Normalisierung auf Kosten der Syrer

Der syrisch-jordanische Grenzübergang bei Jaber-Nassib ist wieder offen.
Der syrisch-jordanische Grenzübergang bei Jaber-Nassib ist wieder offen.

Eine Reihe von Mitgliedsstaaten der Arabischen Liga hat in den letzten Wochen angekündigt, ihre Beziehungen zum syrischen Regime wiederzubeleben. Selbst eine Einladung zum Gipfel der Arabischen Liga in Algerien im März stand im Raum, doch dieser wurde inzwischen verschoben. Von Bente Scheller

Von Bente Scheller

An den Umständen hat sich nichts geändert, die 2011 dazu führten, die syrische Mitgliedschaft in der Arabischen Liga auf Eis zu legen. Damals wurde das Regime aufgefordert, alle Gefangenen freizulassen, die Panzer aus den Städten abzuziehen und Verhandlungen mit der Opposition zu beginnen. Diesem Vorschlag hatte Assad zwar zugestimmt, jedoch noch nicht einmal den Anschein erweckt, ihn auch umzusetzen.

Hunderttausende sind seither in den Bombardements der syrischen und russischen Luftwaffe getötet und über die Hälfte der syrischen Bevölkerung vertrieben worden. Zehntausende weitere Menschen sind seit Jahren "verschwunden“, viele von ihnen mutmaßlich umgebracht worden, die meisten durch das syrische Regime. Die massiven Menschenrechtsverletzungen haben zu einer Reihe meist zielgerichteter Sanktionen durch die EU-Mitgliedsstaaten geführt. Die USA haben ihr Instrumentarium vor zwei Jahren durch den sog. Caesar Act (Caesar Syria Civilian Protection) erweitert, der indirekte Sanktionen auch über Drittstaaten verhängt, falls diese Beziehungen zum Regime pflegen beziehungsweise den Wiederaufbau in Syrien unterstützen.

Statt die Verfehlungen des Regimes zu bestrafen, so die Logik einiger Mitgliedsstaaten der Arabischen Liga, soll die angestrebte Normalisierung "Schritt für Schritt“ Anreize schaffen, damit das Regime sein Verhalten ändert. Während dies in anderen Kontexten funktionieren mag, läuft diese Annahme allem entgegen, was die bisherige Erfahrung in Syrien lehrt.

Vom Handel profitiert vor allem das Regime

Zunächst einmal ist es nicht so, dass das Regime die letzten Jahre über leer ausgegangen wäre. Trotz der zielgerichteten europäischen Sanktionen gegen die höchstrangigen Vertreter in Damaskus haben diese immer Möglichkeiten gefunden, sich zu bereichern. Syrische Pässe gehören zu den teuersten weltweit. Durch vorgegebene Wechselkurse wandert von jedem Dollar an humanitärer Hilfe über die Hälfte in die Taschen des Assad-Clans. Angehörige von Verhafteten und Verschwunden werden von allen Ebenen des Justiz- und Sicherheitsapparates erpresst. Viele von ihnen haben horrende Beträge gezahlt, um etwas über das Schicksal ihrer Angehörigen zu erfahren.



Aber selbst bei diesem zynischen Geschäft hat sich das Regime nie verpflichtet gesehen, eine wirkliche Gegenleistung zu erbringen. Die meisten der Betroffenen wurden mit Lügen und widersprüchlichen Informationen abgespeist; es wurden kaum Gefangene freigelassen, stattdessen werden die Haftbedingungen immer desolater.

Assad trifft den emiratischen Außenminister Abdullah bin Zayed al Nahyan; (Foto: SANA/AP Photo/picture-alliance)
Neue Freunde vom Golf: Am 9. November 2021 besuchte der emiratische Außenminister Scheich Abdullah bin Zayed al-Nahyan Damaskus. Es war die ranghöchste Visite aus den Vereinigten Arabischen Emiraten seit dem Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs 2011. Bereits 2018 hatten die Emirate ihre Botschaft in der syrischen Hauptstadt wieder geöffnet. Dabei hat sich an den Umständen nichts geändert, die 2011 dazu führten, die syrische Mitgliedschaft in der Arabischen Liga auf Eis zu legen. Damals wurde das Regime aufgefordert, alle Gefangenen freizulassen, die Panzer aus den Städten abzuziehen und Verhandlungen mit der Opposition zu beginnen. Diesem Vorschlag hatte Assad zwar zugestimmt, jedoch noch nicht einmal den Anschein erweckt, ihn auch umzusetzen, wie Bente Scheller schreibt.



Das einzige erkennbare echte Interesse des Regimes gilt seinem politischen Überleben – und dieser Fortbestand sollte möglichst komfortabel sein. Wie es um die Situation der Bevölkerung bestellt ist, bleibt egal – oder eine Verbesserung der Lage sogar unerwünscht. Je schwieriger es für die Menschen ist, den Alltag zu bestreiten, desto abhängiger sind sie davon, sich mit dem Regime gut zu stellen und desto weniger Raum bleibt ihnen für politisches Engagement. Wirtschaft und Handel werden von einer winzigen regimenahen Elite kontrolliert – und genau sie würde auch von einer Normalisierung profitieren.

Keine Stabilität mit Assad

Neu ist die Idee der Anreize nicht. In der humanitären Hilfe hat es immer wieder Versuche gegeben, die Formel vom "more for more“ anzuwenden, allerdings mit wenig Erfolg. Während das Regime zwischen 2012 und 2018 Millionen von Menschen belagerte, ließ es sich auch durch Angebote für mehr Hilfen in Regimegebieten nicht erweichen, eine bessere Versorgung der oppositionellen Gegenden auszuhandeln.

Nach Einschätzung des Think Tanks Chatham House würde eine Wiederaufnahme der Handelsbeziehungen Syriens mit den arabischen Staaten innerhalb der nächsten vier Jahre 2,41 Milliarden US-Dollar ins Land bringen, von denen allerdings 2,17 Milliarden an regimenahe Kräfte gehen würden. Selbst von den verbleibenden 240 Millionen würde nach Prognose der britischen Experten noch ein Viertel in Form von Steuern, Gebühren und Schmiergeldern im Regierungsapparat hängen bleiben, während gleichzeitig die Lebensbedingungen für die breite Bevölkerung schlechter würden.

Damit sich die Lebensverhältnisse verbessern, wäre vor allem Stabilität erforderlich – genau diese will das Regime nicht schaffen, weil es von Angst und Unsicherheit lebt. Es ist mittlerweile aber auch fraglich, ob es überhaupt Sicherheit schaffen könnte, weil Einheiten der Armee und Milizen längst ein Eigenleben führen und Einflusssphären sowie Geschäftsfelder unter sich aufgeteilt haben. Ohne Sicherheit wird es jedoch keine Investitionen geben, die den Arbeitsmarkt beleben können. Ganz zu schweigen davon, dass diejenigen Regierungen, die jetzt "normalisieren“ wollen, nicht aus altruistischen Motiven handeln. Die sozialen Gegebenheiten in Syrien waren in keiner der Verlautbarungen aus den Vereinigten Arabischen Emiraten oder Bahrain zu den Schritten der Normalisierung ein Thema.

Diese Art des "Schritt für Schritt“ einer Normalisierung würde die sozialen Spannungen in Syrien weiter befördern und es wäre wegen der großen Gewinnspannen im Handel für das Regime eher ein Anreiz, seine repressive Politik fortzuführen. Dem UN-Generalsekretär Antonio Guterres zufolge lebten bereits im März 2021 90 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze.

Die Staaten der Region sollten es besser wissen, als zu hoffen, dass sich durch ihre Offerten irgendetwas ändern würde. Als sie das letzte Mal, vor dem Gipfel der Arabischen Liga in Tunis 2017, bereits erste Avancen für eine Normalisierung starteten, zeigte Assad weder Reue noch Dankbarkeit für ihre verhalten ausgestreckte Hand. Er erwarte erst noch eine Entschuldigung der Organisation, hieß es damals von Diplomaten aus der Region.

Bedrohung für die Nachbarstaaten

Nur aufgrund der Politik des syrischen Regimes konnte der sog. Islamische Staat stark werden, und Assad ließ ihn gewähren. Für die Nachbarstaaten war und ist das bedrohlich, destabilisierend auch nach dem Ende des Kalifats im Jahr 2019.

Vor dem Krieg war Syrien als Produzent von Generika berühmt, jetzt sind es synthetische Drogen, die von Syrien aus geschmuggelt werden. Doch Assads Politik birgt auch weniger offensichtliche Risiken für die Region. Polio, in Syrien offiziell 1999 ausgerottet, trat nach 2011 wieder vermehrt in Syrien auf und gelangte so auch in die Nachbarstaaten – weil Assad sich zusammen mit der stets regimefreundlich agierenden Weltgesundheitsorganisation (WHO) der Bekämpfung widersetzte.

 

 

Mit gezielten Bombardements haben die syrische wie die russische Luftwaffe rund 40 Prozent aller Krankenhäuser Syriens zerstört, weitere wurden beschädigt. Lediglich ein Drittel der Ärztinnen und Ärzte sowie des Pflegepersonals sind noch im Land. Für Mitarbeitende im Gesundheitssektor haben die Geheimdienste eigene Abteilungen eingerichtet und kriminalisieren die Versorgung von als nicht loyal erachteten Bedürftigen. Damit verletzt das Regime internationale Normen und ethische Standards; es ist eine Politik, die gezielt die Schwächsten treffen soll. Ganz klar verhindert sie aber auch, dass die Corona-Pandemie eingehegt wird, was ebenfalls die Nachbarländer in Mitleidenschaft zieht. 

Konzessionen von Assad sind unwahrscheinlich

Welche Erwartungen auch immer die Verfechter der Normalisierung in den vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain haben: Sie werden nicht in Erfüllung gehen, selbst wenn Assad, was unwahrscheinlich ist, wie in 2013 Verpflichtungen einginge: Nur knapp entkam das syrische Regime damals einer US-Intervention, nachdem es mit Chemiewaffen etwa 1000 Menschen getötet hatte. Es trat der internationalen Chemiewaffenkonvention bei und erklärte 2014 sein Arsenal für zerstört. Doch auch heute, acht Jahre später, bleibt es die Antwort auf 20 der damals noch offenen 24 Fragen schuldig. Die Chemiewaffenexperten der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) gehen davon aus, dass die syrischen Sarin-Bestände niemals gänzlich vernichtet wurden. Die Angriffe mit Chlorgas nahmen eher noch zu. Wenn Assad unbedingt muss, liefert er, aber nur halbherzig und unvollständig.

Was den Nachbarländern ebenso wie manchen der europäischen Aufnahmestaaten so wichtig ist, die Rückkehr der aus Syrien Geflüchteten, wird mit Assads Regime nicht stattfinden. An Lippenbekenntnissen aus Damaskus, sie "willkommen zu heißen“ mangelt es zwar nicht. Doch selbst die gute Beziehungen nach Damaskus pflegende libanesische Regierung bestätigt in ihren Statistiken, dass Syriens Sicherheitsapparat auch von den Rückkehrwilligen aus dem Libanon lediglich 20 Prozent akzeptiert hat. Die immer wieder aufflackernden Kämpfe in Daraa an der Grenze zu Jordanien und die permanente Bedrohung Idlibs im Nordwesten Syriens werden langfristig eher dazu führen, dass mehr Syrerinnen und Syrer versuchen, das Land zu verlassen als zurückzukehren.

Frustration in den Nachbarländern, die viele syrische Flüchtlinge aufgenommen haben, könnte Gewalt gegen Geflüchtete oder gar gewaltsame Versuche der Rückführung zur Folge haben. Auch außerhalb der Region werden asylfeindliche Regierungen wie die dänische eine angestrebte Normalisierung als Beleg dafür heranziehen, dass sich die Lage in Syrien verbessert habe. Bei dieser Form der Normalisierung kann die syrische Bevölkerung nur verlieren.

Bente Scheller

© Qantara.de 2022

Bente Scheller übernahm im September 2019 die Referatsleitung Nahost und Nordafrika bei der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin. Von 2012 bis 2019 leitete sie das Büro der Stiftung in Beirut. Zuvor war sie Leiterin des Büros in Afghanistan. Im Februar 2013 erschien ihr Buch "The Wisdom of Syria's Waiting Game: Foreign Policy Under the Assads".