Über die Dynamik des Radikalismus im Islam

Ob islamistischer Terror auch auf die Religion und deren Verhältnis zur Gewalt zurückgeht, läßt sich nicht leicht klären. Im Koran findet sich zwar die Befürwortung von Gewalt gegen Andersgläubige. Das allein reicht aber als Erklärung nicht aus.

Die Frage, ob islamistische Terrorakte sich auch auf die Religion und deren Verhältnis zur Gewalt "zurückführen" lassen, ist nicht einfach zu beantworten. In Koran und Sunna findet sich zwar die Befürwortung von Gewalt gegen Andersgläubige. Das allein reicht indes nicht aus, um das Problem, zu fassen. Von Tilman Nagel

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Der politische Islam kann viele Züge eines 'endogenen Radikalismus' tragen.

​​Phasen einer mit religiösen Argumenten gerechtfertigten Anwendung von Gewalt gegen Andersgläubige oder Heterodoxe finden sich in der Geschichte aller Universalreligionen.

Wegen der sich in den letzten Jahren häufenden muslimischen Terroranschläge ist das Thema "Gewalt und Religion" zu einem Gegenstand heftiger Polemik zwischen den Muslimen einerseits und den Verteidigern eines pluralistischen Gesellschaftsverständnisses andererseits geworden.

Letztere werden von den Muslimen meist pauschal als Christen ins Visier genommen, was unangemessen ist und eine Unkenntnis der Säkularisierung und ihrer Folgen verrät. Lassen wir uns dennoch kurz auf diese Polemik ein!

Gewalt gegen Andersgläubige

An vielen Stellen im Koran rechtfertigt Mohammed - bzw. nach muslimischer Vorstellung Allah - die Gewalt gegen Andersgläubige; sie sind des Todes (z.B. Sure 47, 4; 2, 191; 4, 89), oder sie sollen unterworfen werden (Sure 9, 29) und dürfen vertrieben und enteignet werden (Sure 59).

Umfangreiche Kapitel der Werke, die die Sunna - das Norm setzende Handeln Mohammeds - enthalten, sind dem Jihad gegen die Andersgläubigen gewidmet. Mit diesen Tatsachen konfrontiert, weisen Muslime meist auf Stellen im Alten Testament hin, an denen ebenfalls von Gewalt gegen Andersgläubige die Rede ist (z.B. 2.Mose 22, 17; 3.Mose 20).

Dass es dort auch andere Aussagen gibt (z.B. 3. Mose 19, 17f.), aus denen Jesus im Neuen Testament das Ideal der Feindesliebe entwickelt (Lukas 6, 27), wird oft übersehen.

Bisweilen wird übrigens behauptet, die muslimische Gewalt gegen Andersgläubige sei erst als eine Reaktion auf den "christlichen" Kolonialismus entstanden, was angesichts der politisch korrekten Propagierung europäischer Schuld gegenüber der Dritten Welt gerne geglaubt wird, historisch aber unhaltbar ist.

Autoritative Worte

Jenseits jeglicher Polemik ist festzustellen, dass Koran und Sunna die Anwendung von Gewalt gegen Andersgläubige ausdrücklich befürworten, vor allem wenn sie den Interessen der "besten je für die Menschen gestifteten Gemeinschaft" (Sure 3, 110) dienlich ist.

Die muslimische Gesetzesgelehrsamkeit hält an diesem Grundsatz unbeirrbar fest und billigt, um ein Beispiel zu nennen, nach wie vor die Tötung desjenigen, der vom Islam zu einer anderen Religion übergetreten ist.

Im Neuen Testament dagegen wird die Gewalt gebrandmarkt, und zwar gerade auch dann, wenn sie von der eigenen Seite ausgeht. Die Gewaltlosigkeit nimmt in der Verkündigung Jesu einen breiten Raum ein; es genüge hier der Hinweis auf die Bergpredigt. Normative Texte vergleichbaren Inhalts fehlen im Koran.

Das häufig angeführte Tötungsverbot in Sure 5, Vers 32 meint nur die Angehörigen der eigenen - muslimischen - Solidargemeinschaft; ihnen darf allein im Rahmen eines Blutracheverfahrens das Leben genommen werden (vgl. Sure 2, 178 f.; 5, 45; 25, 68).

Der Kern des Problems ist allerdings mit dem Zitieren autoritativer Worte noch nicht freigelegt. Auf ihn stößt man erst, wenn man das jeweilige Verhältnis zwischen dem heiligen Wort und der realen Welt ergründet.

In einer 1983 vom Islamischen Zentrum in München herausgegebenen Anleitung zur Verbreitung des Islams unter Nichtmuslimen hebt der Verfasser hervor, aus dem Bekenntnis zum Christentum folge allenfalls die Verpflichtung, alle Handlungen an einer bestimmten Ethik auszurichten. Was das bedeute, müsse im Einzelfall durch den Handelnden selber entschieden werden.

Partielle Delegitimierung der Ratio

Der Islam dagegen gebe seinen Anhängern zahlreiche ganz konkrete Anweisungen an die Hand. Diese schreiben vor, wie man die Riten auszuüben und wie man sich in Alltagssituationen zu verhalten hat.

Vereinfachend gesprochen, meint Islam demnach die Übernahme vorgefertigter, auf Allah oder Mohammed zurückgeführter Muster des Daseinsvollzugs - von Mustern überdies, die unabhängig von jeglicher Geschichte über alle Zeiten hinweg gültig sein sollen.

Während dem Christen die Prüfung der jeweiligen Voraussetzungen seines Tuns und die selbstkritische Befragung des Gewissens abverlangt werden, sieht sich der Muslim verpflichtet, Allahs Gesetz unter Absehung von den gerade obwaltenden Gegebenheiten der Welt und von den Regungen des Ichs zu verwirklichen.

Die Geschichte dieses eigentümlichen muslimischen Spannungsverhältnisses zur "Welt" hängt mit der im Koran vorliegenden partiellen Delegitimierung der Ratio zusammen:

Der eigenmächtige Gebrauch des Verstandes führt geradewegs in den Ungehorsam gegen Allah (z.B. Sure 15, 28-35). Allah wollte, dass Abraham aus der Wandelbarkeit der Welt auf die Existenz des Einen, Unwandelbaren schloss, aber nicht wegen dieses Schlusses ist die Vielgötterei ein Irrtum, sondern nur, weil Allah zu ihr keine Vollmacht erließ (Sure 6, 74-81).

Die Ratio wird auf ein von Allah autorisiertes Tätigkeitsfeld beschränkt. Dieses Feld wird durch den Koran und die Sunna abgesteckt, die nach der Meinung der Mehrheit der Muslime möglichst wörtlich auszulegen sind.

Die Folge ist eine starke Spannung zwischen den Forderungen der Scharia und der Wirklichkeit, und diese Spannung verschärfte sich in dem Masse, wie die Muslime der Begegnung mit der ganz anders fundierten westlichen Zivilisation ausgesetzt waren.

Entlastungen

Natürlich versuchten die Muslime, sich von der genannten Spannung zu entlasten. Man übernahm die fremden Errungenschaften und verdrängte zunächst die Frage nach dem diesen zugrunde liegenden Verhältnis zwischen "Welt" und religiöser Autorität.

Die Reaktion auf diesen Pragmatismus war die schon im 19. Jahrhundert einsetzende Betonung des allumfassenden Charakters der koranischen Botschaft, die letztlich auch jene Errungenschaften einschließe, ja sie erst eigentlich ihrer gottgewollten Bestimmung zuführe und ihren Missbrauch beende, der im "Christentum" zu beklagen sei.

Der durch die Herausforderungen des Westens angestoßene Reformislam teilt in allen seinen Spielarten diese Überzeugung und ist dementsprechend bestrebt, durch einen unmittelbaren Rückgriff auf Koran und Sunna die Verankerung der Moderne in der eigenen Tradition plausibel zu machen.

In einem nach außen abgeschotteten muslimischen Milieu mochte dies vorübergehend eine Entlastung bewirken, kaum aber bei denjenigen, deren Leben sich im ständigen Umgang mit der westlichen Zivilisation abspielte bzw. abspielt.

Für sie kehrten die Spannungen mit nie gekannter Intensität zurück, wie etwa der unter Nasser hingerichtete Muslimbruder Saijid Qutb in seinem heute viel gelesenen Korankommentar bezeugt.

Endogener Radikalismus

In seinem Denken kommt beispielhaft zum Ausdruck, was der Moskauer Islamwissenschafter Ignatjenko in einer 2000 veröffentlichten Studie treffend den "endogenen Radikalismus" des Islams genannt hat, ein Radikalismus, der fließend in die Rechtfertigung von Gewalt gegen eine Wirklichkeit übergehen kann, die sich dem von den Muslimen für gottgegeben und übergeschichtlich erachteten Normen nicht fügen will.

Wie man der Presse entnehmen konnte, bewogen dergleichen Erfahrungen den Mörder Theo van Goghs zu seinem Verbrechen.

Die Leistung der säkularisierten Gesellschaft besteht darin, allen ihren Mitgliedern das Nachdenken über die eigenen Normen sowie die Teilhabe an diesbezüglichen Entscheidungen zu ermöglichen. Sie kennt ein unveräußerliches Prinzip, die Menschenwürde, nicht aber aus ihr folgende ewige Einzelnormen.

Dadurch neutralisiert sie im Idealfall alle Formen eines endogenen Radikalismus, zumal sie keine partielle Delegitimierung der Ratio fordert. "Es gibt keinen Zwang im Glauben", dieses Bruchstück von Sure 2, Vers 256 führen Muslime oft an, um ein offenes Verhältnis ihrer Religion zur Wirklichkeit zu belegen.

Betrachtet man diese Worte in ihrem koranischen Zusammenhang, ergibt sich jedoch: Wer sich dem Islam unterwirft und damit jene Delegitimierung der Ratio anerkennt, dem erscheinen diese Religion und ihre Riten und Gesetze als ganz "natürlich", alles andere dagegen als "unnatürlich" und unwahr.

Für die große Mehrheit der Muslime ist dies bis auf den heutigen Tag so. Ende des vergangenen Jahres erreichte den Beobachter jedoch ein ermutigendes Zeichen:

Ein in Zürich gegründetes "Forum für einen fortschrittlichen Islam" will eben jene Eingrenzung der Ratio durchbrechen - ein schwieriges Unterfangen, an dessen Ende aber die Austrocknung des endogenen Radikalismus und die schöpferische Teilhabe von Muslimen am innerweltlich orientierten Diskurs der säkularisierten Gesellschaft stehen könnten.

Tilman Nagel

© Neue Zürcher Zeitung 2005

Tilman Nagel ist als Professor für Arabistik und Islamwissenschaft an der Universität in Göttingen tätig. Er hat zahlreiche einschlägige Bücher verfasst.

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