"Ketzer" als Schreckgespenster

Als vermeintliche Gralshüter des Glaubens missbrauchen viele arabische Regime ihre religiöse Macht dazu, um den Mangel an demokratischer Legitimität ihrer Staaten auszugleichen. Daher wittern sie im Atheismus die große Gefahr, die ihre Länder in Chaos und Sittenlosigkeit stürzen könnte. Von Brian Whitaker

Von Brian Whitaker

Die meisten arabischen Länder reagieren auf Atheismus und Abfall vom islamischen Glauben in der Regel mit großer Panik. In Ägypten wurden beispielsweise gleich zwei Regierungsministerien damit beauftragt, einen nationalen Plan zur "Eliminierung des Atheismus" zu entwickeln. Und in Saudi-Arabien wird jeglicher "Aufruf zum Atheismus" im Rahmen der jüngsten Anti-Terror-Gesetze als terroristisches Vergehen betrachtet.

Insbesondere in einer Zeit, in der uns diejenigen, die im Namen ihrer Religion töten, viele Sorgen bereiten, wirkt diese Verfolgung von Atheisten doch recht bizarr. Aber die arabischen Gesellschaften hegen allgemein eine Abneigung gegen jedweden Nonkonformismus, und die Regierungen der Region favorisieren daher häufig eine offizielle Version des Islam, die ihren politischen Interessen dient. Also wird sowohl der Dschihadismus als auch der Atheismus – obwohl die beiden sich völlig voneinander unterscheiden – als Form sozialer oder politischer Abweichung betrachtet. In den arabischen Medien wird dann die Angst verbreitet, die Ideen derjenigen, die Gott und die Religion ablehnen, könnten sich durchsetzen und dann zu Chaos und Sittenlosigkeit führen.

In sechs arabischen Ländern – in Kuwait, in Qatar, in Saudi-Arabien, im Sudan, in den Vereinigten Arabischen Emiraten und im Jemen – kann die Abkehr vom Glauben mit dem Tode bestraft werden. In den letzten Jahren fanden zwar diesbezüglich keine Hinrichtungen statt, allerdings werden gegen Menschen, denen vorgeworfen wird, die Religion verunglimpft zu haben, lange Haftstrafen verhängt – egal wie trivial diese Beschimpfungen auch gewesen sein mögen.

Feldzug gegen Atheisten, Humanisten, Islamisten

In Ägypten, wo im Jahr 2013 Militärchef Abdel Fattah al-Sisi gegen einen islamistischen Präsidenten putschte und so an die Macht kam, werden seitdem sowohl Muslimbrüder als auch religiöse Extremisten und Atheisten verfolgt. In diesem Zusammenhang wurde unlängst in Kairo ein Café geschlossen, das angeblich von Atheisten besucht wurde. Und ein College-Bibliothekar, der im Fernsehen über Humanismus gesprochen hatte, läuft tatsächlich Gefahr, deswegen seinen Arbeitsplatz zu verlieren und wegen "Verbreitung atheistischer Ideen" angeklagt zu werden.

Graffiti in Kairo zeigt inhaftierten Ex-Präsident Mohamed Mursi; Foto: Reuters
Atheisten und Muslimbrüder als Sündenböcke: In Ägypten spielt die Entstehung der sogenannten „atheistischen Bedrohung“ der politischen Kommunikationsstrategie der Regierung in die Hände. Offiziell wird diese Entwicklung als das angeblich traurige Ergebnis der zwölfmonatigen Regierungszeit der Muslimbruderschaft unter Mohamed Mursi dargestellt.

Dass arabische Atheisten immer deutlicher sichtbar werden, liegt vor allem an den Sozialen Medien. Auch könnte man meinen, es gäbe immer mehr von ihnen. Im Jahr 2012 führte WIN/Gallup-International eine Umfrage durch, die sich mit den Religionen in 57 Ländern beschäftigte. Die Ergebnisse dieser Befragung lösten insbesondere in Saudi-Arabien Alarm aus – im Geburtsland des Islam, das sich für das heiligste aller arabischen Länder hält. Von denjenigen, die dort befragt wurden, gaben 19 Prozent an, nicht religiös zu sein, fünf Prozent bekannten sich als überzeugte Atheisten.

In Ägypten wiederum spielt die Entstehung der sogenannten "atheistischen Bedrohung" der politischen Kommunikationsstrategie der Regierung in die Hände. Offiziell wird diese Entwicklung als das angeblich traurige Ergebnis der zwölfmonatigen Regierungszeit der Muslimbruderschaft dargestellt.

Auf ähnliche Weise glauben manche Beobachter, der "Islamische Staat" (IS), der manche Muslime zum Kampf anstachelt, sei auch dafür verantwortlich, dass sich andere vom Islam abwenden. Für solche Theorien gibt es allerdings kaum Belege. Immerhin lehnen Atheisten sämtliche Religionen ab, und nicht etwa nur deren befremdlichen Tendenzen und Ausformungen. Muslime, die sich vom Glauben abwenden, halten meist andere Aspekte des Islam für problematisch als diejenigen, die in den westlichen Medien kritisiert werden.

Im Jahr 2014, als ich für mein Buch Arabs Without God recherchierte, versuchte ich herauszufinden, warum manche Araber zu Atheisten werden. Niemand, mit dem ich gesprochen hatte, gab als Hauptgrund den Terrorismus an. Diejenigen, die sich vom Islam abwandten, taten dies, weil sie grundsätzliche religiöse Glaubenssätze nicht teilen konnten, die ihnen meist in der Schule oder von regierungstreuen Klerikern beigebracht worden waren.

In Interviews sprachen sie oft von einer schrittweisen Abkehr von der Religion, die sich über Jahre hingezogen hatte. Es gab zum Zeitpunkt ihrer Hinwendung zum Atheismus kein plötzliches "Schlüsselmoment". Normalerweise begann ihr Wandlungsprozess mit einer nagenden Unsicherheit über manche Aspekte der religiösen Lehre, die ihnen unlogisch erschienen. Und oft hofften sie, diese Widersprüche dann doch noch lösen zu können, um zu einem besseren Verständnis ihres Glaubens zu gelangen.

Der zornige, unbarmherzige Gott

Was von ihnen am häufigsten als erster Schritt zum Atheismus bezeichnet wurde, war die Wahrnehmung, dass das göttliche Urteil so offensichtlich ungerecht sei. Das Bild, das sie gelernt hatten, war das eines zornigen und oft irrationalen Gottes, die sich ähnlich verhält wie ein arabischer Diktator oder ein altmodischer Familienpatriarch – eine menschenähnliche Figur, die beliebige Entscheidungen trifft und sich darüber freut, Menschen beim geringsten Anlass bestrafen zu können. Eindeutig wurden sie in ihrer Kindheit von den – im Koran ständig wiederholten – grässlichen Warnungen beeinflusst, was mit denjenigen geschieht, die vom Glauben abfallen.

Muslima liest aus dem Koran; Foto:
Abkehr vom strafenden und autoritären Gott: "Das Bild, das viele Atheisten vor ihrem Abfall vom Glauben gelernt hatten, war das eines zornigen und oft irrationalen Gottes, die sich ähnlich verhält wie ein arabischer Diktator oder ein altmodischer Familienpatriarch – eine menschenähnliche Figur, die beliebige Entscheidungen trifft und sich darüber freut, Menschen beim geringsten Anlass bestrafen zu können. Eindeutig wurden sie in ihrer Kindheit von den – im Koran ständig wiederholten – grässlichen Warnungen beeinflusst, was mit denjenigen geschieht, die vom Glauben abfallen", schreibt Whitaker.

Angesichts dessen, dass der Islam oft dazu benutzt wird, die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern zu zementieren – beispielsweise durch diskriminierende Erbschaftsregeln oder die als weibliche "Bescheidenheit" beschönigte Unterordnung der Frau –, könnte man vermuten, dass die Frauen im Nahen Osten mehr Gründe für eine Abkehr vom Islam haben als die Männer. Und mit Gewissheit rebellieren auch manche Frauen, doch die sozialen Bedingungen des patriarchischen Systems machen es ihnen häufig schwer, überhaupt intensiv darüber nachdenken zu können.

Auffällig ist meines Erachtens nach vor allem ein Unterschied zwischen arabischen und westlichen Atheisten. Dieser besteht darin, dass die wissenschaftlichen Argumente in Hinblick auf die Evolution und die Ursprünge des Universums, die den westlichen atheistischen Diskurs stark prägen, für Araber, die sich von ihrer Religion abwenden, eher kaum eine Rolle spielt – zumindest zu Beginn. Sie stellen zunächst nicht so sehr die Möglichkeit (oder Unmöglichkeit) der Existenz von Gott in Frage, sondern vielmehr, ob Gott überhaupt in der Form existieren kann, wie dies von den organisierten Religionsgemeinschaften propagiert wird.

Verbleibender vage Glaube an eine Gottheit

Buchcover "Arabs without God" von Brian Whitaker im Verlag CreateSpace Independent Publishing Platform
Der britische Journalist Brian Whitaker versuchte in seinem Buch Arabs Without God herauszufinden, warum manche Araber zu Atheisten werden. Niemand, mit dem er sprach, gab hierzu als Hauptgrund den Terrorismus an. Diejenigen, die sich vom Islam abwandten, taten dies, weil sie grundsätzliche religiöse Glaubenssätze nicht teilen konnten, die ihnen meist in der Schule oder von regierungstreuen Klerikern beigebracht worden waren, so Whitaker.

Einige der arabischen Atheisten lehnen zwar den Gott des Islam ab, behalten aber einen vagen Glauben an eine Gottheit oder drücken einen Wunsch nach "Spiritualität" aus. Unter anderen Bedingungen hätten sie vielleicht unterschiedliche Glaubenssysteme oder "New-Age"-Religionen ausprobiert, doch dazu haben sie im Nahen Osten kaum Gelegenheit.

Die meisten Muslime sind gegenüber dem Christen- und Judentum, die sie als "himmlische" Religionen betrachten, durchaus tolerant, alle anderen Religionen werden jedoch normalerweise nicht anerkannt oder erlaubt – obwohl deren Glaubensriten möglicherweise doch heimlich praktiziert werden. In Kuwait gibt es Yogakurse und "Heilungszentren", die von Buddhisten geleitet werden, aber ihr religiöser Hintergrund wird nicht öffentlich bekannt gemacht.

Säkularisten und "progressive" Muslime

Manche Muslime entscheiden sich auch aus taktischen Gründen dafür, nicht völlig mit ihrer Religion zu brechen. Sie bezeichnen sich dann als Säkularisten, "progressive" Muslime oder muslimische "Reformer".

Sie spüren, dass sie im Kampf gegen unterdrückende religiöse Praktiken mehr erreichen können, wenn sie die Existenz Gottes nicht in Frage stellen, da ihnen als Atheisten wahrscheinlich niemand zuhören würde.

Zweifellos täte es dem Nahen Osten in sozialer und politischer Hinsicht sehr gut, wenn eine Reform des Islam einsetzen würde. Aber für dieses Ziel können sich Atheisten nicht einsetzen, ohne dabei ihre Prinzipien zu opfern.

Progressivere Anhänger des Islam betrachten den Koran meist innerhalb seines historischen Zusammenhangs. Sie argumentieren, die Regeln, die zur Zeit des Propheten galten, könnten heute im Licht sich verändernder Umstände neu interpretiert werden – aber auch diese Einstellung bedeutet immer noch, den Koran als höchste religiöse Autorität anzuerkennen.

Der Status des Koran ist sowohl für die Anhänger als auch für die Gegner des Islam ein besonders wichtiges Thema. Während die Christen die Bibel meist als göttlich inspiriert, aber von Menschen geschrieben betrachten, stellt der Koran angeblich das tatsächliche Wort Gottes dar, wie es Mohammed vom Erzengel Gabriel (auf arabisch Jibril) übermittelt wurde.

Für Atheisten mit muslimischem Hintergrund scheint das Problem der Authentizität des Korans und des Propheten oft wichtiger zu sein als die Frage nach der Existenz Gottes – und in dieser Hinsicht folgen sie einer langen Tradition: Zwei bedeutende persische Persönlichkeiten des neunten und zehnten Jahrhunderts, Ibn al-Rawandi und Abu Bakr al-Razi, wurden oft als Atheisten bezeichnet, obwohl es passender wäre, sie anti-prophetische Rationalisten zu nennen.

Die Frage, ob Gott existiert oder nicht, war ihnen nicht so wichtig (und sie hatten kaum wissenschaftliche Erkenntnisse, um sie klären zu können), aber den Propheten, insbesondere Mohammed, standen sie sehr skeptisch gegenüber. Da viele Menschen behaupteten, solche Propheten zu sein, sich aber oft gegenseitig widersprachen, war es nur logisch, dass nicht alle von ihnen eine direkte Leitung zu Gott haben konnten. Also war die Frage, welche dieser Propheten – wenn überhaupt – echt waren.

Bildcollage Galileo Galilei; Quelle:
Obwohl der Konflikt zwischen der Wissenschaft und dem Christentum auf eine lange Geschichte zurückblickt, haben die Muslime wissenschaftliche Erkenntnisse zumeist nicht als Bedrohung wahrgenommen. Zu der berühmten Begebenheit aus dem Jahr 1633, als die römisch-katholische Kirche den Wissenschaftler Galileo Galilei zwang, seinem "ketzerischen" Glauben, die Erde drehe sich um die Sonne, abzuschwören, gibt es keine islamische Entsprechung.

Damals wie heute richteten sich die Argumente der Nichtgläubigen also eher gegen die irrationalen Bestandteile der religiösen Doktrin, und nicht so sehr auf die Frage nach Beweisen für die Existenz Gottes. Dies ist der Punkt, an dem sich die atheistischen Reaktionen gegen den Islam von denjenigen unterscheiden, die sich gegen das Christentum richten.

Obwohl der Konflikt zwischen der Wissenschaft und dem Christentum auf eine lange Geschichte zurückblickt, haben die Muslime wissenschaftliche Erkenntnisse zumeist nicht als Bedrohung wahrgenommen. Zu der berühmten Begebenheit aus dem Jahr 1633, als die römisch-katholische Kirche den Wissenschaftler Galileo Galilei zwang, seinem "ketzerischen" Glauben, die Erde drehe sich um die Sonne, abzuschwören, gibt es keine islamische Entsprechung. Das wissenschaftliche Engagement der Muslime war immer schon eng mit ihrem Glauben verbunden. Da sie einen Mondkalender hatten und für ihre Gebete die Himmelsrichtung von Mekka ermitteln mussten, interessierten sie sich besonders für Astronomie.

Darwins Evolutionstheorie unter Verschluss

Die Reaktion der Muslime auf die Veröffentlichung von Charles Darwins Buch Die Entstehung der Arten im Jahr 1859 war eher gemischt: Einige von ihnen, wie der Großmufti von Ägypten, reagierten auf die Probleme, die das Christentum mit Darwins Theorie hatte, mit einer gewissen Schadenfreude. Sie argumentierten, der Islam sei relativ frei von Konflikten mit der Wissenschaft und daher besser in der Lage, mit diesem Thema locker umzugehen.

Heute allerdings wird der Widerstand der Muslime gegen den Darwinismus immer stärker, was wahrscheinlich an dem Trend hin zum religiösen Konservatismus und zur buchstäblichen Auslegung der Schriften liegt, der seit den 1970er Jahren erkennbar ist. Daher ist die Evolution heute ein Bereich, mit dem sich die arabischen Schulen, Universitäten und Medien aus Angst vor Beschwerden nicht gern beschäftigen.

Im Nahen Osten ist die Frage nach Gott nicht nur ein Thema intellektueller Diskussionen, sondern viel mehr. Da Politik und Religion so eng miteinander verbunden sind, können Zweifel an der Religion bedeuten, dass auch die Politik in Frage gestellt wird. Die meisten arabischen Regime missbrauchen ihre religiöse Macht dazu, um ihren Mangel an demokratischer Legitimität auszugleichen. Dazu fördern sie immer gerade diejenige Version des Islam, die ihnen dabei hilft, ihre Macht zu festigen.

Brian Whitaker

© MPC Journal 2017

Übersetzt aus dem Englischen von Harald Eckhoff

Brian Whitaker ist britischer Journalist. Er war Redakteur für den Nahen Osten der Tageszeitung "The Guardian".