Monströse Verknüpfung von Macht, Sexualität und Gewalt

Die französische Journalistin Annick Cojeans dokumentiert in ihrem Buch "Niemand hört mein Schreien. Gefangen im Palast Gaddafis" in welch unvorstellbarem Ausmaß der frühere libysche Diktator von Sexualität und Macht besessen war und seinen Hass auf alle Privilegierten dadurch auslebte, dass er sich deren Frauen gefügig machte. Von Gabriele Michel

Von Gabriele Michel

Es gibt Bücher, die wirken tatsächlich wie jene "Axt für das gefrorene Meer in uns", die Franz Kafka fordert. Annick Cojeans "Niemand hört mein Schreien. Gefangen im Palast Gaddafis" ist so ein Buch. "Les proies" heißt es im französischen Original: die Beute.

Beute, das waren für Muammar Gaddafi, 42 Jahre lang Staatsoberhaupt von Libyen, all jene Frauen, deren Schicksal die französische Journalistin in ihrem Buch schildert. Beute eines grausamen und zugleich gefeierten Machthabers, der während der gesamten Zeit seiner Herrschaft in unvorstellbarem Ausmaß Sexualität als Mittel der Machtausübung eingesetzt, unzählige Frauen benutzt und vergewaltigt hat.

Annick Cojean leistet mit ihrem Buch „Niemand hört mein Schreien. Gefangen im Palast Gaddafis“ ein Stück weit das, was institutionell nicht mehr stattfinden wird: Gaddafis Verbrechen werden öffentlich gemacht, den Opfern wird so eine Stimme gegeben – endlich.

Cojean, Reporterin bei "Le Monde", reiste im Oktober 2011 nach Tripolis, um heraus zu finden, welche Rolle die Frauen während der Revolution gespielt haben und wie sich ihre Situation im nachrevolutionären Libyen entwickelt. Bei ihrer Recherche stieß sie durch Zufall auf eine junge Frau, im Buch Soraya genannt, die eine grauenvolle Geschichte in sich trug und trägt – eine Geschichte, die in das Libyen unter Muammar al-Gaddafi zurückführt. Cojean, fassungslos, hat Sorayas Erlebnisse aufgezeichnet. Dieser Bericht ist der erste Teil ihres Buches.

Im Folterverließ von Bab al-Azizia

Knapp fünfzehn Jahren war Soraya alt, als sie von Gaddafis Gefolgsleuten entführt und zusammen mit anderen Mädchen und Frauen in ein Kellerverlies seines Herrschersitzes Bab al-Azizia gesperrt wurde. Drei Jahre war sie dort gefangen, wurde von Gaddafi wieder und wieder vergewaltigt, gequält, gedemütigt. Willkür, Gewalt und Angst bestimmten in dieser Zeit jeden Tag ihres Lebens.

In der Tat ist die Geschichte Sorayas die Geschichte einer zerstörten Existenz. Denn es gab (und gibt) eine Mauer angstvollen Schweigens in der libyschen Gesellschaft, die Sorayas Einsamkeit und Ausgeliefertsein bis heute verstärkt. Es gab Frauen, die Gaddafi zuarbeiteten, die seine Beute ihrerseits quälten.

Viele von ihnen waren zuvor selbst vom "großen Führer", "Papa Muammar", wie er sich nennen ließ, vergewaltigt worden. Der Weg zurück in ihre Familien war ihnen danach versperrt – eine alleinstehende Frau hat in der libyschen Gesellschaft bis heute keinen Platz. Manche Frauen sahen als Ausweg nur die Kollaboration – eine grausame Form, vom Opfer zur Täterin zu werden.

Soraya hat diesen Weg nicht gewählt. Doch auch bei ihr greifen persönliches Trauma und gesellschaftliche Unterdrückung ineinander: Die Erlebnisse der anfangs kindlichen, völlig überforderten, dann tief traumatisierten Soraya fasst Cojean so detailgenau und einfühlsam in Worte, dass man sie wie aus Sorayas Erleben heraus wahrnimmt – als den puren Horror.

Gaddafis Krieg gegen die Frauen

Unterdrückung statt Befreiung: Aufgeputscht durch Machtgier, später zudem durch Viagra, missbrauchte der libysche Diktator tagtäglich zahllose Frauen. Gaddafi führte Krieg gegen die Frauen, die zu befreien er vorgab.

Der zweite Teil des Buches versammelt Rechercheergebnisse Annick Cojeans. Sie dokumentiert das Schicksal anderer libyscher Frauen, die Ähnliches erlebt haben wie Soraya. Sie resümiert den Bericht eines Mitarbeiters aus dem engsten Kreis um den Diktator, der wie zahlreiche andere Zeugnisse offenbart, in welch unvorstellbarem Ausmaß Gaddafi von Sexualität und Macht besessen war und, geboren als mittelloser Beduinensohn, seinen Hass auf alle Privilegierten nicht zuletzt dadurch auslebte, dass er sich deren Frauen gefügig machte; mit Geschenken, notfalls auch mit Gewalt.

Dabei dienten die Vergewaltigungen oft auch dazu, Macht über seine Verhandlungspartner auszuüben, indem er sich deren Frauen bemächtigte. Aufgeputscht durch Machtgier, später zudem durch Viagra, missbrauchte Gaddafi tagtäglich zahllose Frauen (und Männer); mal für eine Viertelstunde – teils inmitten politischer Verhandlungen, die er unterbrach – teils über Tage, Wochen oder eben – wie im Falle Soraya und unzähliger anderer Frauen – über Jahre. Gaddafi führte Krieg gegen die Frauen, die zu befreien er vorgab.

Aufgezeichnet hat die französische Journalistin und prämierte Buchautorin zudem das Gespräch mit zwei Frauen aus Gaddafis sogenanntem „Amazonenheer“ und einen Bericht des ehemaligen Chefs des Erziehungswesens, aus dem hervorgeht, wie er und seine Männer ihren Einfluss innerhalb von Institutionen wie Schule, Universitäten, Film, Shows und Theater skrupellos ausnutzten, um Gaddafi Frauen zuzuführen. Diese und alle anderen Zeugnisse, die Cojean mit beachtlichem Mut gesammelt hat und mit spürbarer Empörung präsentiert, machen ihr Buch zu einer ebenso erschütternden wie alarmierenden Lektüre.

Inzwischen ist "Les proies", für das die Autorin im letzten Jahres den "Grand Prix de la Presse Internationale" erhielt, auch in Brasilien erschienen und wurde ins Arabische übersetzt. Zahlreiche andere Länder haben die Übersetzungsrechte erworben, das Buch wird wahrgenommen – und hat sich im arabischen Raum bereits 7.000 Mal verkauft.

Kampf der Frauen gegen das Vergessen

In Libyen sind Frauen einer NGO damit auf die Straße gegangen, haben vor dem Parlament demonstriert. Doch auch wenn in einer solchen Aktion eine entschieden kämpferische Kraft zum Ausdruck kommt, müssen Soraya und viele Frauen, die Ähnliches erlitten haben wie sie, immer noch unter den Konsequenzen leiden: Scham, Schuldgefühle und Haltlosigkeit machen ein „normales“ Leben für sie oft nahezu unmöglich.

Das gilt auch für diejenigen, die während des Bürgerkriegs in Libyen von Gaddafis Schergen vergewaltigt wurden, um den Widerstand der Rebellen zu brechen. Von mindestens 2.700 Betroffenen gehen Experten im Land derzeit aus – vermutlich ist es nur die Spitze des Eisbergs. Auch sie sind mittelbar Opfer der von Gaddafi praktizierten monströsen Verknüpfung von Macht, Sexualität und Gewalt.

Der Tod Gaddafis verhinderte, dass die von ihm verübten Verbrechen jemals juristisch aufgearbeitet wurden. Gerade deshalb ist Annick Cojeans Buch so wichtig: Es leistet ein Stück weit das, was institutionell nicht mehr stattfinden wird:  Gaddafis Verbrechen werden öffentlich gemacht, den Opfern wird so eine Stimme gegeben – endlich.

Deshalb muss Cojeans aufrüttelnder Bericht ernst genommen werden: Als Mahnung und als Appell, gelebte Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern zu schaffen, die Rechte von Frauen zu stärken und für deren Verankerung in der Verfassung zu kämpfen - in Libyen und in allen anderen Ländern dieser Welt.

Gabriele Michel

© Qantara.de 2013

Annick Cojean: "Niemand hört mein Schreien. Gefangen im Palast Gaddafis", Aufbau Verlag, Berlin 2013, 296 Seiten

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de