Schaut endlich hin!

Der NSU-Prozess schafft es kaum in die Schlagzeilen, die Fernsehtrilogie "Mitten in Deutschland" hat schlechte Quoten. Ob die Deutschen keine Aufklärung des Rechtsterrorismus wollen, fragt sich Sarah Judith Hofmann.

Von Sarah Judith Hofmann

Es ist beschämend. Da widmet sich das öffentlich-rechtliche Fernsehen in Deutschland einem der relevantesten Themen unserer Zeit - und keiner schaut hin.

Die Quoten des ARD-Dreiteilers "Mitten in Deutschland: NSU" über die zehn Jahre lang ungeklärte Mordserie des selbsternannten "Nationalsozialistischen Untergrund" sind schlechter als alles, was sonst so an Krimi, Drama oder Komödie auf dem besten Sendeplatz um 20.15 Uhr läuft. Alle drei Teile blieben unter drei Millionen Zuschauern.

Es scheint fast so, als wollten die Deutschen sich abends lieber von seichter Fernsehromantik berieseln lassen, als sich mit der Frage zu beschäftigen, wie es möglich war, dass eine rechte Verbrecherbande zehn Menschen ermorden konnte, ohne entdeckt zu werden.

Woran liegt die Scheu vor den Filmen?

Die Filme sind fürs deutsche Fernsehen ungewöhnlich hart. Sich gemütlich mit Bier oder Schokolade aufs Sofa zu fläzen - unmöglich. Das gilt besonders für Teil 1 "Die Täter" und Teil 2 "Die Opfer" (Teil 3 widmet sich den Ermittlern). Gleich die allererste Szene der Trilogie hat es in sich. Sie zeigt den türkischen Blumenhändler Enver Şimşek mit seinem kleinen mobilen Stand am Rand einer Ausfallstraße, wie er ein paar Blüten zurechtzupft. Dann die Schwarzblende "September 2000". Wir sehen, wie er in seinem Lieferwagen einen Gebetsteppich ausbreitet und wie ein Wohnmobil kurz hinter dem Van zum Stehen kommt. Jeder, der auch nur irgendetwas über die Mordserie gelesen hat, weiß, gleich wird Şimşek ermordet werden. Alles krampft sich zusammen. Doch der durchaus im Sinne der Katharsis reinigende Schauereffekt eines Krimis wird abgewendet. Es folgt ein harter Schnitt auf Schwarz und die Zeilen "Heute ist nicht alle Tage". Was für ein Auftakt!

Erst nach diesem Vorspann wird die Geschichte des Terror-Trios - bestehend aus Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe - erzählt. Christian Schwochow, der Regisseur des ersten Teils, traut sich was - nicht nur in der Stoffwahl, sondern auch künstlerisch. Hier werden Sehgewohnheiten durcheinandergeworfen, von der Kameraführung bis hin zu Schnitt und Ton wird hier experimentiert - eine Seltenheit im deutschen Fernsehen.

Filmausschnitt ARD-Triologie "Mitten in Deutschland: NSU"
Beschämendes Desinteresse: Die ARD-Trilogie rund um die Terrorzelle des NSU kommt beim Fernsehpublikum nicht wie erhofft an. Den zweiten Teil der Reihe mit dem Titel "Die Opfer - Vergesst mich nicht" nach dem Buch von Semiya Simsek, deren Vater Enver 2001 in Nürnberg erschossen wurde, sahen am im Ersten 2,34 Millionen Zuschauer. Der Marktanteil betrug lediglich 7,3 Prozent.

Wie konnten die Morde "Mitten in Deutschland" passieren?

Auch die Schauspieler aller drei Teile, von Anna Maria Mühe als Beate Zschäpe bis hin zu Sylvester Groth als Ermittler, sind grandios. Besonders Almila Bagriacik, die Hauptdarstellerin im zweiten Teil, ist eine echte Entdeckung. Sie bringt einem - unter der Regie von Züli Aladağ - die Tochter des ersten Mordopfers Semiya Şimşek so nah, wie es sonst wohl nur ein Dokumentarfilm schaffen könnte.

Es ist eindeutig der stärkste der drei Filmteile. Weil er auf den Erinnerungen von Semiya Şimşek beruht und damit weitaus weniger heikel ist als die beiden anderen Teile (dazu später mehr). Und weil er den Blick auf die Opfer lenkt, die in der Berichterstattung häufig zu kurz kamen. Zu sehen, wie die Familie Şimşek nach dem Mord am Vater von der Polizei verdächtigt, ja durch fragwürdige Verhörmethoden psychisch misshandelt wird, tut weh.

Es ist beschämend, diese Trilogie als Deutsche anzuschauen. Dachten wir nicht, wir hätten etwas aus der Geschichte gelernt? "Nie wieder" Holocaust, nie wieder Nationalsozialismus, nie wieder Rassismus. Dieses Mantra wiederholen wir - zu Recht - Jahr für Jahr. Und müssen uns im Angesicht der Verbrechen des NSU doch eingestehen: Wir haben weggeschaut. Wie anders ist es zu erklären, dass die Morde so lange nicht der rechten Szene zugeordnet wurden?

Dass Worte wie "Dönermorde" es bis in die Schlagzeilen jenseits der Boulevardmedien schafften? Dass noch heute Politiker rechtfertigen, die Beamten hätten nun einmal Hinweise gehabt, die auf das "Türkenmilieu" deuteten (so Günther Beckstein - als die Morde passierten, war er bayerischer Innenminister bzw. Ministerpräsident - in der Talkrunde "Hart aber Fair" nach der Ausstrahlung des Zweiten Teils der Trilogie)? Dass bis heute nicht geklärt ist, welche Rolle V-Männer des Verfassungsschutzes bei den Morden spielten?

Beate Zschäpe im ARD-Dreiteiler "Mitten in Deutschland: NSU", dargestellt von Anna Maria Mühe; Foto: dpa/picture-alliance
Beate Zschäpe - im Film dargestellt von Anna Maria Mühe. In der Realität steht sie als Hauptangeklagte des NSU-Prozesses vor dem Münchner Landgericht. Beate Zschäpe, die einzige Überlebende des NSU-Trios, steht seit 2013 in München vor Gericht - gemeinsam mit vier Mitangeklagten. Doch das Umfeld des "Nationalsozialistischen Untergrunds" ist größer.

Ein Urteil gegen Zschäpe ist noch nicht gefällt

Genau diesen Fragen widmet sich der Dreiteiler, vor allem im letzten Teil "Die Ermittler". Und doch tritt gerade in diesem Film - abgesehen von schwachen Dialogen und holzschnittartigen Figurenkonstellationen - das Hauptproblem der ARD-Filme zutage: Sie mischen frei erfundene Personen und Handlungen mit Szenen, die auf Tatsachen beruhen. Vieles bleibt im Bereich der Spekulation.

Dies ist natürlich das gute Recht eines jeden Spielfilms. Und doch ist dieser Fall ein besonderer: Der Prozess gegen Beate Zschäpe am Münchner Landgericht läuft noch. Damit kann man - wie dies die Gerichtsreporterin des Magazins "Der Spiegel", Gisela Friedrichsen, getan hat - den Filmen vorwerfen, dass sie in ein laufendes Verfahren eingreifen, ja, gar die Unschuldsvermutung, die auch einer Beate Zschäpe gelte, missachteten.

Während der Prozess sich unsäglich in die Länge zieht, die Angeklagten von der Hauptangeklagten Beate Zschäpe über die Mitangeklagten Ralf Wohlleben, Carsten S., André E. und Holger G. alles tun, um nicht zur Aufklärung beizutragen und dafür sorgen, dass das öffentliche Interesse nach immer neuen Aufschüben und Vertagungen schwindet, kommen die fiktiven Filme vielleicht einfach zu früh.

Fiktion als Auftakt zu Diskussion?

Dass auch Spielfilme ihren Teil zur Aufarbeitung von historischem Unrecht leisten können, hat nicht zuletzt die US-Serie "Holocaust" gezeigt. 1979 wurde sie im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ausgestrahlt - und damals von zehn bis fünfzehn Millionen Deutschen gesehen. Erstmals wurde in der breiten Bevölkerung über die Verbrechen der Nazis diskutiert. Heute gilt sie als Meilenstein in der Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik, ihr wird sogar zugeschrieben, dass der Bundestag 1979 die Verjährungsfrist für Mord aufhob.

Seit Ende des Zweiten Weltkriegs waren damals aber mehr als 30 Jahre vergangen. Man kann nur hoffen, dass die Aufarbeitung der NSU-Morde - deren Vergleich mit der Aufarbeitung des Holocaust in der Dimension natürlich gewaltig hinkt - nicht so lange auf sich warten lässt.

Sarah Judith Hofmann

© Deutsche Welle 2016