Und es gab sie doch!

Der Essayist und langjährige Korrespondent Christopher de Bellaigue stellt mit seinem neuen Sachbuch das 19. Jahrhundert in der islamischen Welt in ein neues Licht. Seine Grundthese ist, dass der islamische Nahe Osten eine echte Aufklärung durchgemacht hat. Von Arnold Hottinger

Von Arnold Hottinger

Mit "The Islamic Enlightenment: The Modern Struggle between Faith and Reason" hat Christopher de Bellaigue ein Buch geschrieben, mit dem er zeigen wollte, dass es tatsächlich eine Aufklärung in der islamischen Welt gegeben hat. Der Vorgang der "Reformbewegungen" in den drei Fokalpunkten der islamischen Kulturen, Kairo, Istanbul und Teheran, die sich seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts veranlasst sahen, von den europäischen Nachbarkulturen "zu lernen", um selbst unter dem wachsenden Druck dieser Nachbarn zu überleben, ist oftmals geschildert worden. Doch de Bellaigue bringt einen neuen Standpunkt ein.

Bisher war die Schilderung dieser "Reform" vom Gesichtspunkt jener gesehen, die sich als die Urheber und die Besitzer der Errungenschaften der Aufklärung sahen. Sie beschrieben, wie jene anderen Kulturen von der unseren lernten. Von ihrem Gesichtspunkt aus war der Lernprozess immer ein ehrenwertes Bemühen, jedoch unvollständig, so wie WIR konnten SIE eben doch nicht werden, obwohl sie fleißig von uns zu lernen versuchten. Registriert wurde das "beinahe" aber eben doch nicht ganz Erreichte, der "Fortschritt" von Schülern, die unsere Schüler und Nachahmer blieben.

Aus der Sicht der Bewerkstelliger

De Bellaigue gelingt es, die Entwicklung vom Standpunkt der sie in Gang Setzenden selbst zu schildern. Er vermittelt als erster, was es für Araber, Türken, Iraner im 19. Jahrhundert bedeutete, mit der fremden Kultur in Kontakt zu kommen, und er hebt hervor, wie stark über Jahre diese fremde zur neuen und eigenen Lebensform wurde.

Buchcover  Christopher de Bellaigue: "The Islamic Enlightenment: The Struggle Between Faith and Reason, 1798 to Modern Times";  Liveright Publishing Corporation
"Christopher de Bellaigue ist dank einem unvergleichlichen Einfühlungsvermögen in der Lage, das Geschehen mit den Augen der Protagonisten zu sehen, die ihre bisher traditionellen Gesellschaften aufklären, statt, wie es in allen früheren Darstellungen geschah, mit den Augen der Europäer oder anderen Bewohner 'des Westens', die billigend oder missbilligend von 'Verwestlichung' sprechen", schreibt Hottinger.

Seine Grundthese ist, dass der islamische Nahe Osten eine echte Aufklärung durchgemacht hat. Gewiss, die europäischen Vorbilder bestanden und wurden übernommen. Doch er legt den Akzent auf die Arbeit der Übernahme, die Leistungen, die nahöstliche Persönlichkeiten als Aufklärer ihrer Gesellschaften vollzogen, nicht auf den Umstand, dass diese Übernahmen des Fremden in die Nachbarkultur notwendigerweise unvollkommene sein mussten, gemessen an dem, was in Europa bestand.

Muslimische Träger der neuen Kultur

Schließlich ging es darum, die eigene Gesellschaft aufzuklären, nicht sie zugunsten fremder Modelle zu liquidieren. Die bekannten Namen der frühen, zu Lernzwecken nach Paris und nach London entsandten Pioniere kommen auch bei de Bellaigue vor. Doch von ihm erfährt man mehr Einzelheiten über ihr Leben und ihre Einwirkung auf die eigenen Gesellschaften, so dass sie als Personen in den Mittelpunkt rücken.

Bisher waren nahöstliche Aufklärer wie der Ägypter Rifaat at-Tahtawi (1801–1873), der Iraner Mirza Saleh (ca. 1790–1840), der Großbritannien besuchte und beschrieb, der Türke Ibrahim Sinasi (1825–1871), der entscheidend mithalf, das moderne Türkisch als Gebrauchssprache einzuführen und die erste türkische Zeitung von Bedeutung herausbrachte, als bloße Vehikel der Übertragung gesehen und geschildert worden.

Vielen anderen, die hier auch zu einer neuen Darstellung kommen, geschah das Gleiche. Das neue Buch bringt sie ins Licht als aktive Träger der neuen Kultur, welche die eigene umformen halfen.

Der Verfasser hebt hervor, dass in der Tat eine große Wandlung der traditionellen islamischen Gesellschaften bewerkstelligt wurde durch Menschen, die diesen Gesellschaften angehörten. Das Augenmerk verschiebt sich von: "sie sind fast so geworden wie wir" zu: "sie haben Werte gefunden und in ihre eigenen Gesellschaften einzubauen vermocht, die diese von Grund auf und bleibend veränderten".

Unvergleichliches Einfühlungsvermögen

Das europäische Auge, das auf die Nachbarkulturen blickt, sieht bis heute die Unterschiede: "Dies und jenes ist doch ganz anders als bei uns, trotz aller Bemühungen, von uns zu lernen und zu übernehmen." Das eigene Auge sieht, wie die Zeiten sich ändern, die eigene Kultur durch die eigenen von den Unsrigen unternommenen Anstrengungen sich gänzlich verändert hat, "nichts ist mehr wie damals!"

De Bellaigue ist dank einem unvergleichlichen Einfühlungsvermögen in der Lage, das Geschehen mit den Augen der Protagonisten zu sehen, die ihre bisher traditionellen Gesellschaften aufklären, statt, wie es in allen früheren Darstellungen geschah, mit den Augen der Europäer oder anderen Bewohner "des Westens", die billigend oder missbilligend von "Verwestlichung" sprechen.

Reaktion nach der Aufklärung

Die islamische Aufklärung geriet in eine Krise. Auch diese schildert der Verfasser, wenngleich weniger ausführlich als die Leistungen der vorausgehenden Aufklärungszeit. Die Krise kommt mit dem Ersten Weltkrieg, der das Osmanische Reich zerschlägt und mit seinen Folgen, darunter die Aufteilung der arabischen Welt unter die Kolonialstaaten (heute oft unter der Kurzformel "Sykes-Picot" zusammengefasst).

Auch die Entstehung des türkischen Nationalstaates und eines unter britischer und später amerikanischer Leitherrschaft stehenden nationalistischen Irans. Ein Widerspruch bricht auf zwischen den Werten der Freiheit, die der Westen proklamiert und seinen Taten, die auf Knechtung der Nachbarzivilisationen hinauslaufen.

Der Zwang, der nun mit der Aufklärung einhergeht, Aufklärung auf Befehl und zum Nutzen der Befehlenden, erlaubt es den konservativen Feinden der Aufklärung, die es immer gegeben hat, die Oberhand zu gewinnen und die Aufklärung, insoweit sie Befreiung war, zu diskreditieren.

Militärdiktaturen ergreifen die Macht

Das "liberale Zeitalter" geht zu Ende. Technologie, der Waffen in erster Linie, aber auch der Fabriken, gilt weiter als notwendig. Ohne sie kommt man nicht mehr aus. Doch die westlichen Nachbarn haben sich so weit aufgedrängt, dass nun die Abwehr gegen sie überwiegt. Militärdiktatoren ergreifen die Macht nach dem Zurückweichen der Kolonialisten im Gefolge des Zweiten Weltkrieges. Schon der Umstand, dass sie es als nötig erachten, Scheinparlamente aufrecht zu erhalten, zeigt, dass die traditionelle Welt sich verändert hat.

Doch der immer schwerer wiegende Druck des Fremden gibt dem Ruf nach dem Eigenen Auftrieb. Den aufklärerischen Versuch, die eigene Gesellschaft nach rationalen Kriterien zweckmäßiger einzurichten, übermannt der nationalistische Entwurf. Er geht darauf aus, die Macht der eigenen Gesellschaft, nun in den importierten Begriff der Nation gefasst, soweit wie möglich voranzutreiben. Wozu eine militärische Führung als notwendig erachtet wird.

Abgelöst durch ideologisierten Islam

Wie die auf diese Militärführung gesetzten Hoffnungen zu schwinden beginnen, weil sie Kriege verliert statt sie zu gewinnen, erhebt sich der Ruf nach einer Rückkehr zu den eigenen "islamischen" Wurzeln, zuerst artikuliert durch die Muslimbrüder (Gründungsjahr 1928), und dann durch den radikalen Flügel derselben unter dem Einfluss des unter Nasser 1966 hingerichteten Sayyid Qutb. Dies beschreibt de Bellaigue ausführlich genug, um die darunterliegenden Motive und Gründe herauszuarbeiten.

Die weiteren Folgen deutet er nur noch an: eine neu gebastelte Islam- Konstruktion, die nichts mehr mit dem bisher gelebten Selbstverständnis der Religion zu tun hat, aber viel mit dem Willen, das Fremde zurückzuweisen, greift um sich. Dies geschieht am abruptesten, wenn dieses Fremde mit Waffengewalt von außen hineingepresst wird, wie in Afghanistan und wie im Irak.

Doch auch in den Ländern, die keiner militärischen Invasion ausgesetzt sind, von Iran bis Marokko, gewinnt die neue Selbstsicht der Muslime an Boden, die den Islam als Rückhalt gegen das Eindringen der fremden Ideen und Mächte zu mobilisieren versucht. Während es zur gleichen Zeit überall selbstgewissere Mehrheiten gibt, die hoffen, den vor zweihundert Jahren begonnenen Weg in eine aufgeklärte Zukunft ohne völligen Bruch mit ihrer eigenen Tradition wiederzufinden und fortzusetzen.

Arnold Hottinger

© Qantara.de 2017

Arnold Hottinger zählt zu den namhaftesten europäischen Experten des Nahen- und Mittleren Ostens. Über 30 Jahre lang arbeitete der Orientalist als Korrespondent der "Neuen Zürcher Zeitung" aus Beirut, Madrid und Nikosia. Er verfasste zahlreiche Bücher über die Politik und Kultur der islamischen Welt, u.a. "7mal Naher Osten" (1988), "Gottesstaaten und Machtpyramiden. Demokratie in der islamischen Welt" (2000), "Islamische Welt: Der Nahe Osten: Erfahrungen, Begegnungen, Analysen" (2004).