Mehr Mut zur Differenzierung

Antisemitismus ist und bleibt ein Problem. Aber inzwischen wird er auch instrumentalisiert und als Pauschalvorwurf gegenüber allen erhoben, die Kritik an der Besatzungspolitik Israels üben, meint der Journalist Ofer Waldman.

Essay von Ofer Waldman

"Es gibt weder eine Standardantwort noch eine klare Definition", antwortete jüngst der israelische Botschafter in Deutschland, Jeremy Issacharoff, auf die Frage, wann legitime Kritik am Staat Israel zur antisemitischen Hetze werde ("Spitz - Das hebräische Magazin in Berlin", Ausgabe Juli 2018).

Die Diskussion über Antisemitismus in Deutschland gewinnt indes zunehmend an Gewicht: So hat die Bundesregierung vor wenigen Wochen erst erstmals einen Bundesbeauftragten gegen Antisemitismus berufen. Und natürlich werfen die jüngsten Attacken gegen Kippa-Träger auf deutschen Straßen, wie auch das Mobbing eines jüdischen Schülers in Berlin die Frage nach der Sicherheit jüdischen Lebens in diesem Land auf. Darüber hinaus scheint sich eine alt-neue Form antisemitischer Äußerungen zu etablieren: ein als Israelkritik verschleierter Judenhass.

Doch wie lässt sich legitime Kritik an der Politik Israels von antisemitischer Hetze unterscheiden?

Scheinbar objektive Methoden

Es steht wohl außer Frage, dass die Aberkennung des Existenzrechts Israels sachlich durch nichts zu rechtfertigen ist - das ist Hetze. Aber was ist mit harscher Kritik an der israelischen Besatzungspolitik in den palästinensischen Gebieten, gar mit Vorwürfen von Verbrechen gegen die Menschenrechte? Ist das immer automatisch verschleierte antisemitische Hetze?

Scheinbar objektive Methoden mit wissenschaftlich klingenden Namen, die israelbezogene Äußerungen auf ihren antisemitischen Gehalt abklopfen sollen (zum Beispiel die "3D-Methode", die nach Dämonisierung, Doppelstandards oder Delegitimierung fahndet), ergeben verdächtig oft allein das vom Anwender gewünschte Resultat. Botschafter Issacharoff sagt hingegen: "Ich behaupte nicht, dass jede Kritik an Israel antisemitisch sei. Und ich denke, dass legitime Kritik letzten Endes nach legitimen Methoden sucht, um sich konstruktiv zu äußern."

DW-Twittercard Ofer Waldman; Foto: DW
Der Journalist Ofer Waldman, geboren in Jerusalem, lebt heute in Berlin. Er ist Vorstandsvorsitzender des „New Israel Fund Deutschland“ - einer Organisation, die sich für ein demokratisches Israel einsetzt, mit Gleichberechtigung, sozialer Gerechtigkeit und Frieden für alle Bürgerinnen und Bürger, unabhängig von ihrer Religion und Herkunft.

Die entscheidende Frage ist also stets die, zu welchem politischen Zweck und in welchem Zusammenhang israelkritische Äußerungen gemacht werden. Die gleiche Frage muss allerdings auch gestellt werden, wenn aufgrund von Kritik an Israel sofort der Vorwurf des Antisemitismus erhoben wird. Es ist nämlich ein Ritual, das sich inzwischen allzu oft wiederholt: Eine Person äußert Kritik an der israelischen Politik oder eine Institution lädt zur kritischen Diskussion über die Lage in den besetzten Gebieten - und schon wird der Verdacht einer antisemitischen Motivation in den Raum gestellt.

Es gibt ohne Zweifel unerträgliche, oft genug extrem einseitige Kritik an Israel und seiner Politik. Doch wenn Kritik sachlich begründet ist, erweckt ihre Konfrontation mit 3D-Methoden und ähnlichem allein den Verdacht, dass es denen, die hier widersprechen, vor allem an guten Argumenten mangelt.

In einer Demokratie kann das Unterbinden einer Diskussion immer nur die Ultima Ratio sein. Auch deshalb ist der allmählich inflationär werdende Antisemitismusvorwurf gefährlich. Zumal seine Häufigkeit genau jenen Vorwurf ja entwertet. Vor allem signalisiert er aber, man möge sich bitte von israelspezifischen Themen, ja am besten generell von Israel fernhalten. Ist das ein wünschenswertes Ziel?

Israels antisemitische Freunde

Gleichzeitig werden Politiker wie Viktor Orbán und die Führer der polnischen PiS-Partei von der israelischen Regierung umgarnt und vom berechtigten Vorwurf des Antisemitismus freigesprochen, nur weil sie sich als Freunde Israels darstellen. Selbst die Verhöhnung der jüdischen Geschichte Europas scheint kein zu hoher Preis, nur um politische Unterstützung von Europas schlimmsten Populisten zu ernten.

Andererseits wird jede noch so vorsichtig formulierte Kritik von muslimischen Bürgern an Israel - vor allem in Deutschland - sofort als Antisemitismus gebrandmarkt. Das dient allein als Mittel zum Zweck, die Integrationsfähigkeit von Muslimen in der Mitte Europas zu hinterfragen – den im gegenwärtigen deutschen Kontext schlimmsten aller Vorwürfe. In der Konsequenz erlaubt sich die rechtspopulistische AfD, den Vorwurf des Antisemitismus als Argument für ihre rassistische, antimuslimische Politik einzusetzen - makabrer geht es wohl kaum.

Botschafter Issacharoff hat Recht: Der Unterschied zwischen legitimer Kritik und antisemitischer Hetze ist schwer zu definieren. Doch dieser Aufgabe muss man sich immer wieder stellen - mit dem Mut zur Differenzierung.

Ofer Waldman

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