Der Istanbul-Effekt

Istanbul ist zu einem Zufluchtsort für viele arabische Gemeinschaften geworden, die sich beeinflusst vom kosmopolitischen Wesen der Stadt allmählich wandeln. Von Mohanad Hage Ali

Von Mohanad Hage Ali

"In Istanbul kommen arabische Frauen zusammen, um den Internationalen Frauentag zu begehen", so die Schlagzeile eines Artikels der Agentur Anadolu über ein jüngst stattgefundenes Event in der türkischen Metropole, an dem Dutzende von syrischen, palästinensischen und ägyptischen Frauen teilnahmen.

Die Schlagzeile verdeutlicht die wachsende Rolle Istanbuls in der arabischen politischen und kulturellen Szene. Seit den arabischen Aufständen zieht die Stadt aus den großen arabischen Ländern viele Menschen an, die ihre Heimat aufgrund staatlicher Repressionen oder wegen der instabilen politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse verlassen.

Istanbul bietet einen städtischen Raum für verschiedene Formen politischer Aktivitäten und für Begegnungen unter Menschen arabischer Herkunft. Hunderttausende von Syrern, Irakern, Jemeniten, Libyern, Ägyptern und Libanesen sind heute Teil des gesellschaftlichen Lebens der Stadt. Die dortige panarabische Gemeinschaft hat ein eigenes Selbstverständnis.

Größtes bevölkerungspolitisches Experiment der arabischen Welt

Einer Schätzung zufolge leben fast 700.000 Iraker in der Türkei, vorzugsweise in Istanbul. Allein hier befinden sich fünf der landesweit 27 irakischen Schulen. Zehntausende von Ägyptern, Jemeniten und Libyern sind in Istanbul ansässig und haben Schulen, Medien- und Verlagshäuser gegründet. Istanbul ist heute das größte bevölkerungspolitische Experiment der arabischen Welt und hat einen weit höheren Stellenwert als Kairo in den 1950er Jahren und Beirut in den 1960er und 1970er Jahren.

Arabische Staaten, wie beispielsweise Ägypten, die dem türkischen Einfluss misstrauen, sehen Istanbul als Hauptsitz der verschiedenen arabischen Ableger der Muslimbruderschaft, deren feindliche Kräfte oppositionelle Staaten und Regionen destabilisieren wollen. Doch diese Sicht auf die Araber von Istanbul und deren Rolle in der politischen und kulturellen Szene der Region trifft nur eingeschränkt zu und greift zu kurz. Die kosmopolitische Identität der Stadt und die vielfältigen städtischen Lebenserfahrungen prägen nämlich auch die Einstellung der dort lebenden arabischen Gemeinschaften.

 Buchcover Mustafa Menshawy: "Leaving the Muslim Brotherhood: Self, Society and the State" im Verlag Palgrave Macmillan
Neue Werte- und Glaubensorientierung durch den Istanbul-Effekt: In seinem neuen Buch mit dem Titel Leaving the Muslim Brotherhood: Self, Society and the State zitiert Mustafa Menshawy Anekdoten von Muslimbrüdern, die die Gruppe und ihre Gemeinschaft verließen, nachdem sie die gesellschaftlichen Freiheiten Istanbuls schätzen gelernt hatten.

Tatsächlich ist Istanbul heute ein Zentrum der Muslimbruderschaft. Der türkische Staat investiert und unterstützt die Ableger der Organisation; vor allem macht er es ihnen einfach, sich zu organisieren und Einfluss zu nehmen. Dutzende von Fernsehsendern, die zumeist mit Ablegern der Muslimbruderschaft verbunden sind, bezeugen dieses Engagement des türkischen Staates.

Auch wichtige Entscheidungen der Organisation werden in der türkischen Stadt getroffen. So wählte kürzlich die jemenitische Muslimbruderschaft "Al-Islah" ihren neuen Führer Salah Batis in Istanbul.  Von denjenigen, die sich dem türkischen Einfluss in der Region widersetzen, wurde der in Istanbul ansässige Batis zuvor wegen seiner Verbindungen zur Türkei kritisiert.

Symbol für die wachsende regionale Rolle der Türkei

Istanbul verkörpert die wachsende regionale Rolle der Türkei. Sichtbar wird dies auch an den türkischen militärischen Interventionen in Libyen und Syrien sowie an der politischen Schlagkraft in der gesamten Region. Aus diesem Blickwinkel betrachtet nimmt die türkische Regierung durch die Gemeinschaften, die die Türkei beherbergt, Einfluss auf die arabische Welt.

Im vergangenen Jahr gründeten Araber in der Türkei eine Union der arabischen Gemeinschaften, die die regierende türkische "Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung" (AKP) unterstützt. Sie wird von einem libyschen Islamisten geleitet, der den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan als "den Führer der muslimischen Nation" bezeichnete. Ziel der Union ist es, Beziehungen zwischen Arabern und ihren Gastgebergemeinden zu knüpfen und sich mit der türkischen Regierung abzustimmen.

Zur wachsenden Rolle der Türkei in der Region gehört auch eine Kulturpolitik, die einem Großteil der turkmenischen Minderheiten der Region wieder ihre türkischen Wurzeln in Erinnerung gerufen hat. Im Mittelpunkt dieser Bemühungen stand die Ertüchtigung Istanbuls als Bildungshauptstadt.

Der türkische Staat gewährt Turkmenen aus der arabischen Welt sowie Arabern im Allgemeinen Tausende von Stipendien, um sie zum Studium in der Türkei zu ermutigen. Diese Maßnahmen blieben in der Region nicht ohne politische Konsequenzen. Im Libanon zum Beispiel hat die Renaissance der turkmenischen Identität die Spannungen mit der armenischen Gemeinschaft des Landes verschärft. Wenn heute beispielsweise Armenier an die Rolle der Türkei im Genozid an den Armeniern im Jahr 1915/16 erinnern, treten ihnen Turkmenen mittlerweile öffentlich entgegen.

Gegen eine verstärkte Präsenz arabischer Islamisten

Die türkische Regierung unterstützt zwar die Aktivitäten der Muslimbruderschaft, aber Istanbul wehrt sich gegen eine verstärkte Präsenz arabischer Islamisten. Im Laufe der Zeit verändert die Stadt die arabischen Exilanten, insbesondere die Islamisten unter ihnen. Die arabische Bevölkerungsgruppe umfasst mehr als eine Million Menschen, darunter sind längst nicht alle Islamisten.

Syrischer Junge schiebt Kinderwagen in der Nähe der Fatih-Moschee in Istanbul; Foto: picture alliance/AP Photo/Lefteris Pitarakis
Neue Heimat für Syriens Geflüchtete: Istanbul bietet einen städtischen Raum für verschiedene Formen von Aktivitäten und für Begegnungen unter Menschen arabischer Herkunft. Hunderttausende von Syrern, Irakern, Jemeniten, Libyern, Ägyptern und Libanesen sind heute Teil des gesellschaftlichen Lebens der Stadt.

Es gibt auch Trotzkisten, Liberale und Menschen anderer politischer Überzeugungen oder gänzlich unpolitische Menschen. So sieht man beispielsweise auf den Straßen und in den Bars Istanbuls arabische Transsexuelle. Ein solches Spektrum der Lebensentwürfe hat auch Auswirkungen auf die Gruppen der Muslimbruderschaft, die sich üblicherweise in konservativen, streng reglementierten Kreisen bewegen.

In seinem neuen Buch mit dem Titel Leaving the Muslim Brotherhood: Self, Society and the State zitiert Mustafa Menshawy Anekdoten von Muslimbrüdern, die die Gruppe und ihre Gemeinschaft verließen, nachdem sie die gesellschaftlichen Freiheiten Istanbuls schätzen gelernt hatten.

Osama al-Sayyad, ein ägyptischer Wissenschaftler mit Sitz in Istanbul, erforscht den Einfluss der Stadt auf die Muslimbruderschaft. Neben denen, die die Bruderschaft verlassen haben und säkularer geworden sind, untersucht Sayyed eine große unentschlossene Gruppe, deren Haltung in der Bruderschaft in einer Grauzone bleibt. Der Istanbul-Effekt hat dazu geführt, dass sich die engagierteren Mitglieder abschotten. Anders gesagt: Die Stadt drängt konservative religiöse Elemente in die Defensive, da diese versuchen, Erlebnissen aus dem Weg zu gehen, die im Widerspruch zu ihren Überzeugungen stehen.

Istanbul - ein Ort der Toleranz und Selbstfindung

Neben islamistischen und staatlich geförderten kulturellen Aktivitäten übersetzen arabische Intellektuelle auch türkische Literatur. Zu den übersetzten Werken zählen die in Istanbul handelnden Romane des Schriftstellers Orhan Pamuk, die auch in der arabischen Welt populär sind. In diesen Büchern ist Istanbul ein Ort der Toleranz und der Selbstfindung, wichtige Kennzeichen für eine arabische Gemeinschaft, die sich nach den Rückschlägen in ihrer Heimat in einer Zeit des Nachdenkens und der Neubewertung befindet.

[embed:render:embedded:node:33327]Zunächst bezog Istanbul seine Anziehungskraft unter den Arabern vor allem aus der Populärkultur, und zwar insbesondere den erfolgreichen türkischen Fernsehserien, die für das arabische Publikum synchronisiert wurden. Viele Zuschauer sahen in den Wahrzeichen und Palästen Istanbuls schon bald Synonyme für romantische Geschichten. Seit zwei Jahrzehnten strömen Araber an die Schauplätze dieser Serien. Parallel dazu erlebt das ägyptische Kino einen Niedergang. Es leidet seit Jahren unter einer beispiellosen Repression in Ägypten und unter der Abschottung vieler kultureller Räume des Landes.

Im Juli letzten Jahres wurde der türkische Schauspieler Burak Özçivit gegen eine hohe Gage in ein libanesisches Einkaufszentrum eingeladen. Hunderte von Fans umringten ihn. Einige begannen zu kreischen, während andere in Ohnmacht fielen; schon bald hatte die Menge das Schaufenster und das Interieur des Geschäfts zerstört. Soldaten mussten dem Schauspieler zur Flucht verhelfen.

Eine Kino-Ikone wie Hussein Fahmy, das ägyptische Pendant zu Alain Delon in den 1980er und 1990er Jahren, könnte heute in ein libanesisches Einkaufszentrum gehen und würde wohl kaum bemerkt werden. Nicht Kairo ist der kulturelle Leuchtturm der arabischen Welt, sondern Istanbul.

Der Fall Özçivit ist nicht nur symptomatisch für den wachsenden kulturellen Einfluss der Türkei, sondern auch für die begrenzten Möglichkeiten der türkischen Regierung, den Istanbul-Effekt zu steuern. Der säkulare Özçivit ist nicht gerade ein Abbild der Muslimbruderschaft oder der konservativen Ideale von Präsident Erdoğan.

Der kulturelle Einfluss Istanbuls kommt zwar der Türkei im Allgemeinen zugute, hinterlässt aber auch bei den arabischen Bewohnern seine eigenen, unverkennbaren Spuren.

Mohanad Hage Ali

© Carnegie Middle East Center 2020

Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers