Sadr City – Keimzelle des Widerstands

Auch nach dem Rücktritt von Premierminister Adel Abdel Mahdi gehen die Proteste im Irak weiter. Nach den Toten vom Wochenende schwoll die Protestwelle nochmals erheblich an. Die meisten Demonstranten kommen aus dem Schiitenviertel Sadr City in Bagdad. Ein Ortsbesuch von Birgit Svensson

Von Birgit Svensson

"Jetzt wird es dreckig", kommentiert ein Demonstrant am Tahrir-Platz in Bagdad das, was letztes Wochenende geschehen ist. Es waren die blutigsten zwei Tage seit langem, seitdem am 1. Oktober die Proteste im Irak begannen. Allein in der Hauptstadt kamen 25 Menschen ums Leben. Im ganzen Land sollen es fast 50 gewesen sein.

Zunächst stürmten Tausende Anhänger der schiitischen Hashd al-Shaabi-Milizen das zentrale Protestlager der regierungskritischen Demonstranten auf dem Tahrir-Platz in Bagdad. Die Männer kamen aus allen Richtungen, offenbar eine koordinierte Aktion. Einige Milizionäre trugen dabei irakische Flaggen oder das Emblem der paramilitärischen Einheit. Andere hielten das Porträt des angesehenen Großayatollahs Ali al-Sistani in die Höhe, der am Freitag davor mit einem Appell an das Parlament die Regierung von Adel Abdel Mahdi zum Rücktritt gezwungen hatte.

Zunächst blieb es ruhig, doch tags darauf wurde auf der Rasheed-Straße, nur einen Steinwurf vom Tahrir entfernt, scharf geschossen. Von einer regelrechten Schlacht war die Rede. Es sollen Sicherheitskräfte gewesen sein, die auf Demonstranten geschossen haben, sagen die einen. Andere sagen, dass sich die Schiitenmilizen untereinander bekämpft hätten um die Vorherrschaft über die Straße.

"Wir schmeißen alle raus!"

Die Hashd al-Shaabi-Milizen sind eng mit den iranischen Revolutionsgarden verbunden, die eine zentrale Rolle bei ihrer Finanzierung und Ausbildung gespielt haben und die für den Kampf gegen die Terrormiliz IS gegründet wurden. Die Proteste richten sich immer mehr auch gegen das Nachbarland Iran und seine Einmischung in die irakische Politik. Die meisten Demonstranten am Tahrir-Platz kommen aus Sadr City, dem Schiitenviertel Bagdads.

Hussein in seinem feuerroten Tuk-Tuk in Sadr City; Foto: Birgit Svensson
"Wir machen Revolution", sagt Hussein stolz. Doch dieses Mal gehe sie vom Volk aus und nicht vom Militär. Der Rücktritt des Premiers allein reiche nicht. Und der Iran? Hussein hält sich bedeckt, schaut sich nach allen Seiten um und sagt kurz: "Unsere Regierung ist der Iran, und ich bin gegen die Regierung."

"Wir schmeißen sie raus, wir schmeißen alle raus!" Selbstbewusst sitzt Hussein in seinem feuerroten Tuk-Tuk, der dreirädrigen, motorisierten Rikscha und fährt durch "Medina al-Sadr", wie das Viertel auf Arabisch heißt. Jeden Morgen um sieben Uhr nimmt er an einem der unzähligen Fast Food-Läden sein Frühstück ein, isst Suppe und Machlama, eine Eierspeise mit Tomaten, Zwiebeln und Käse. Dazu gibt es irakisches Hobbes, ein leckeres, rautenförmiges Brot, das um diese Uhrzeit warm serviert wird.

Dass es Hussein schmeckt, sieht man ihm an. Er ist 17 Jahre alt und ganz schön proper. Tagsüber fährt er Menschen in Sadr City, kauft ein für die, die nicht gehen können oder macht Botendienste. Punkt 21 Uhr geht's dann zum Tahrir-Platz, zu den Demonstranten. Meistens bleibt er fünf Stunden dort.

Die Helden der Protestbewegung

Schließlich hält Hussein sein Tuk-Tuk auf einer der Hauptstraßen in Sadr City an und zeigt auf einen Parkplatz, wo reihenweise gelbe und rote Wägelchen stehen. Sie sind zu den Helden der Protestbewegung geworden. Die "Revolutionszeitung" ist nach ihnen benannt, unzählige Graffitis zeigen die kleinen, wendigen motorisierten Rikschas in Aktion, die auch als Flugobjekte dargestellt werden, wie sie über allem schweben.

Hier auf dem Parkplatz in Sadr City ruhen sie sich aus, werden gewaschen und repariert, wenn sie vom Einsatz am Tahrir-Platz zurückkommen, werden aufgetankt, wenn sie wieder dorthin fahren. An normalen Tankstellen dürften sie nicht tanken, sagt Hussein, sie müssten auf der Straße die Kanister kaufen. Und tatsächlich sieht man überall in Sadr City mobile Tuk-Tuk-Tankstellen, die entweder Flaschen mit Treibstoff oder kleine Kanister verkaufen.

In anderen Vierteln gebe es keinen Treibstoff für sie, nur hier. Hussein macht den Motor wieder an und weiter geht es durch das stinkende Armenviertel Bagdads. Wenn der Regen kommt, wie dieser Tage, vermischen sich Abwasser und Regenwasser und bleiben oft tagelang auf den brüchigen Straßenpflastern stehen.

Der größte Slum Bagdads

Sadr City ist der größte Slum der irakischen Hauptstadt. Hier leben mehrheitlich schiitische Araber, und mehrheitlich sind die drei Millionen Einwohner arm. Wer es zu etwas bringt, zieht an den Rand von Sadr City, in die Palästinastraße oder in einen anderen Bezirk. Doch es sind nicht viele, die von hier wegziehen. Es sind mehr, die hierherkommen. Sadr City platzt aus allen Nähten.

Nach dem Sturz der Monarchie 1959 gegründet, ließ der neue Premierminister General Abdel Karim Qasim das Terrain als Siedlungsgebiet für Iraker ausweisen, die massenhaft aus den südlichen Provinzen in die Hauptstadt strömten. Die Landflucht in die Stadt begann. Er nannte den neuen Stadtteil "Medina al-Thaura", Stadt der Revolution. Und das ist Sadr City heute wieder.

Eine Revolution, die vom Volk ausgeht

Proteste auf dem Tahrir-Platz in Bagdad am 29.11.2019; Foto: picture-alliance/AP
Der Aufstand geht weiter: Auch nach dem Rücktritt von Premierminister Adel Abdel Mahdi gehen die Proteste im Irak weiter. Nach den Toten vom Wochenende schwoll die Protestwelle nochmals erheblich an. Die Demonstranten sind entschlossen, nicht zu weichen, bevor nicht alle ihre Forderungen erfüllt sind. Die Abdankung der Regierung ist dabei nur eine der Bedingungen. Sie wollen eine komplette Umstrukturierung des politischen Systems, das Schluss macht mit der ethnischen und religiösen Proporzaufteilung und vor allem jungen Leuten mehr Recht auf Mitsprache gewährt.

Die meisten der Demonstranten am Bagdader Tahrir-Platz kommen von hier. Die Straßenkämpfer, die die Tigrisbrücken erobern mit dem Ziel, die Stadt lahmzulegen, ebenfalls. "Wir machen Revolution", sagt Hussein stolz. Aber dieses Mal gehe sie vom Volk aus und nicht wie 1958 vom Militär. Stimmen werden laut, Sadr City wieder in "Medina al-Thaura" umzutaufen.

"Sie müssen alle weg", sagt Hussein wiederholt leise, aber sehr bestimmt. "Alle sind Diebe und Räuber und inzwischen auch Mörder." Der Rücktritt des Premiers allein reiche nicht. Und der Iran? Was ist mit dem Nachbarn, der den Zorn so vieler Demonstranten auf sich zieht? Hier hält sich Hussein bedeckt, schaut sich nach allen Seiten um und sagt kurz: "Unsere Regierung ist der Iran, und ich bin gegen die Regierung."

Damit ist alles gesagt. So kurz und knapp, wie der junge Hussein es auf den Punkt bringt, drücken sich die anderen Gesprächspartner in Sadr City nicht aus. Doch der Tenor ist bei allen der gleiche. Die Leute in Sadr City haben die Nase voll von Klerikern, die nichts an dem erbärmlichen Zustand der Stadt ändern, sondern nur darauf bedacht sind, sich die eigenen Taschen zu füllen.

Aus Saddam City wird Sadr City

Nach der Invasion der Amerikaner und Briten 2003 wurde das Viertel, das inzwischen Saddam City hieß, in Sadr City umbenannt - im Gedenken an den von Saddam ermordeten Großayatollah Mohammed Sadiq al-Sadr, dem Vater des heutigen Schiitenführers Muktada al-Sadr. Insbesondere Schiiten, die unter dem Diktator verfolgt wurden, hatten sich hier niedergelassen.

Muktada gründete eine Miliz, die Mahdi-Armee, die zeitweise bis zu 50.000 Mann zählte und sich den Einfluss im Stadtteil sicherte. Und nicht nur das. Seine Milizionäre erhielten eine militärische Ausbildung und versetzten ganz Bagdad in Angst und Schrecken. Todesschwadronen verfolgten und töteten diejenigen, die mit dem Regime Saddams irgendwie verbunden waren.

Der Irak erlitt ein noch nie da gewesener Brain-Drain, ein Exodus der Elite. Fiel das Wort Mahdi-Armee oder Sadr City, verfielen die Menschen in Schockstarre. Nach dem Abzug der Amerikaner aus dem Irak 2011 brüstete sich Muktada al-Sadr damit, dass er 6.000 Anschläge auf US-Truppen verübt habe. Sadr City stellte eines der größten Sicherheitsrisiken für die amerikanische Besatzungsmacht dar.

Wachpersonal vor dem Medienzentrum Muktada al-Sadrs; Foto: Birgit Svensson
"Auch wir haben die Seiten gewechselt": Einer der Personen vor dem Medienzentrum Muktada al-Sadrs outet sich als Soldat, als Angehöriger der irakischen Armee, der kürzlich bei einem Einsatz am Tahrir-Platz verletzt wurde. Er trägt eine Bandage am Fuß und humpelt. „Wir sind betrogen worden“, gibt der Polizist zur Begründung für die Misere an, in der die Menschen in Sadr City leben.

Hussein setzt uns vor dem Medienzentrum Muktada al-Sadrs ab. Ein üppiger Bau in gelbem Sandstein. Über dem Portal prangt ein Poster mit dem Abbild des ermordeten Großayatollahs, dem Namensgeber von Sadr City. Das Gebäude selbst ist verwaist. Niemand ist zu sehen. Nur ein Polizeiauto steht am rechten Rand. Zwei Männer, einer in Uniform, trinken Tee.

Ihre Namen wollen sie nicht nennen, fangen aber an zu reden. Bei den Kämpfen am Wochenende sind auch drei Polizisten getötet worden. Der Herr in Uniform sagt: "Wir sind auf Seiten der Protestbewegung." Und der andere fügt hinzu: "Auch wir haben die Seiten gewechselt."

Der verblichene Mythos des Robin Hood von Sadr City

Er outet sich schließlich als Soldat, als Angehöriger der irakischen Armee, der kürzlich bei einem Einsatz am Tahrir-Platz verletzt wurde. Er trägt eine Bandage am Fuß und humpelt. "Wir sind betrogen worden", gibt der Polizist zur Begründung für die Misere an, in der die Menschen in Sadr City leben.

Auf die Frage, warum sie dann Muktada al-Sadr und seine Leute letztes Jahr gewählt hätten, zucken die beiden mit den Schultern. Der Soldat sagt: "Wir haben ihnen geglaubt." Inzwischen taucht ein Mann auf, der zum Medienzentrum gehört. Er verspricht, ein Treffen mit einem Sprecher von Muktada al-Sadr zu organisieren. Am Telefon wird die Anfrage abgelehnt. So geht es noch mehrere Male. Man wolle nicht mit der Presse sprechen. Nicht jetzt.

"Irak den Irakern!"

"Dreiviertel von Muktadas Leuten sind Diebe", behauptet Haider, ein mit Hussein befreundeter Tuk-Tuk-Fahrer, "wie alle anderen auch". Sie brächten Millionen außer Landes, einige hätten zwei Pässe. Sechs Ministerien seien mit Muktadas Leuten besetzt. Religion sei für sie ein Geschäft, "mit der sie uns klein halten".

[embed:render:embedded:node:37499]Dabei gab der 45-Jährige einst den Rächer der Armen, wurde zum Robin Hood von Sadr City, stellte sich 2016 an die Spitze der Demonstrationsbewegung, die damals gegen zu wenig Strom und schlechtes Wasser protestierte. Seine Anhänger stürmten die Grüne Zone, Bagdads schwer bewachten Regierungsbezirk, setzten sich auf die Stühle der Abgeordneten im Parlament und forderten Mitbestimmung.

Aus den Wahlen vom Mai 2018 ging das Bündnis "Sai'run", das Muktada al-Sadr geschmiedet hatte und so etwas wie eine Bürgerbewegung darstellte, als Sieger hervor. Es herrschte Aufbruchstimmung. Auch in Sadr City. Die Hoffnung war groß, dass sich das Leben verbessern würde, wenn ihre Leute an der Regierung seien. "Doch sie haben uns getäuscht und betrogen", sagt auch Haider. Inzwischen fährt Muktada al-Sadr einen Ferrari, schickt seinen Sohn als Botschafter Iraks nach Südamerika, fliegt zum Autorennen nach Qom in den Iran. Auch momentan soll er im Iran sein.

"Wir werden nicht aufhören, bis sie alle weg sind", sagen Hussein und Haider wie aus einem Munde. "Irak den Irakern!" Bei der Mahdi-Armee hätten sie gelernt, die Angst zu überwinden, meint ein anderer Tuk-Tuk-Fahrer. Das käme ihnen jetzt zugute.

Dass Moktada al-Sadr seine Miliz in "Saraya Salam" (Friedensbrigaden) umgetauft hatte und sie seit dem Sieg über die Terrormiliz "Islamischer Staat" vor zwei Jahren eigentlich entwaffnen wollte, kommentieren die jungen Männer mit einem Augenzwinkern. "Wenn jemand tatsächlich eine Revolution im Irak hinbekommt, dann die Leute aus Sadr City."

Birgit Svensson

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