Mehr Gewalt, weniger Einkommen

Die Situation von Frauen in Nahost und Nordafrika hat sich während der Pandemie deutlich verschlechtert. Um ihre Lage zu verbessern, müssten vor allem strukturelle Hindernisse beim Zugang zum Arbeitsmarkt abgebaut werden. Dafür sind aber vor allem die jeweiligen Regierungen verantwortlich. Von Jennifer Holleis und Razan Salman

Von Jennifer Holleis & Razan Salman

Die Corona-Pandemie hat das Leben von Heba Mordaa auf dem Kopf gestellt: "Seit Beginn der Einschränkungen im März 2020 haben sich meine Arbeitsbedingungen verschlechtert", sagt die 29 Jahre alte Ehefrau und Mutter. Zuerst habe der Besitzer des Manicure-Studios, in dem sie arbeitet, die Gehälter gekürzt, weil die Kunden ausblieben. Dann, im Juli 2020, habe er vorgeschlagen, einen Heimservice anzubieten, erzählt Mordaa: "Mein Mann lehnte das strikt ab. So musste ich im August 2020 meinen Job aufgeben und zu Hause bleiben."

Viele Frauen in der arabischen Welt haben während der Pandemie Erfahrungen wie Heba Mordaa gemacht. Sie mussten berufliche Rückschläge hinnehmen und sahen sich gezwungen, ein Leben als Hausfrau zu führen. Auch Frauen, die keine Familie zu versorgen hatten, blieben zu Hause. "Frauen tragen zu Hause wie im Beruf die Hauptlast", lautet das Fazit der jüngsten Umfrage des Forschungsnetzwerks Arab-Barometer zu den Folgen der COVID-19-Pandemie für Frauen in der sogenannten MENA-Region (Naher Osten und Nordafrika).



ILO: Arbeitsplatzverluste werden anhalten

Schon vor der Pandemie war der Anteil von Frauen in der Region, die einer Erwerbsarbeit nach, im weltweiten Vergleich am niedrigsten. Gerade einmal 27 Prozent der Frauen in der Region Naher Osten und Nordafrika hatten eine bezahlte Arbeit. Die Situation hat sich durch die Pandemie weiter verschlechtert, wie ein kürzlich veröffentlichtes Papier der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) dokumentiert.

Nach Nord- und Südamerika verzeichnen die arabischen Staaten in den vergangenen Jahren den zweitstärksten Rückgang der Erwerbstätigkeit von Frauen: Zwischen Anfang 2019 und Ende 2020 ging die Beschäftigungsrate unter den Frauen um 4,1 Prozent zurück. Unter den Männern der Region lang der Rückgang bei 1,8 Prozent. "Die unverhältnismäßigen Arbeitsplatz- und Einkommensverluste, die Frauen während der Pandemie erlitten haben, werden auch in naher Zukunft anhalten", heißt es abschließend in dem ILO-Bericht.

Protest gegen häusliche Gewalt: Eine Demonstrantin in Beirut, Dezember 2019; Foto: AFP/Abaad/P.Baz
Eine junge Frau protestiert in Beirut gegen häusliche Gewalt. In der Pandemie hat die häusliche Gewalt im Nahen Osten zugenommen. Bei einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Arab-Barometer in den Monaten Juli bis Oktober 2020 berichtete mindestens ein Viertel der Frauen in den untersuchten Ländern von einem Anstieg der geschlechtsspezifischen Gewalt. In Marokko und Algerien meldeten 47 Prozent der befragten Frauen einen Anstieg, in Tunesien waren sogar 69 Prozent. Zwar sind die Zahlen im März und April 2021 wieder rückläufig. Dennoch sind die Ergebnisse alarmierend.

Für das laufende Jahr sagt die ILO vorher, dass sich die Unterschiede bei der Beschäftigungsquote zwischen den Geschlechtern weiter vergrößern wird: Während bei den Männern knapp 71 Prozent einer Beschäftigung nachgehen werden, werden es bei den Frauen voraussichtlich nur gut 14 Prozent sein, so die Prognose.

Häusliche Gewalt hat zugenommen

Große Sorge bereitet im Nahen Osten auch die Zunahme häuslicher Gewalt während der Pandemie. Bei einer Umfrage von Arab-Barometer in den Monaten Juli bis Oktober 2020 berichtete mindestens ein Viertel der Frauen in den untersuchten Ländern von einem Anstieg der geschlechtsspezifischen Gewalt. In Marokko und Algerien meldeten 47 Prozent der befragten Frauen einen Anstieg, in Tunesien sogar 69 Prozent.

In der jüngsten, zwischen März und April 2021 durchgeführten Erhebung, sanken die Zahlen wieder. In Marokko und Algerien berichtete "nur" noch ein Viertel der Frauen von einem Anstieg der Gewalt seit Pandemiebeginn. In Tunesien waren es immerhin noch 62 Prozent. In Jordanien und im Libanon stiegen die Zahlen sogar an - 25 auf 55 Prozent beziehungsweise von 23 auf 40 Prozent. In Libyen stieg die Zahl leicht, von 27 auf 28 Prozent.

"Vor allem in Jordanien und im Libanon gab es kurz vor unserer letzten Erhebung einen massiven Anstieg der täglichen Fallzahlen", sagte Mary Clare Roche, Autorin der Arab-Barometer-Studie, der Deutschen Welle. "Wir haben zwar keinen kausalen Zusammenhang zwischen häuslicher Gewalt und den COVID-19-Fallzahlen. Doch die Daten deuten darauf hin, dass man weiter in diese Richtung forschen sollte."

Strukturelle Hindernisse beim Einstieg in den Beruf

Ein möglicher Grund: Einschränkungen der Bewegungsfreiheit machten es Frauen noch schwerer, im Fall einer Bedrohung einen sicheren Ort aufzusuchen, so Mary Lawlor, UN-Sonderberichterstatterin für die Situation von Menschenrechtlern, im Gespräch mit der Deutschen Welle. "Es ist darum wichtig, Netzwerke zwischen Menschenrechtlerinnen zu fördern. Eine solche Vernetzung steigert die Effektivität. Dadurch sind sie besser in der Lage, gemeinsame Herausforderungen zu bewältigen und sich im Fall einer Gefahr gegenseitig zu unterstützen."

Nach einem Angriff mit einer ätzenden Säure durch ihren Ehemann muss eine junge Frau im Krankenhausbehandelt werden; Foto: Mohammed Huwais/AFP via Getty Images
According to Mary Lawlor, UN Special Rapporteur on the situation of human rights defenders, "new restrictions of movement mean it's even harder for women to reach places of safety when threatened." Pictured here: a young women in hospital with severe wounds after an acid attack by her husband

Möglichkeiten für den Berufseinstieg zu eröffnen und entsprechende gesellschaftliche Hindernisse abzubauen, gelten als die beiden wichtigsten und zugleich nachhaltigsten Wege, um Frauen zu unterstützen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind. Die Erhöhung der Erwerbsbeteiligung von Frauen trage in doppelter Hinsicht zu ihrem Schutz bei, betonte Roche vom Arab-Barometer. "Zum einen verringert sich die Zeit, die die Betroffene mit dem Täter verbringt. Und zum anderen erreicht sie ihm gegenüber ein gewisses Maß an wirtschaftlicher Unabhängigkeit."

Regierungen stehen in der Verantwortung

Die Schaffung entsprechender Rahmenbedingungen liege jedoch in der Verantwortung der Regierungen, betonte Roche. "Als wir die Bürger in den MENA-Ländern nach den wahrgenommenen Hindernissen für den Einstieg von Frauen ins Berufsleben befragten, wurden vor allem strukturelle Hindernisse genannt - also solche, die vor allem die Regierung beeinflussen kann. Dazu gehörten etwa fehlende Kinderbetreuungs- und Transportmöglichkeiten sowie niedrige Löhne." Würden die Regierungen entsprechende Maßnahmen umsetzen, würde es im Nahen Osten mehr finanziell unabhängige Frauen geben, meint Roche.

Für Heba Mordaa aus Beirut hatte zumindest die finanzielle Unsicherheit im Juni dieses Jahres ein Ende. "Ich habe einen neuen Job angenommen und hoffe, dass keine weiteren Corona-Einschränkungen verhängt werden", sagte sie der Deutschen Welle. "Das ist sehr wichtig, denn meine Familie ist in dieser schwierigen finanziellen Situation auf mein Einkommen angewiesen."

Jennifer Holleis, Razan Salman

© Deutsche Welle 2021

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.