Uns bringt ihr nicht auseinander

Die israelische Gesellschaft ist gespalten. Juden und Araber leben meist in getrennten Welten. Meist, aber nicht immer: Drei Beispiele vom Zusammenleben von Andrea Backhaus aus Jerusalem

Von Andrea Backhaus

Am Tag nach dem Anschlag stand Fadi im ausgebrannten Klassenzimmer und starrte auf den Aschehaufen zu seinen Füßen. Die Täter hatten die Bücher und Hefte der Erstklässler aufeinander gestapelt, mit Benzin überschüttet und angezündet. An den Wänden prangten noch ihre Botschaften: "Tod den Arabern" und "Keine Koexistenz mit dem Krebs". Als Fadi die verkohlten arabischen und hebräischen Buchseiten sah, dachte er: Das hier gehört nicht in unsere Welt. 

Fadi, ein arabischer Israeli, ist vor einem Jahr mit seiner Familie von Haifa nach Jerusalem gezogen. Sein Sohn besucht hier die Max-Rayne-Hand-in-Hand-Schule für jüdisch-arabische Erziehung, eine der berühmtesten Lehreinrichtungen Israels. An diesem Nachmittag ist Fadi gemeinsam mit den anderen Eltern, Lehrern und Kindern auf den weitläufigen Campus im Süden Jerusalems gekommen. Sie wollen arabische und jüdische Lieder singen, tanzen, herumalbern. Ihre Botschaft lautet: Ihr könnt uns attackieren. Auseinanderbringen könnt ihr uns nicht.

Die 1998 gegründete Hand-in-Hand-Schule, die einzige bilinguale Schule Jerusalems, gilt als Paradebeispiel des respektvollen Miteinanders. Sie liegt zwischen dem jüdischen Viertel Pat und dem arabischen Bezirk Beit Safafa, direkt an der Grünen Linie. 620 Schüler werden hier bis zur 12. Klasse von jüdischen und palästinensischen Lehrern auf Hebräisch und Arabisch unterrichtet, die Jüngsten besuchen den Kindergarten. Die Bücher sind auf Arabisch und Hebräisch, zusätzlich zum regulären Lehrplan werden etwa die Feiertage im Islam, Juden- und Christentum erläutert, Fragen nach Herkunft und Traditionen diskutiert.

Ein revolutionäres Bollwerk inmitten einer explosiven Umgebung

Die Hand-in-Hand-Schule ist mehr als ein Ort des Lernens. Sie ist ein revolutionäres Bollwerk inmitten einer explosiven Umgebung, die seit Israels Staatsgründung 1948 kaum mehr kennt als Krieg, Vergeltung und Vorurteile.

Wie immens die Herausforderungen der Einrichtung sind, zeigt die Brandstiftung Ende November, verübt von Aktivisten der rechtsradikalen jüdischen Lehava-Organisation. Die israelischeGesellschaft ist gespalten. Juden und Araber leben meist in abgeschotteten Welten: Sie wohnen in verschiedenen Bezirken, schicken ihre Kinder auf getrennte Schulen, kaufen in unterschiedlichen Läden ein. Teile der Bevölkerung versuchen, jede Bemühung um Kooperation zu unterwandern. Etliche Friedensprojekte haben unter den zunehmenden Spannungen aufgegeben. Aber nicht alle. Es gibt noch immer eine Front von Zuversichtlichen, die sich um eine Aussöhnung zwischen beiden Völkern bemüht.

Ein weiteres Beispiel ist Micah Hendler und der Jerusalem Youth Chorus, ein Gesangsensemble für Oberstufenschüler aus West- und Ostjerusalem. Vor zwei Jahren gründete der Yale-Absolvent aus Maryland den Chor. Ein Sänger kommt sogar aus dem Westjordanland, aus Ramallah, hinter der von Israel errichteten Sperrmauer, ein anderer aus der jüdischen Siedlung Efrat. Jeden Montag treffen sich die 43 Palästinenser und Israelis für dreieinhalb Stunden in der Jerusalemer Altstadt, gegenüber vom legendären King David Hotel, seit der Erbauung 1931 Schauplatz politischer Großentscheidungen. Sie singen auf Arabisch, Hebräisch und Englisch über Gemeinschaft, Verlust und Heimat, drehen Musikvideos für YouTube, schreiben gemeinsam an Songs und hören einander zu.

Ein Gefühl der Gemeinschaft erzeugen

Nachjeder Probe erzählen die Chorteilnehmer in Gruppen und im Beisein von Betreuern von ihrem Alltag, von Hemmnissen und Hoffnungen. "Viele Sänger reden sehr offen mit ihren Freunden über den Chor. Sie sind stolz darauf und vermitteln das auch zu Hause", sagt Hendler, 25 Jahre, ein amerikanischer Jude, der seine Sommer in dem palästinensischen-israelischen Friedenscamp "Seeds of Peace", verbrachte, bevor er sich entschloss, nach Jerusalem zu ziehen. Anfangs klapperte er sämtliche Schulen ab, stellte sich vor Klassen, warb unaufhörlich für seinen Chor. Einige Schulen verweigerten sich, doch bald fand er immer mehr Interessenten. Auch deshalb, wie er sagt, weil er die Konfliktlinien kennt und sein Projekt auf Arabisch und Hebräisch vorstellen konnte.

Mittlerweile hat Hendlers Jerusalem Youth Chorus deutlich mehr Bewerber als Plätze. Und eine immer größere Reichweite: Im Sommer tourten die Sänger in Japan, gerade kehren sie aus England zurück, wo sie in der BBC-Sendung Newsnight auftraten und Songs mit Miel de Botton, Schwester des Schriftstellers Alain de Botton, und der Band Duran Duran einspielten. "Der Chor gibt den Sängern das Gefühl, eine Gemeinschaft zu sein", sagt Hendler. 

"Al-Salam aleikum" und "Schalom"

Zurück zu Fadi in der Hand-in-Hand-Schule. "Al-Salam aleikum", ruft er auf Arabisch als Ilan, sein Freund und Vater zweier Schulkinder, auf ihn zukommt. "Schalom", entgegnet Illan auf Hebräisch. Ilan kommt aus einer konservativen jüdischen Familie und hat selbst nie mit arabischen Kindern spielen können. In der Bibliothek der Schule wird eine Gitarre angestimmt, ein jüdischer Vater singt auf Arabisch von Liebe und Vergebung, Illan hört zu, Fadi wippt, lächelt. "Wir Eltern haben uns bewusst für die Schule entschieden", sagt er. "Wir wollen etwas ändern." 

Das möchte auch Rita Boulos. Die Direktorin des Besucherzentrums von Wahat al-Salam-Neve Shalom leitet eine 1972 gegründete Dorfgemeinschaft, in der Juden und Palästinenser gemeinsam leben, sich Verantwortung und Verwaltung teilen. Derzeit wohnen 30 arabische und 30 jüdische Familien mit israelischer Staatsbürgerschaft in dem Ort, der in je gleicher Entfernung zwischen Tel Aviv, Jerusalem und Ramallah liegt. In der Grundschule des Ortes erhalten die jüdischen und arabischen Kinder, die auch aus den umliegenden Dörfern kommen, zweisprachigen Unterricht.

In der überregionalen Bildungsstätte des Dorfes lernen jüdische und palästinensische Lehrer, Journalisten, Anwälte und Studenten anderer Fachrichtungen in Kursen die jeweils andere Sicht kennen. Da geht es zum Beispiel um Israels Unabhängigkeit. Die ist für die Juden ein Feiertag –  für die Palästinenser aber Al Nakba, die Katastrophe, das kollektive Trauma. Oder um die Stadt Jerusalem, die von Juden und Palästinensern gleichermaßen als Hauptstadt deklariert wird. "Wenn sie historische Fakten über die andere Gruppe hören, sagen sie erst: Das kann nicht stimmen. Aber dann öffnen sie sich", sagt Boulos. Auch unter den Bewohnern gebe es mal Streit. Dann etwa, wenn ein Israeli den für ihn unumgänglichen Militärdienst antritt. "Er sieht das als seine Pflicht. Aus Sicht der Palästinenser dient er aber dem Militär der Besatzer."  

Das Dorf, mehrfach für den Friedensnobelpreis nominiert, wird durch die Bewohner und mithilfe der Freundeskreise finanziert. Staatliche Unterstützung gibt es nicht. "Dass wir den Konflikt real überwinden wollen, widerstrebt der Regierung", sagt Boulos. Doch aufzugeben kommt für die Initiatoren nicht in Frage. In zwei Jahren sollen im Dorf 34 zusätzliche Familien wohnen, in zehn Jahren werden es insgesamt 150 Familien sein. Hunderte Bewerbungen liegen auf dem Tisch. Die Direktorin des Besucherzentrums sagt: "Unser Ansatz ist der einzige Weg. Wenn wir eine offene Gesellschaft wollen, müssen wir miteinander leben."

Andrea Backhaus

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