Ausgangssperre in der Sesamstraße

Karim, Hanin und Battuta - so heißen die Figuren der neuen Folgen einer auf palästinensische und israelische Kinder zugeschnittenen Sesamstraße. Peter Schäfer beschrieb in der NZZ die schwierigen Produktionsbedingungen.

Die Schwierigkeit, versöhnliches Fernsehen zu machen

Ernie und Bert aus der Sesamstraße

​​Den palästinensischen Fernsehstationen fehlt es an Geld für eigenproduzierte Kindersendungen und, so scheint es oft, auch an dem nötigen Bewusstsein für die Bedürfnisse ihrer jüngsten Zuschauer. Mit amerikanischer Hilfe arbeiten nun Palästinenser zusammen mit israelischen und jordanischen Kollegen an neuen Folgen einer speziell auf sie zugeschnittenen «Sesamstrasse ». Allerdings tobt der Nahostkonflikt auch im Studio.

Hanin versteht es nicht. «Wie kann das blinde Mädchen lesen und schreiben? Ohne Augen, wie soll das gehen?» Sie ist wie immer ungeduldig, will alles wissen. Karim ist zwar langsam, aber dafür besonnener. Er studiert gerne, und gemeinsam kommen sie schliesslich hinter das Geheimnis.

Karim ist ein farbenfroher Hahn und Hanin ein kleines Monster in quietschendem Orange. Die beiden flauschigen Figuren wurden ganz im Stil der « Sesamstrasse » speziell für die palästinensische Version entworfen. «Von uns Arabern heisst es immer, dass Zeit für uns keine Rolle spielt», erklärt Fernsehdirektor Daoud Kuttab lachend. «Deswegen ist Karim ein Hahn, dem an Pünktlichkeit liegt. Ausserdem wollten wir einen stolzen Charakter, da sich unsere Kinder unter der israelischen Besatzung mit ständigen Demütigungen und Minderwertigkeitsgefühlen plagen.» Hanin dagegen ist eine kleine Ghul - diese wandelbaren menschenfressenden Wesen tauchen in zahlreichen Märchen der Region auf. «Hanin soll den Kindern die Angst vor diesen Phantasiewesen nehmen», meint Kuttab. «Sie ist lustig, charismatisch und voller Ideen.»

Fernsehsender Basis für Militär

Wenn das vier- bis siebenjährige Zielpublikum ab Mitte August die 26 Folgen der « Sesamstrasse » auf der Mattscheibe verfolgen kann, wird es von den Schwierigkeiten ihrer Entstehung nichts bemerken. Eigentlich sollten die Dreharbeiten zur Serie längst abgeschlossen sein. Weil aber israelische Panzer Ende März 2002 Ramallah sowie andere Städte besetzten und monatelang immer wieder eine strikte Ausgangssperre verhängt wurde, lagen die Pläne auf Eis. Dazu kam, dass eine Truppeneinheit den Fernsehsender drei Wochen lang zu ihrer Basis umfunktionierte. Die Soldaten warfen Kameras und andere Studiogeräte aus den Fenstern. Alles vom Archiv bis hin zu den Toiletten war von der Zerstörungswut betroffen. «Der Schaden betrug am Ende 250 000 US-Dollar», sagt Kuttab, «einen Teil der -Gelder nutzen wir nun für den Wiederaufbau.»

Das Budget für das Projekt kommt von internationalen Organisationen, auch von der Europäischen Union. Die Federführung liegt beim Children's Television Workshop (CTW) aus New York und umfasst eigentlich eine Koproduktion von israelischen, palästinensischen und jordanischen Sendern. Angedacht war damit eine Neuauflage der vom israelischen und palästinensischen Erziehungsfernsehen gemeinsam produzierten « Sesamstrasse » von 1998. Damals trafen Hanin und Karim vor ihrem Haus israelische Freunde, entdeckten Gemeinsamkeiten und wurden von jungen Fans beider Kulturen gesehen.

«Heute geht das nicht mehr», erklärt Kuttab. «Besuche gibt's nicht mehr. Auch sonst machen wir unser Programm heute unabhängig voneinander. Die Kommunikation ist abgebrochen.» In einer Zeit, in der sich Palästinenser nicht einmal mehr innerhalb der besetzten Gebiete bewegen, geschweige denn ins von Israel annektierte Ost-Jerusalem fahren können, würden die Besuche von Hanin und Karim in Israel als unrealistisch wahrgenommen werden.

Kinder unter Ausgangssperre

Das siebenjährige palästinensische Durchschnittskind in den besetzten Gebieten hat die letzten zwei Jahre mit Ausgangssperren, Bombardierungen und Panzern verlebt. Es konnte oft nicht zur Schule. Der Vater war arbeitslos, weil alle Ortsausgänge von der Armee abgeriegelt waren. Ein Familienmitglied oder Verwandter wurde angeschossen, getötet oder sitzt im Gefängnis. Die Eltern werden von den Soldaten an den Kontrollpunkten gedemütigt.

«Das wirkt sich natürlich auf die Kinder aus, und wir dürfen das nicht einfach unter den Teppich kehren», meint Suha Arraf, die im Filmteam für die Aussenaufnahmen zuständig ist. «Die müsste politischer sein in dem Sinne, dass über Kampfflugzeuge, Soldaten und alles, was damit zusammenhängt, gesprochen werden darf.» Ein Beispiel ist die Figur Battuta, benannt nach dem arabischen Reisenden aus dem 14. Jahrhundert. Der Battuta der « Sesamstrasse » ist ein kleiner Junge mit Fotoapparat, der mit seiner Kuffiye, dem Palästinensertuch, in den palästinensischen Gebieten von Ort zu Ort fliegt. «Das Problem ist», erklärt Arraf, «das Battuta quasi über die israelischen Militärsperren fliegt und ungehindert verschiedene Orte besucht, undenkbar für die Kinder.» Politisch sind die Besuche nicht. Gezeigt werden Töpfer in Gaza, ein Behindertenzentrum in Bethlehem, eine Burg bei Ramallah oder woher der Sesam kommt. In der « Sesamstrasse » ist die Welt noch heil.

CTW allerdings versteht den erzieherischen Wert dieser Darstellungen verschiedener palästinensischer Orte nicht. «Aber wegen der Mobilitätseinschränkung in den besetzten Gebieten kennen viele Kinder nichts ausserhalb ihres eigenen Orts», erklärt Daoud Kuttab. «Deshalb führen wir sie durch Städte und Dörfer und zeigen ihnen die lokalen Besonderheiten.» Insgesamt sind seine Mitarbeiter enttäuscht von den amerikanischen Koordinatoren. Erst gegen Ende der Dreharbeiten kamen sie überhaupt zum ersten Mal nach Ramallah ins Studio. Der Grund dafür ist unklar - Angst, Sicherheitsauflagen? Die israelischen Kollegen dagegen werden von CTW regelmässig betreut und können Missverständnisse so viel schneller ausräumen. «Die Probleme sind elementar», sagt Kuttab. «Sie haben zum Beispiel verlangt, dass wir unter der Ausgangssperre drehen, und einfach nicht verstanden, dass das lebensgefährlich ist.»

Das palästinensische Team fügt sich den Vorstellungen von CTW aber trotzdem weitgehend. Schliesslich steckt viel Geld in der Produktion, das im Sender dringend benötigt wird, und Spass macht die Arbeit mit den Kindern und den Puppen auch. «Was sollen wir machen?», meint Suha Arraf. «Israelisch-palästinensische Koproduktionen sind sexy, Gelder dafür werden leicht bewilligt.» Sie selbst hätte auch kein Problem damit, mit den israelischen Kollegen enger zusammenzuarbeiten. «Aber ich will auch keine Koproduktion, die vorspiegelt, dass zwischen uns alles in Ordnung ist.»

Vorurteile kindgerecht ansprechen

Das thematische Grundprinzip der « Sesamstrasse » hat sich im Vergleich zum Vorgänger von 1998 verlagert, aber nicht geändert. «Früher ging es um Respekt zwischen den Israeli und uns», erklärt Said Andoni, der Produzent des Teams. «Jetzt geht es um innergesellschaftliche Konflikte.» Negative Stereotypen gibt es viele in Palästina. Die Städter schauen auf die Landbewohner herab. Die Bevölkerung Cisjordaniens auf die des Gazastreifens. Die sogenannten Rückkehrer aus anderen Ländern sind Snobs und können nicht richtig Arabisch sprechen. Die Bewohner der Flüchtlingslager sind gewalttätig und dumm. Dazu kommen Vorurteile gegen Behinderte, Christen, Muslime, Frauen. Alles wird in der « Sesamstrasse » kindgerecht angesprochen.

«Aber vor allem sollen die Kinder lernen, sich selbst zu respektieren», sagt der 30-jährige Andoni. Die Lebensgefahr in den besetzten Gebieten und die Unplanbarkeit des Lebens durch sich täglich ändernde Militärmassnahmen zehren an der psychischen Verfassung und den sozialen Beziehungen. «Wir müssen nun zunächst einmal die Probleme in Familie und Gesellschaft benennen, bevor wir uns an grössere Dinge machen.» Die israelische Gesellschaft wird deshalb nur am Rande behandelt. Und auch in der dortigen « Sesamstrasse» sind die Palästinenser nur kurz zu Gast. Auch im Studio in Tel Aviv müssen sich die Macher am Konflikt orientieren, nur eben von der anderen Seite aus. «Wir können unsere Zuschauer nicht für dumm verkaufen», erklärt Andoni. «Die Kinder wollen schliesslich ernst genommen werden.»

Peter Schäfer

Quelle: Neue Züricher Zeitung, 08. 07. 2003