Kurswechsel Ost

Dass sich die Türkei seit dem Putschversuch vom 15. Juli immer stärker vom Westen abwendet, ist ein bewusstes taktisches Manöver, mit dessen Hilfe die Regierung ihre Unterstützerbasis im Inland stärken und eine aggressivere Rolle in der Region übernehmen will. Von A. Kadir Yildirim

Von A. Kadir Yildirim

Seit dem Putschversuch vom 15. Juli scheint die Außenpolitik der Türkei ihre Segel in Richtung Osten gesetzt zu haben. Hinter dieser Veränderung steht entgegen der allgemeinen Wahrnehmung eine bewusste Entscheidung der politischen Führung, die bereits in der Zeit vor dem 15. Juli getroffen wurde.

Grund dafür ist die Absicht, die Position der Regierung im Inland zu stärken und eine unabhängigere und aggressivere Außenpolitik zu betreiben. In vielen der aktuellen Analysen der türkischen Außenpolitik wird der Westen dazu aufgefordert, sich gegenüber den gewählten türkischen Politikern und den Bürgern des Landes, die sich gegen außerdemokratische Eingriffe gewehrt haben, solidarischer zu zeigen. Sie suggerieren, die Türkei brauche an diesem Wendepunkt "vernünftige Freunde" – an einem Wendepunkt wohlgemerkt, an dem Zehntausende von Menschen für ihre angebliche Beteiligung an der Vorbereitung des Putschversuchs oder für vermeintliche terroristische Aktivitäten verhaftet, eingesperrt, entlassen, verurteilt und gefoltert wurden.

Einige Analysten gelangen zu der Auffassung, die türkische Regierung kämpfe um ihr Überleben und könne daher auf die Entwicklungen im In- und Ausland nur noch reagieren. Sollte die Türkei die westliche Hemisphäre auf irgendeine Art und Weise verlassen, läge die Schuld dafür ganz beim Westen, der die Forderungen des Landes nicht erfüllt habe, behauptet zumindest der türkische Außenminister Mevlut Cavusoglu. Die Türkei benötige in dieser Zeit eine Sonderbehandlung, und der Westen müsse das Land "verstehen", womit implizit auf das mangelnde Verständnis des Westens gegenüber Ägypten im Jahr 2013 verwiesen wird.

Doch Einschätzungen wie diese vernebeln nur die interaktive und komplexe Natur der Außen- und Innenpolitik. Ebenso wie die Richtung der Innenpolitik durch die Außenpolitik geprägt werden kann, kann auch die Außenpolitik auf entscheidende Weise durch innenpolitische Aspekte beeinflusst werden.

Déjà-vu im Nahen Osten

Die drohende Abwendung der Türkei vom Westen ist im Nahen Osten nicht die erste ihrer Art. Wenn man die populistischen Gefühle des Antiamerikanismus und die Ablehnung des Westens für sich betrachtet, weist dieser Kurswechsel gar große Ähnlichkeiten zum Ägypten Gamal Abdel Nassers oder zur Islamischen Republik unter Ruhollah Khomeini auf. Doch trotz dieser Aspekte wird der Wandel in der türkischen Außenpolitik nicht von der Weltpolitik vorgegeben. Die strategische Wichtigkeit der Türkei für den Westen wird weiterhin wertgeschätzt, wie Besuche amerikanischer und europäischer Politiker zeigen.

Ebenso kann ein solch dramatischer Wandel nicht anhand ideologischer Überzeugungen der gegenwärtigen Regierung oder einer gefühlten "Vergiftung durch den Westen" erklärt werden. Schließlich hat sich die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) durch ihre islamistische Ideologie auch nicht davon abhalten lassen, während der 2000er Jahre eine ausgesprochen westliche Außenpolitik zu betreiben.

People wave national flags as they march from Kizilay square to Turkish General Staff building to react against the attempted military coup, in Ankara, on 16 July 2016 (photo: Getty Images/AFP/A. Altan)
Schreckgespenst Gülen und der intrigante Westen: "Dass nach dem Putschversuch vom 15. Juli die Vereinigten Staaten verdächtigt wurden, direkt für die Organisation des Putsches oder indirekt für die Unterstützung Fethullah Gülens verantwortlich zu sein, ist wohl kein Zufall. Viele Türken glauben, die USA wollten Erdoğan angeblich nur deshalb Schaden zufügen, weil er ein starker Führer sei, der die Türkei in eine Regionalmacht verwandelt habe", schreibt Yildirim.

Die neuen außenpolitischen Manöver der Türkei in Reaktion auf den Putschversuch sind gut vorbereitet und wohl kalkuliert – und nicht, wie allgemein angenommen wird, lediglich von Emotionen und Reaktionen bestimmt. Und sie sind ein probates Mittel für innen- und außenpolitische Zwecke. In der Türkei selbst soll sie die Unterstützerbasis der Regierung stärken, insbesondere angesichts der zunehmenden Kritik an der immer stärkeren Einschränkung der Freiheit im Land.

Der Putschversuch vom 15. Juli hat die umfangreichen Bestechungsvorwürfe des Jahres 2013 gegen führende Mitglieder der AKP, darunter auch gegen Präsident Erdoğan, fast völlig in Vergessenheit geraten lassen. In letzter Zeit gab es allerdings zwei Entwicklungen, durch die diese Korruptionsvorwürfe neue internationale Aufmerksamkeit erfahren haben: In Miami wurde jüngst der iranisch-türkische Bürger Reza Zarrab verhaftet und dafür angeklagt, Sanktionen gegen den Iran umgangen zu haben. Erste Gerichtsdokumente deuten darauf hin, dass er vielfältige Verbindungen zu hochrangigen türkischen Politikern pflegte. Ferner wird Präsident Erdoğans Sohn Bilal in Italien vorgeworfen, etwa eine Milliarde Euro Bargeld gewaschen zu haben. Beide Ermittlungen haben das Potenzial, die seit 2013 aufgebaute Legitimität der Regierung im Inland wieder zunichte zu machen.

Von Verdächtigungen und Verschwörungen

In den letzten Jahren hat es die türkische Regierung sehr gut verstanden, die nationalistischen, ethnischen und religiösen Befindlichkeiten der Bevölkerung sich eigen zu machen und damit eindrucksvolle Mehrheiten zu bekommen. Dass nach dem Putschversuch vom 15. Juli die Vereinigten Staaten verdächtigt wurden, direkt für die Organisation des Putsches oder indirekt für die Unterstützung Fethullah Gülens verantwortlich zu sein, ist wohl kein Zufall. Viele Türken glauben, die USA wollten Erdoğan angeblich nur deshalb Schaden zufügen, weil er ein starker Führer sei, der die Türkei in eine Regionalmacht verwandelt habe.

Auch das Gerangel türkischer Politiker mit den Ministerpräsidenten von Italien und Österreich hat in der Türkei einen Nerv getroffen. Und durch Andeutungen türkischer Politiker, die Todesstrafe wieder einführen zu wollen, wird erneut die mögliche Mitgliedschaft in der Europäischen Union aufs Spiel gesetzt.

Symbolbild Beziehungen Türkei und EU; Foto: picture-alliance/dpa/M. Schrader
Europäisch-türkische Beziehungen auf dem Prüfstand: Nach dem gescheiterten Militärputsch Mitte Juli hatte die türkische Führung mangelnde Solidarität seitens der EU beklagt. Die Europäer kritisierten ihrerseits Massenverhaftungen und Entlassungen tausender vermeintlicher Regierungsgegner.

Das Schüren von Antiamerikanismus ist ein effektives Mittel, den internationalen Korruptionsermittlungen präventiv zu begegnen. Diese jüngste antiamerikanische Welle zielt darauf ab, in Zukunft jegliche gerichtliche Entscheidung in den Vereinigten Staaten oder Italien als ausländische Einmischung zu diskreditieren. Die Tatsache, dass die Vereinigten Staaten gar kein strategisches Interesse daran haben, die türkische Regierung (durch einen Putschversuch oder andere Aktionen) zu unterminieren, ist irrelevant.

Kampf um regionale Vorteile

Auf internationaler Ebene verschafft sich die Türkei mit einer Änderung ihrer Außenpolitik größere Unabhängigkeit bei ihrem (vielleicht riskanten) Kampf um regionale Vorteile. Auch dies lässt auf eine bewusste Entscheidung des Landes schließen.

Ein bedeutsamer Punkt dabei sind die Säuberungsaktionen innerhalb der Militärspitze nach dem 15. Juli. Bis jetzt wissen wir nicht genau, was sich genau an diesem Tag ereignet hat, aber wir wissen, dass die meisten der entlassenen Generäle der NATO gegenüber freundlich gesinnt waren. Auch haben sich amerikanische Generäle über die Entlassung ihrer türkischen Kollegen beschwert und ihre Sorge "über 'längerfristige' Auswirkungen des gescheiterten Putsches auf Maßnahmen zur Terrorabwehr" zum Ausdruck gebracht.

Entscheidend ist, dass die Lücke im türkischen Militär mit Generälen gefüllt werden soll, die "blockfreien und eurasischen Perspektiven" nahe stehen und die "strategische Kultur" des Militärs umgestalten. Dies ist kein normaler Übergang. Das Militär und insbesondere dessen NATO-freundliche Führung war der einzige Machtfaktor, der sich in den letzten Jahren einer bedenklichen Außenpolitik in den Weg gestellt hat.

Ein Beispiel dafür ist die türkische Syrienpolitik und die Art, wie die militärische Führung dabei ihre Position behauptet hat. Die Entlassung von etwa 45 Prozent aller Generäle ist in vielerlei Hinsicht ein erheblicher Einschnitt und lässt darauf schließen, dass die Umgestaltung des Militärs sorgfältig geplant wurde.

Russian president Vladimir Putin and Recep Tayyip Erdogan in conversation at the G20 summit in Hangzhou, China, 04.09.2016 (photo: Reuters/D. Sagolj)
Zäsur im russisch-türkischen Verhältnis: Vor knapp einem Monat hatten der russische Präsident Wladimir Putin und sein türkischer Amtskollege Recep Tayyip Erdogan die monatelange Krise über den Abschuss eines russischen Kampfbombers im syrisch-türkischen Grenzgebiet beigelegt. Nach dem Abschuss Ende November hatte Moskau Sanktionen gegen die Türkei verhängt und unter anderem die Charterflüge gestoppt.

Etablierung einer "neo-osmanischen" Ordnung

Die türkischen Ambitionen, in der Region eine größere Rolle zu spielen, wurzeln im Bedürfnis des Landes, eine neo-osmanische Ordnung wiederzubeleben, im Rahmen derer es im Nahen Osten eine Führungsrolle übernimmt. Vor dem Ausbruch des syrischen Chaos hat die Türkei dieses Ziel dadurch verfolgt, dass sie ihrer Wirtschaft zum Aufschwung verhalf, außenpolitisch eine konziliante "Null-Probleme mit den Nachbarn"-Politik etablierte und so in der gesamten Region Einflusszonen bilden konnte. Nach dem Zerfall Syriens ist dieser Ansatz allerdings gescheitert. Stattdessen verfolgt die Regierung heute eine Politik der "militärischen Abschreckung". Durch die Verpflichtung der Türkei gegenüber der NATO, ihre Allianz mit den Vereinigten Staaten und die Vorherrschaft NATO-freundlicher Generäle innerhalb des Militärs wurde diese bisherige unabhängige Außenpolitik beendet. Dies macht auch die Säuberungsaktion in den oberen Rängen des türkischen Militärs verständlich.

Auf diese Weise wurde also der Putschversuch von der türkischen Regierung genutzt, um ihren neuen außenpolitischen Kurs voranzutreiben. Durch die Dämonisierung des Westens als vermeintlichen Anstifter wurde ein neuer außenpolitischer Weg gerechtfertigt, um für Stabilität im Inneren zu garantieren. Auch konnte dadurch, dass der gescheiterte Putschversuch als eine vom Ausland geförderte Aktion - und damit als Bedrohung der nationalen Sicherheit - interpretiert wurde, ein ganzes Bündel restriktiver Maßnahmen wie Folter und Unterdrückung anderer Meinungen erlassen werden – und dies alles mit breiter Unterstützung der Bevölkerung. Daher ist es unmöglich, die schnellen Entwicklungen in der türkischen Politik zu verstehen, ohne die Verbindungen zwischen Innen- und Außenpolitik zu berücksichtigen.

Für die Außenpolitik der USA sind die aktuellen Ereignisse in der Türkei ein Vorbote für eine Verschlechterung der Lage im Nahen Osten. Ob hochrangige Besuche von Politikern wie US-Außenminister John Kerry die Entwicklungen der nächsten Wochen abmildern können, bleibt abzuwarten. Trotz einiger kritischer Stimmen aus der Europäischen Union, die sich für eine "Neuauflage der Beziehungen zur Türkei" aussprechen und - trotz des immer weniger verlässlichen Charakters der türkisch-westlichen Zusammenarbeit -, sollte die Partnerschaft der Türkei mit den Vereinigten Staaten weiterhin Priorität besitzen. Aus beiderseitigen strategischen Gründen und für die Verbesserung der Situation der Menschenrechte und der Demokratisierung in der Türkei wäre dies wohl von entscheidender Bedeutung.

Kadir Yildirim

© Carnegie Endowment for International Peace 2016

Übersetzt aus dem Englischen von Harald Eckhoff

A. Kadir Yildirim ist Forschungsmitarbeiter mit dem Schwerpunkt türkische Politik am "Baker Institute for Public Policy" der Rice University. Außerdem ist er Verfasser des im Oktober 2016 bei Indiana University Press erscheinenden Buches "Muslim Democratic Parties in the Middle East: Economy and Politics of Islamist Moderation".