Das letzte Register der Selbstentlastung

Nach der "Jerusalem-Erklärung" von Donald Trump gehen wütende Muslime in Deutschland auf die Straße. Einige äußern antisemitische Parolen. Deutsche Politiker überbieten sich mit Verurteilungen. Das sollte man nicht kommentarlos stehen lassen, meint Stefan Buchen in seinem Essay.

Essay von Stefan Buchen

"Nicht zimperlich" werde mit Juden im muslimischen Kulturraum umgegangen. Der Antisemitismus sei dort Teil der Erziehung. Mit den muslimischen Migranten habe Deutschland auch den Antisemitismus importiert. Mit diesen im Magazin "Der Spiegel" geäußerten Thesen setzt sich die 37-jährige CDU-Hoffnung Jens Spahn an die Spitze der Bewegung.

Eine Welle der Empörung rollt dieser Tage durch den öffentlichen Raum. Auslöser ist der in mehreren Kundgebungen, u.a. am Brandenburger Tor, zu Tage getretene Antisemitismus muslimischer Demonstranten. Bei Protesten gegen die Erklärung des US-Präsidenten Donald Trump, mit der er Jerusalem als Hauptstadt des Staates Israel anerkannt hatte, verbrannten Kundgebungsteilnehmer israelische Fahnen und äußerten judenfeindliche Parolen.

Wir haben den Antisemitismus unter Migranten aus dem islamischen Raum unterschätzt! Wer Flüchtlinge ins Land lässt, holt sich auch den Judenhass! Der ist doch bei uns in Westeuropa geächtet! Politiker waren schnell zur Stelle mit kritischen Kommentaren dieser Art. Am energischsten zeigte sich CDU-Präsidiums-Mitglied Jens Spahn.

Es ist ein Lehrbeispiel für das Thema "politische Phänomene und ihre öffentliche Deutung". Es wirft die Frage auf, welche Mindestanforderungen wir an das Niveau des politischen Diskurses stellen wollen. Wenn die geistigen Mindestanforderungen um des schnellen politischen Gewinns willen unterschritten werden, dann kommt der Moment, einige recht simple Fakten in Erinnerung zu rufen.

Importiert werden bekanntlich Produkte, die man selbst nicht herstellt. Der Antisemitismus ist in Begriff und Substanz aber ein deutsches Patent, erfunden von rassistisch denkenden Agitatoren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie glaubten mit der These, "die Juden sind unser Unglück", breite Zustimmung im deutschen Volk zu finden (verwandte Strömungen gab es auch in anderen Ländern West- und Osteuropas). Die Agitatoren lagen nicht ganz falsch. "Nicht zimperlich" wäre sicher nicht der passende Ausdruck, um die Behandlung der Juden durch den deutschen Staat in der Folge zu beschreiben.

Unbelangte Altnazis

Nach dem Zusammenbruch Deutschlands war der Antisemitismus keineswegs so "geächtet", als dass "Hitlers Eliten", also erwiesene Antisemiten, in der Bundesrepublik nicht in höchste Positionen hätten aufsteigen können: in Ministerien und Verwaltung, in Justiz und Polizei, im Bundesnachrichtendienst und im Bundeskanzleramt.

Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer und Staatssekretär Dr. Hans Globke (r.) im September 1963; Foto: dpa/picture-alliance
Die rechte Hand des Kanzlers: Nach 1945 waren Staatsdiener mit NS-Vergangenheit eher die Regel als die Ausnahme.Als Paradebeispiel gilt Hans Globke, der unter dem ersten Bundeskanzler Konrad Adenauer in den 1950er Jahren Chef des Kanzleramtes war. Noch 1936 hatte er in einem juristischen Kommentar erklärt, warum es eine weise Gesetzgebung von Führer und Partei sei, dass "Deutsche" keine Ehen mit "Juden" eingehen dürfen.

Massenmörder, die jüdische Opfer in unvorstellbarer Zahl - Zahlen mit mehreren Nullen - auf dem Gewissen hatten, lebten jahrzehntelang unbehelligt in der Bundesrepublik und starben irgendwann friedlich und als freie Männer, ohne jemals zur Verantwortung gezogen worden zu sein. Beispielhaft mögen hier drei genannt sein: Bruno Streckenbach war Gestapo-Chef in Hamburg und Vertrauter Heinrich Himmlers, im Krieg zunächst Einsatzgruppenführer in Polen und dann, während des Feldzugs Barbarossa, Planer der Einsatzgruppen in den eroberten Teilen Russlands. Den Tod von mindestens 1.000.000 (eine Million) Menschen habe er verursacht, so eine Anklageschrift. Streckenbach wurde nicht verurteilt. Alle Verfahren gegen ihn wurden eingestellt. Er starb 1977 in seiner Geburtsstadt Hamburg.

Werner Best, Doktor der Rechte, war im Nationalsozialismus u.a. Chefjustitiar der Geheimen Staatspolizei. Als solcher organisierte er die Entrechtung der Juden in Deutschland und war einer der wichtigsten Planer des Massenmordes an den Juden in Osteuropa. Der bis 1940 dritte Mann in der SS hinter Himmler und Heydrich wusste seine Rolle im Dritten Reich später geschickt zu verschleiern. Ihm wurde trotz seiner führenden Beteiligung am Holocaust nie der Prozess gemacht. Dr. Best starb 1989 in Mühlheim an der Ruhr.

Bekannter ist der Fall Hans Globke. 1936 erklärte er in einem juristischen Kommentar, warum es eine weise Gesetzgebung von Führer und Partei sei, dass "Deutsche" keine Ehen mit "Juden" eingehen dürfen. Globke erläuterte, warum die "Rassenschande" ein vernünftiger Rechtsbegriff sei und was es mit "Halb- und Vierteljuden" auf sich habe. Er regte an, Juden in Deutschland mit einem "J" im Reisepass kenntlich zu machen. Nach dem Krieg war Spitzenjurist Dr. Globke von 1953 bis 1963 Chef des Bundeskanzleramts unter Konrad Adenauer (CDU).

Wer sich dieser Geschichte bewusst ist, wird sich dummen Geschwätzes von importiertem Antisemitismus enthalten. Wer ahnt, welch mörderische Antisemiten feine mitteleuropäische Herren wie Dr. Best und Dr. Globke sein können, der wird sich hüten vor Vokabeln wie dem "antisemitischen muslimischen Mob", der in Berlin israelische Fahnen verbrennt.

Auf dem rechten Auge blind

Der jüdische Mensch Stephan J. Kramer ist heute nicht Präsident des Verfassungsschutzes von Thüringen, weil er ein Bollwerk gegen den muslimischen Antisemitismus wäre. Seine Berufung soll vielmehr ein Signal gegen Neonazis sein. Der "Nationalsozialistische Untergrund" stammt aus Thüringen. Inwieweit die mordende Terrorgruppe von Polizei und Geheimdiensten geschont wurde, ist immer noch eine offene Frage. Klar ist: die überwältigende Zahl, ca. 90 Prozent, aller antisemitischen Straftaten wird in Deutschland von Rechtsradikalen begangen, nicht von Muslimen.

Verbotene Ausgaben von "Mein Kampf" in arabischer Übersetzung; Foto: dpa/picture-alliance
Deutscher Antisemitismus-Export für die arabische Welt: Im November 1936 informierte das Propagandaministerium das Auswärtige Amt darüber, dass Hitler mit der Drucklegung der arabischen Version seines Buches einverstanden war. Passagen, die von Arabern als besonders beleidigend empfunden werden könnten, sollten "in Anbetracht der heutigen politischen Lage" ausgelassen werden.

Statt vom Import sollten wir vom Export sprechen. Es ist kein Geheimnis, wieviel Mühe das Auswärtige Amt in den 30er Jahren darauf verwendete, Hitlers Buch "Mein Kampf" ins Arabische zu übersetzen. Nicht zuletzt sollten die judenfeindlichen Ideen des Verfassers den arabischen Lesern näher gebracht werden.

In der Tat finden sich antisemitische, vom Nationalsozialismus inspirierte Versatzstücke in den Programmen und Pamphleten postkolonialer politischer Strömungen des Nahen Ostens: von den Muslimbrüdern wie zur Baath-Partei. Alois Brunner, ein führender Organisator der Deportationen in die Vernichtungslager, also der "Endlösung", fand sogar Zuflucht in Syrien. Sein antisemitisches Credo tat er von dort aus mehrmals öffentlich in Interviews kund. Brunner starb erst nach der Jahrtausendwende in Damaskus.

Europäischer Antisemitismus für den Orient

Der Export des modernen europäischen Antisemitismus in den Orient ist keine rein deutsche Angelegenheit. In den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts überzogen französische Siedler in Algerien die dortigen Juden mit blutigen Pogromen. Sie reagierten damit auf ein 1870 verabschiedetes Gesetz, das die algerischen Juden zu gleichberechtigten französischen Staatsbürgern gemacht hatte. Die mörderischen Übergriffe der christlichen Kolonisatoren gegen die Juden führten den muslimischen Bewohnern Algeriens vor Augen, was europäischer Antisemitismus ist.

Ein aktuelles Beispiel liefert der türkische Präsident Erdoğan. Als Reaktion auf Trumps "Jerusalem-Erklärung" sagte er: "Israel ist ein Land, das sich von Blut ernährt." In dieser Äußerung hallt die Vorstellung wider, Juden tränken das Blut eigenhändig getöteter Andersgläubiger. Das ist kein muslimisches, sondern ein alteuropäisches Klischee, das Zeichentalente in ganz Europa gern ins Bild setzten: von mittelalterlichen Darstellungen bis zum nationalsozialistischen Propagandablatt "Stürmer".

Zur Wahrheit gehört, dass die muslimischen Gesellschaften die Zugabe des europäischen Antisemitismus nicht unbedingt gebraucht hätten. Eigene antijüdische Tendenzen bestehen von alters her, seitdem der Prophet Muhammad sich mit seinen jüdischen Nachbarn, die den Islam nicht annehmen wollten, auseinandersetzte. Diese Auseinandersetzung fand Niederschlag im Koran.

Symbolbild Moschee in Deutschland; Foto: picture-alliance/dpa
Dass auch Muslime hierzulande antisemitische Neigungen haben können, ist nicht neu. Kurz nach 09/11 konnte man in deutschen Moscheen hören, dass "die Juden das gemacht haben." Bei alledem sollte man nicht aus den Augen verlieren, dass weder die Intensität noch die tatsächlichen Folgen der muslimischen Judenfeindlichkeit mit denen des deutschen Antisemitismus auch nur annähernd vergleichbar wären. Bildung und Dialog scheinen durchaus Mittel zu sein, mit denen antijüdischen Ressentiments in Deutschland lebender Muslime beizukommen ist.

Man kann nicht bestreiten, dass antijüdische Tendenzen Teil des Islam sind. In der Praxis brach der islamische Antijudaismus immer mal wieder auf, an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten. Der jüdische Philosoph Maimonides musste im 12. Jahrhundert mit seiner Familie aus Cordoba und später aus Fes fliehen, um der gegen Juden gerichteten Gewalt der "Almohaden" (al-Muwahhidun) zu entgehen.

Es ist eine in die Irre führende Idealisierung zu behaupten, die islamische Geschichte und Zivilisation seien allein gekennzeichnet von religiöser Toleranz und Pflege der Wissenschaften. Es wurden eben nicht nur Aristoteles und Galen ins Arabische übersetzt, sondern auch "Prophetenlegenden" aufgeschrieben, wonach Juden die Nachkommen von Affen seien. Dieser Topos ist bis heute durchaus populär. Der Autor dieser Zeilen hat ihn öfter in Predigten gehört, im Nahen Osten und in Deutschland, zum Beispiel 2002 aus dem Munde eines von Saudi-Arabien bezahlten Islam-Lehrers in Nordrhein-Westfalen.

Schüren von anti-muslimischen Ressentiments

Dass auch Muslime hierzulande antisemitische Neigungen haben können, ist nicht neu. Kurz nach 09/11 konnte man in deutschen Moscheen hören, dass "die Juden das gemacht haben."

Bei alledem sollte man nicht aus den Augen verlieren, dass weder die Intensität noch die tatsächlichen Folgen der muslimischen Judenfeindlichkeit mit denen des deutschen Antisemitismus auch nur annähernd vergleichbar wären. Bildung und Dialog scheinen durchaus Mittel zu sein, mit denen antijüdischen Ressentiments in Deutschland lebender Muslime beizukommen ist.

Aber daran sind Politiker wie Jens Spahn offenbar gar nicht interessiert. Vordergründig geht es ihnen, in Zeiten des Wettbewerbs um die flüchtlingskritischste Position, um das Schüren von Ressentiments gegen Muslime.

Wirklich interessant ist eine tiefere Analyse der Äußerungen von Spahn und Co: wenn die Deutschen mit dem Finger auf Andere zeigen können, weil diese Anderen "Antisemiten" sind, dann lautet die unterschwellige Botschaft: "Wir sind keine." Insofern ziehen Spahn und seinesgleichen das - vielleicht letzte - Register der Selbstentlastung. Die ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik waren geprägt vom Verdrängen und Vertuschen. Jetzt kann man den Makel endlich auf Andere abwälzen.

Stefan Buchen

© Qantara.de 2017

Stefan Buchen arbeitet als Fernsehjournalist für das ARD-Magazin "Panorama".