Verantwortung für das Überleben der alten Tradition

Die Region, zu der die moderne türkische Provinz Mardin gehört, ist eine der ältesten kontinuierlich von Christen bevölkerten Gegenden der Welt. Den wenigen Tausend aramäischen Christen geht es heute um den Fortbestand ihrer uralten Kultur. Marian Brehmer hat sich in Mardin umgesehen.

Von Marian Brehmer

Der Ball schnellt in die Luft. Fast droht er über die Kirchenmauer zu segeln. Die sechs Hobbykicker unter dem Glockenturm mit dem Metallkreuz rufen sich Spielanweisungen zu. Ihre Sprache schallt anders über den Hof als das Türkische, sie ist kehlig wie Arabisch und mutet archaisch an, mit einer ganz eigenen Sprachmelodie. Es ist ein Dialekt des Aramäischen, jener Sprache in der einst auch Jesus Christus gesprochen haben soll.

Die Abendsonne hat den Kirchhof in ein mystisch-goldgelbes Licht getaucht. Der Wärter verriegelt die schwere Holztür der Kirklar-Kirche, einer von sieben syrisch-orthodoxen Kirchen in der südosttürkischen Stadt Mardin. Die siebenjährige Theodora schaut dem Fußballspiel gelangweilt zu. Die Erstklässlerin hat ihr pechschwarzes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, ihr verschmitztes Grinsen offenbart Zahnlücken.

Nach einer Weile erscheint Theodoras Onkel Iliyo, der 22-jährige Sohn des Gemeindepfarrers. Er legt den Arm um seine Nichte. "Theodora, sprich Deutsch mit dem Gast", sagt er auf Aramäisch. Theodora ist in Deutschland geboren und wohnt mit ihren Eltern und zwei Geschwistern in der Nähe von Heilbronn. Nun in den Sommerferien ist sie das erste Mal zu Besuch in der Heimat ihrer Vorfahren, läuft auf der für aramäische Christen heiligen Erde, im Kernland der syrisch-orthodoxen Kirche.

Die aramäische Kultur am Leben erhalten

Hier pflegten ihre Großeltern zu arbeiten und beten. "Ein bisschen heiß ist es, aber die Kinder hier sind sehr nett", lässt sich Theodora entlocken. Sie versteht zwar kein Türkisch, kann sich aber auf Aramäisch mit den Gleichaltrigen aus der Kirklar-Gemeinde unterhalten.

Blick auf die 100.000-Einwohner-Stadt Midyat in der Südosttürkei; Foto: Marian Brehmer
(1) Im alten Bezirk der 100.000-Einwohner-Stadt Midyat ist die Anzahl der Kirchtürme bis heute gleich auf mit den Minaretten der Moscheen. Die Stadt in der Südosttürkei wird seit Jahrhundert von Kurden, Arabern und Aramäern bewohnt.

"Meine große Schwester, Theodoras Mutter, hat die Türkei vor Jahren verlassen. Wir jedoch versuchen die aramäische Kultur hier am Leben zu erhalten. Wir wollen nicht, dass die Menschen nach Europa auswandern", erklärt Iliyo. "Aber wir können es ihnen natürlich nicht verbieten."

Jetzt in den Sommermonaten veranstaltet die Kirklar-Kirche Aramäischkurse, um den Nachkommen der frühen Christen die alte Liturgiesprache nahezubringen - in Schrift und Wort. Das Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris im Länderdreieck von Türkei, Syrien und Irak ist seit siebzehn Jahrhunderten Heimat der aramäischen Christen.

Die Region, zu der die moderne türkische Provinz Mardin gehört, ist eine der ältesten kontinuierlich von Christen bevölkerten Gegenden der Welt. Als Träger jener von den Anfängen des Christentums bis in die Gegenwart ungebrochenen Tradition leben die Kirchgänger der Kirklar-Gemeinde mit einem Gefühl von Verantwortung.

Zehntausende syrisch-orthodoxe Christen siedelten aus wirtschaftlichen Nöten in den sechziger und siebziger Jahren nach Europa über. Eine zweite Welle floh in den Achtzigern und Neunzigern im Zuge des Kurdenkriegs. Im Kreuzfeuer zwischen kurdischen Rebellen und der türkischen Armee gefangen, waren die Aramäer zwar nicht direkt am Krieg beteiligt, wurden jedoch von beiden Konfliktparteien mit Misstrauen behandelt. Vertreibung, Entführungen von Dorfpriestern und eine Reihe von Mordanschlägen auf Christen trieben ganze Dörfer in den Exodus.

Heute zählt die aramäische Bevölkerung in der Türkei rund 15.000 Menschen. In Mardin, so sagt man, seien es noch knapp einhundert Familien. Zum Vergleich: In Deutschland und in Schweden leben jeweils rund 100.000 syrisch-orthodoxe Christen.

Die schlimmsten Zeiten sind vorbei

"Die schlimmsten Zeiten sind zum Glück vorbei. Ich habe in meiner Jugend in Mardin keine Diskriminierung mehr erlebt. Vielleicht mal ein paar Hänseleien in der Schule, doch die sind nicht der Rede wert", meint Iliyo. Dann tritt plötzlich sein Vater in den Innenhof. Er trägt eine schwarze Priesterkappe und lächelt freundlich in die Runde. Die Jungs unterbrechen ihr Fußballspiel, um dem Geistlichen respektvoll die Hand zu küssen. Theodora aus Heilbronn schenkt ihrem Opa eine Umarmung.

Die Mor Barsarmo-Kirche von Midyat; Foto: Marian Brehmer
(2) Midyat liegt im Tur Abdin (Aramäisch für “Berg der Knechte Gottes”), einer Region, die seit 1.700 Jahren ein spirituelles Zentrum von Christen ist. Einst florierten im Tur Abdin 80 Klöster der syrisch-orthdoxen Kirche von Antiochien, von denen heute nur noch sieben aktiv sind. In der Mor Barsarmo Kirche von Midyat wird nach der Abendandacht geweihtes Brot ausgeteilt.

Ostwärts von Mardin führt eine Landstraße durch die 100.000-Einwohner-Stadt Midyat tief ins Tur Abdin. Die Landschaft hier ist eine Mischung aus karg bewachsenen Hügeln und schroffen Kalksteinbergen, aus denen das Baumaterial für Mardins Häuser gewonnen wird. In der Region, welche etwa die Größe Belgiens besitzt, lebt man seit Jahrhunderten von Landwirtschaft. Neben Granatäpfeln, Feigen, Melonen und Aprikosen wachsen hier siebzehn verschiedene Traubensorten, aus denen die Aramäer ihren berühmten Wein herstellen.

Im Tur Abdin (Aramäisch "Berg der Knechte Gottes") florierten einst achtzig Klöster, von denen jetzt nur noch sieben in Verwendung sind. Noch heute ist in der Region die Zahl an Kirchtürmen enpar mit den Minaretten der Dorfmoscheen.

Das Dorf Enhil, eine Viertelstunde Autofahrt südlich von Midyat am Ende einer kurvigen Schotterpiste gelegen, könnte symbolisch stehen für viele der Ortschaften im Tur Abdin. Das alte aramäische Dorf mit Blick auf die mesopotamische Hochebene ist eine Ansammlung von teils verfallenen Häusern auf einem Hügel. Heute sind sechzig der Familien im Dorf muslimisch, drei christlich. Zwei Kirchen erinnern nach noch an das einstige Glaubensleben. Beide von ihnen sind verriegelt. An einer klebt ein Zettel mit der Telefonnummer des Wärters. 

Nach wenigen Minuten trifft Ilyas ein. Der schüchterne Mann mit dem kantigen Gesicht trägt eine Schlabberjeans, in der ein weißes T-Shirt steckt. Ilyas schließt die Kirche auf, die im Jahr 2005 mit Geldern aus der deutschen und schwedischen Diaspora renoviert wurde. 700.000 Euro habe die Wiederherrichtung gekostet. Der Altarraum ist schlicht, in der Mitte liegt eine dicke in Leder eingebundene Bibel mit kringeligen Schriftzeichen.

Priesterausbildung verboten

"Wir teilen uns den Priester mit anderen Kirchen im Umkreis. An guten Tagen kommen 30 Menschen in den Gottesdienst, die meisten aus umliegenden Dörfern", meint Ilyas. Doch nur im Sommer, wenn die Diaspora-Christen im Tur Abdin zu Besuch seien. Der Priestermangel ist auch auf die Gesetzeslage zurückzuführen: Die Priesterausbildung ist bis heute in der Türkei verboten. Anwärter auf das Priesteramt müssen daher nach Damaskus ziehen, an den Sitz des syrisch-orthodoxen Patriarchen.

Syrisch-orthodoxer Wandteppich einer Kirche im Tur Abdin; Foto: Marian Brehmer
Die syrisch-orthodoxen Christen zählen zur Gruppe der Monophysiten, die sich im sechsten Jahrhundert von der griechischen Orthodoxie abspaltete. Monophysiten glauben daran, dass Jesus Christus nur eine göttliche Natur besitzt, eine Position, die der sonst vorherrschenden kirchlichen Lehre von der göttlichen und menschlichen Doppelnatur Christi widerspricht.

Auch Streitigkeiten um Eigentumsrechte bereiten den Christen in Dörfern wie Enhil Kopfschmerzen. In den vergangenen Jahren gingen viele der Klöster und Kirchen infolge einer Strukturreform in der Provinz Mardin in Staatsbesitz über, angeblich wegen fehlenden Grundbucheinträgen. Im Mai wurde die Entscheidung rückgängig gemacht und die Gotteshäuser wieder in die Hände der Christen übergegeben. Mancherorts gibt es Landstreitigkeiten mit kurdischen Nachbarn, die sich in den verlassenen Häusern der geflüchteten Christen eingerichtet haben.

Doch nur zehn Kilometer östlich von Enhil ein ganz anderes Bild: Mitten aus dem Nirgendwo der felsigen Einöde tauchen plötzlich zwei Dutzend gepflegte Steinvillen aus dem Nirgendwo auf. In Kafro, einem Dorf das zwölf Jahre leer stand, haben sich in den letzten Jahren Rückkehrer aus Deutschland, Schweden und der Schweiz angesiedelt.

Erbaut im Architekturstil der Vorfahren, scheinen die schmucken Häuser ein Zeichen setzen zu wollen: Wir sind zurück um zu bleiben. Am Dorfrand steht eine Kapelle, die laut der Informationen einer Steintafel von der Landeskirche Württemberg gesponsert wurde. Im Dorfinneren eine florierende Pizzeria, die von einem Rückkehrer aus Stuttgart betrieben wird. "Kafro's Pizzeria" erfreut sich bei jungen Muslimen aus der Provinz Mardin großer Beliebtheit.

Toskana statt Anatolien

Beim Pizzaessen im weinberankten Sommergarten wähnt sich der Besucher eher in der Toskana als in Südostanatolien. Nur der Ayran, das kühle Joghurtgetränk, ist ein Eingeständnis an die türkische Kultur. In Kafro ließe sich angesichts des neuen Wohlstands fast vergessen, dass nur 40 Kilometer südlich jenseits der syrischen Grenze das Schicksal der aramäischen Christen ein ganz anderes ist.

Menschen vor der Mor Barsarmo Kirche von Midyat; Foto: Marian Brehmer
(4) Die Zahl der aramäischen Christen ist in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich zurückgegangen. Bereits in den Sechzigern und Siebzigern zogen die Aramäer aus wirtschaftlichen Gründen nach Europa. In den Neunzigern führte der Kurdenkrieg in der Südosttürkei zum Exodus ganzer Dörfer nach Europa. Heute leben etwa 100.000 syrisch-orthodoxe Christen in Deutschland, von denen viele im Sommer ihre alten Dörfer besuchen.

Bei einem Feldzug des "Islamischen Staats" (IS) wurden im Winter 2015 in den Dörfern rund um den Khabur-Strom, einem Nebenfluss des Euphrat, Hunderte Christen entführt und ermordet. Die meisten Dörfer der Syrisch-Orthodoxen in Nordsyrien sind zerstört, Kirchen verbrannt und verwaist.

Die IS-Gewalt hat viele der Christen aus Syrien ins Tur Abdin getrieben. Auch in der Kirklar-Kirchengemeinde fanden einige der 150 aramäischen Neuankömmlinge in Mardin Zuflucht. Die Stadt ist für sie eine Basis auf der Reise gen Europa, wo sie sich als Christen erhöhte Asylchancen versprechen.

Iliyos Vater koordiniert die Nothilfe, verschafft den Flüchtlingen, die nicht in den Camps der türkischen Regierung leben wollen, Mahlzeiten und Unterkünfte. Eine Ironie der Geschichte: Einige von ihnen sind in den leerstehenden Häusern jener Christen untergekommen, die einst während des Konflikts mit den Kurden Mardin verlassen mussten. Viele der Aramäer in Syrien sind zudem Nachkommen von Christen, die vor einhundert Jahren vor osmanischer Verfolgung aus Anatolien fliehen mussten.

Dass die eigentlichen Besitzer der verwaisten Steinhäuser in Mardin je zurückkommen, hält Iliyo eher für unwahrscheinlich: "Wenn heute aramäische Christen aus Europa ins Tur Abdin zurückziehen, dann tun sie dies aus spirituellen Gründen. Ganz sicher nicht aus wirtschaftlichen. In Europa geht es ihnen besser." Aus Europa kämen vor allem Ältere zurück, die sich im Ruhestand nach der Heimat sehnen.

Trotzdem spricht niemand in der Kirklar-Gemeinde Mardin vom Aussterben. Tatsächlich gibt es nämlich auch positive Zeichen: Seit einigen Jahren wird an der Mardiner Artuklu-Universität etwa ein Kurs in aramäischer Sprache und Geschichte angeboten, was in der Türkei vor zehn Jahren noch undenkbar gewesen wäre. Inmitten des sonst so düsteren Szenarios um die Zukunft der Christen im Mittleren Osten ist die Resilienz der Aramäer von Tur Abdin ein Lichtblick.

Marian Brehmer

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