Die Harkis – ein vergessenes (Familien-)Kapitel

Mit ihrem fünften Roman legt die französische Schriftstellerin Alice Zeniter den Finger in die Wunden der algerisch-französischen Altlasten. Kenntnis- und themenreich rollt sie am Beispiel einer Familie noch einmal das Los jener algerischen Muslime auf, die auf Seiten der Franzosen gekämpft haben. Von Claudia Kramatschek

Von Claudia Kramatschek

Vor 57 Jahren erlangte Algerien nach einem langen und grausamen Kampf die Unabhängigkeit. Bis heute allerdings ist dieses Kapitel der Geschichte nicht wirklich aufgearbeitet und belastet die französisch-algerischen Beziehungen.

Bis heute nicht aufgearbeitet ist auch das Schicksal der sogenannten Harkis: jener algerischen Muslime, die seinerzeit auf Seiten der Franzosen kämpften und sich nicht zu Algerien, sondern zur Französischen Republik bekannten. Als die Unabhängigkeit kam, galten die Harkis in den Augen der Algerier als Verräter und wurden entweder umgebracht oder aus dem Land gejagt. Doch auch in Frankreich fanden sie keine wirkliche Heimat: Dort galten sie von Anfang an als Bürger zweiter Klasse, die keinerlei Anerkennung erhielten dafür, dass sie ihr Leben für Frankreich aufs Spiel gesetzt hatten.

Die Erblast des Schweigens

Noch heute leben einstige Harkis und ihre Nachkommen in Frankreich. Doch die meisten von ihnen schweigen über diesen schmerzvollen Teil der eigenen Vergangenheit, auch gegenüber den eigenen Kindern und Kindeskindern.

Dieses Schweigen hat die 31-jährige, 1986 im Großraum Paris zur Welt gekommene Schriftstellerin Alice Zeniter am eigenen Leib erfahren: Auch ihre Großeltern mussten 1962 Algerien verlassen und nach Frankreich gehen. Doch niemand in der Familie sprach wirklich mit der jungen Alice über das Land, das Teil ihrer eigenen Geschichte ist.

Algerien war deshalb wie ein Schatten, der sich über alles legte. Zeniter stellte sich früh schon Fragen: Wer bin ich? Was ist meine Rolle in diesem Land namens Algerien, das sie nicht kennt, aber in ihren Genen steckt?

Eine Spurensuche zwischen den Ufern des Mittelmeers

Buchcover Alice Zeniter: "Die Kunst zu verlieren" im Piper-Verlag München
"Dass der Autorin für ihren Roman 'Die Kunst zu verlieren' u.a. der renommierte Prix Goncourt des Lycées verliehen wurde, lässt hoffen, dass Frankreich sich diesem unliebsamen und unschönen Kapitel der Geschichte allmählich stellt", schreibt Claudia Kramatschek.

Es sind diese Fragen, die den Roman "Die Kunst zu verlieren" grundieren. Der ist nichts weniger als eine Spurensuche, angetrieben von der Hoffnung einer jungen Französin namens Naïma – deren Großvater Ali ebenfalls ein Harki war –, die eigene Geschichte besser zu verstehen, sich selbst noch einmal neu zu verorten.

Alles beginnt dabei mit Google: Dort stöbert Naïma – wie seinerzeit auch Alice Zeniter selbst – nach Bildern und Informationen, versucht sich das Land vorzustellen, das ihr fremd und vertraut zugleich erscheint. Der Zufall will es, dass die Pariser Kunstgalerie, für die Naïma arbeitet, ihr anbietet, in das Land ihrer Vorfahren zu gehen, um die Ausstellung eines algerischen Künstlers vorzubereiten.

So entfaltet sich – aufgespannt zwischen den beiden Ufern des Mittelmeers – ein Familienroman, der drei Generationen umfasst und zugleich einen ganzen Abschnitt der algerischen wie französischen Geschichte vermittelt. Naïma ist dabei nicht die Ich-Erzählerin, aber der Roman ist geschildert aus ihrer Sicht: Es ist die Sicht der jüngsten Generation, die verstehen will, ohne alte Rechnungen begleichen zu müssen.

Eine Reise in die Vergangenheit und in die Kabylei

Im Mittelpunkt das Romans stehen deshalb vor allem die Menschen in Algerien, deren Schicksal Naïma aus dem Dunkel des Vergessens holt: Die ersten beiden Teile des Romans sind den Lebenswegen von Ali und seinem Sohn Hamid gewidmet – Naïmas Vater, der sich selbst auch seit langem von der einstigen Heimat abgewendet hat und seiner Tochter nichts über das Land seiner Herkunft erzählt.

Mit filmischer Süffisanz und zugleich großem Einfühlungsvermögen nehmen Zeniters Figuren dabei auch die Leser an die Hand und führen hinein in das einstige dörfliche Leben in der Kabylei. Gemeinsam mit Naïma reisen wir nämlich zurück in die Vergangenheit und folgen dem damals noch jungen Ali, der erst auf der Suche ist nach einer Frau, die ihm einen Sohn schenken würde, dann zum Patriarchen wird, der sich Sorgen macht angesichts der Schwierigkeiten, die sich Anfang der 1950er Jahre abzeichnen.

Er entscheidet sich gegen den Terror, tritt in den Dienst der Franzosen und hofft so, die Zukunft seiner Kinder zu garantieren. Eben diese Kinder spielen und laufen zu jenem Zeitpunkt noch unbekümmert im Dorf herum. Jahre später spielen im Roman erneut die Kinder: Sie sind – wie viele andere – mit ihren Eltern gerade in Frankreich angekommen, in den für die Harkis von den Franzosen errichteten und überfüllten Transitlagern, nichts ahnend, dass der Anfang zugleich ein Ende sein könnte.

Zerreißproben zwischen den Kulturen und Generationen

Auch Ali flieht aus Algerien, 1962, gemeinsam mit seinem ältesten Sohn Hamid über das Mittelmeer nach Frankreich. Zwei Jahre müssen er und Hamid in dem für sie bestimmten Auffanglager ausharren, unter entwürdigenden Umständen, in Armut, Not und Ungewissheit.

Die Gewalt, die sein Leben bedroht hat, setzt sich insofern, nur unter anderen Vorzeichen, fort: War Ali in Algerien getrieben von der Angst, als Harki getötet zu werden, quält ihn nun in Frankreich die physische und emotionale Ausgrenzung. Seine Frau Yema und die weiteren Kinder kommen wiederum erst später nach. Fortan ist die Familie zerrissen zwischen den Kulturen, zerrissen zwischen alter und neuer Heimat.

Diese Zerrissenheit wird die Familie prägen und spalten: Von ihr rühren Ängste und Traumata, unausgesprochene aber dauerhaft schwelende Konflikte, nicht zuletzt zwischen den Generationen. Ali etwa wird sein Leben lang mit der französischen Sprache fremdeln – sein Sohn Hamid dagegen ist klug und begabt und saugt die französische Kultur begierig mit allen Fasern auf.

"Die Kunst zu verlieren" ist insofern nicht zuletzt auch ein Epos, das sich mit der Komplexität und den Folgen der Migration auseinandersetzt. Wut, Frustration, die mühsamen und harten Wege der Integration – und die fortwährende Diskriminierung sind insofern ebenso Untertöne in diesem nachgereichten Liebesbrief an die eigene Familie.

Ein nachgereichter Brief an die Vorfahren – und ein Appell an Frankreich

Tatsächlich ist diese Familie – wie so viele andere im Fall der einstigen Harkis – in die Unsichtbarkeit der Archive gedrängt worden. Alice Zeniter holt sie "Mit die Kunst zu verlieren" zurück ans Licht – und besingt ihr tagtägliches Heldentum.

Die soziale Ausgrenzung, der strukturelle Rassismus und die bis heute mangelhafte Integration derer, die als algerische Migranten nach Frankreich kamen und kommen, verschweigt sie dabei nicht.

Dass der Autorin für diesen Roman u.a. der renommierte Prix Goncourt des Lycées verliehen wurde, lässt insofern hoffen, dass Frankreich sich diesem unliebsamen und unschönen Kapitel der Geschichte allmählich stellt.

Claudia Kramatschek

© Qantara.de 2019

Alice Zeniter: "Die Kunst zu verlieren", übersetzt von Hainer Kober, Piper-Verlag München 2019, 560 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, ISBN: 9783827013736