arabien mit dieser Wirtschaftskrise wirklich schlaflose Nächte bereiten dürfte. Wie in den anderen ölreichen Golfstaaten gibt es auch in Saudi-Arabien einen ungeschriebenen Gesellschaftsvertrag und der lautet: Ihr Untertanen habt keinerlei politisches Mitspracherecht. Im Gegenzug geben wir Herrscher uns gönnerhaft und machen den Staat zum Rundum-Versorger. Kinder können etwa auf Staatskosten im Ausland studieren, Saudis dürfen sich mit staatlichen Beihilfen im Ausland medizinisch behandeln lassen, sie bekommen Zuschüsse für den Bau ihrer Häuser und zinsfreie Kredite.

Steuern waren vor der Einführung einer Mehrwertsteuer von fünf Prozent im Jahr 2018 praktisch ein Fremdwort für saudische Bürger. Um in den Genuss all dieser Wohltaten zu kommen, müssen die eigentlich nur eine einzige staatliche Pflicht erfüllen: Sie dürfen die politische Legitimität ihrer Herrscher nicht hinterfragen oder gar politische Rechte einfordern. 

Es ist ein Gesellschaftsvertrag, der seit Jahrzehnten funktioniert hat und der das saudische Königshaus selbst durch die turbulenten Zeiten der Arabellionen und des Arabischen Frühlings gebracht hat. Nun knackt es aber im Gebälk dieses Gesellschaftsvertrages.

Die angekündigte Verdreifachung der Mehrwertsteuer und das Ende der Zusatzzahlungen für Beamte, sind erste Risse im System, die zeigen, dass die saudischen Herrscher ihren Teil des Gesellschaftsvertrages nicht mehr ohne Probleme erfüllen können. Spannend wird sein, wie lange die Untertanen sich dann an ihren Teil der Abmachung halten.

Karim El-Gawhary

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