Niedergang eines Hochstaplers

Er wurde von den Generälen geholt, um das Regime zu retten, stattdessen entmachtete er sie einen nach dem anderen. Doch Bouteflika war kein Demokrat. Er war gekommen, um lebenslang zu herrschen und als Präsident beerdigt zu werden. Jetzt macht ihm das eigene Volk einen Strich durch die Rechnung. Von Bachir Amroune

Von Bachir Amroune

"Ich bin das gesamte Algerien. Ich bin die Inkarnation des algerischen Volkes" – erklärt der frisch gewählte Abdelaziz Bouteflika mit süffisantem Lächeln gegenüber französischen Journalisten im Sommer 1999. Eigentlich hätten da schon alle Alarmglocken bei den Algeriern schrillen müssen, doch die Bevölkerung ist nach dem langen Bürgerkrieg mit etwa 200.000 Toten zu traumatisiert und erschöpft, um den größenwahnsinnigen Präsidenten in seine Schranken zu weisen.

Die Staatspropaganda der Generäle, die ihn als friedensbringenden Messias darstellt, tut ihr übriges, um ihn als alternativlos erscheinen zu lassen. Und so wird er bei jedem seiner Auftritte tausendfach bejubelt und als Heilsbringer gefeiert.

Knapp 20 Jahre und vier Amtszeiten später strömen Millionen Algerier Wochenende für Wochenende auf die Straßen. Sogar in den kleineren Dörfern erklingen stadiontypische Sprechchöre: "Bouteflika, zieh' Leine!", "Keine Minute wirst du länger im Amt bleiben, oh Bouteflika!", und das während des Arabischen Frühlings skandierte "Das Volk will den Sturz des Regimes!". Die größtenteils jungen Demonstranten, die kein anderes Staatsoberhaupt kennen als ihn, haben endgültig die Nase voll vom einstigen vermeintlichen Heiland. Größer könnte der Kontrast wohl nicht sein!

Unersättlicher Hochstapler

Bereits während seiner ersten Amtszeit werden Stimmen laut, die vor Bouteflika als ränkeschmiedenden und rachsüchtigen Hochstapler warnen. Sein schlechter Leumund aus seiner ersten Lebenshälfte wird auch einem breiteren Publikum bekannt: Denn nach dem Tod von Staatschef Houari Boumedienne, unter dem er lange Jahre Außenminister war, war Bouteflika 1981 in die Schweiz geflohen, weil ihm wegen Veruntreuung von 60 Millionen Schweizer Franken aus dem Budget der algerischen Auslandsvertretungen der Prozess gemacht wurde.

Algerier demonstrieren gegen eine fünfte Amtszeit Bouteflikas; Foto: picture-alliance/AP
"Das Volk will den Sturz des Regimes": Die Massenproteste gegen den altersschwachen Präsidentenhatten Ende Februar begonnen und sich zunächst gegen die Kandidatur des 82 Jahre alten Bouteflikas bei Präsidentenwahl gerichtet. Sie gingen auch weiter, als der Präsident auf seine Kandidatur verzichtete und Reformen zusagte, gleichzeitig aber die Wahl verschob und somit seine Amtszeit auf unbefristete Zeit verlängerte. Eigentlich endet diese am 28. April. Mittlerweile rückt auch Algeriens politische Elite vom Staatschef ab.

Konsequenzen muss der Präsident Bouteflika bis heute nicht fürchten. Zum Zeitpunkt dieser Enthüllungen sitzt er bereits fest im Sattel. Proteste innerhalb der Bevölkerung, wie den "Schwarzen Frühling" in der Kabylei (mit mehr als 100 Toten und 5.000 Verletzten), lässt er blutig unterdrücken. Innerhalb des Regimes spielt er die unterschiedlichen Clans gegeneinander aus und baut sich eine eigene kleptokratische Machtbasis auf.

Dank der hohen Öl- und Gaseinnahmen erkauft er sich überall Unterstützung: in der Armee, im Geheimdienst, unter den Parteien, in der Presse. Algerien wird von Transparency International zu den korruptesten Ländern in der Welt gezählt. Obwohl eines der reichsten Länder der Welt, bleibt es auf allen Gebieten hinter seinen Möglichkeiten zurück. Die Bevölkerung ächzt unter dem maroden Gesundheitssystem, den schlechten Schulen, der hohen Arbeitslosigkeit.

So ist es nicht weiter verwunderlich, dass sich nur wenig Widerstand regt, als Bouteflika 2008 die Verfassung ändern lässt, um mehr als zwei Amtszeiten regieren zu können. Als er sich im Jahr darauf mit mehr als 90 Prozent der Stimmen wiederwählen lässt, zeichnet sich ab, dass er eine lebenslange Präsidentschaft anstrebt und nur mit einem Staatsbegräbnis abtreten will.

Viele haben die Hoffnung, dass es bis dahin nicht mehr lange dauern wird. Denn seit 2005 machen Gerüchte die Runde, der Präsident sei an Darmkrebs erkrankt. Dennoch zeigt sich der Präsident bis dato erstaunlich resilient.

Langsamer Niedergang

Am 8. Mai 2012 spricht Bouteflika ein letztes Mal zu seinen Mitbürgern. In blumigen Worten sagt er, die Zeit sei reif dafür, dass seine alte Generation die Macht abgebe und die Jugend die Geschicke des Landes lenke. Wiedermal keimen Hoffnungen auf einen friedlichen Machtwechsel auf und werden erneut bitter enttäuscht.

Obwohl seit 2013 wegen eines Schlaganfalls sprach- und quasi bewegungsunfähig und an einen Rollstuhl gefesselt, lässt sich Bouteflika ein Jahr später im Amt bestätigen. Wahlkampf betreibt der Staatsapparat stellvertretend für ihn. Seine eigene Präsenz beschränkt sich von nun an auf ein großes Konterfei, das den Greis in besseren Zeiten zeigt und ihn bei offiziellen Veranstaltungen vertritt – eine große Demütigung für die 40 Millionen Algerier.

Um die ersten Anzeichen von Unmut innerhalb der Bevölkerung zu beschwichtigen, wird eine neue Verfassung versprochen, die es angeblich mit den demokratischsten Verfassungen der Welt aufnehmen soll. Um diese tiefgreifenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Reformen zu verwirklichen, wird eine nationale Konferenz beauftragt. Doch Bouteflika bleibt sich treu und bricht erneut sein Versprechen.

Obwohl der algerische Präsident augenscheinlich geschwächt ist, schafft es sein Clan - eine Bande aus Politikern und Geschäftsmännern, die größtenteils aus dem algerischen marokkanischen Grenzgebiet stammen - einen seit Jahren schwelenden Machtkampf für sich zu entscheiden. Sich auf den von Bouteflika selbst eingesetzten Generalstabschef Ahmed Gaid Salah stützend, setzen sie 2014 den als allmächtig berüchtigten Geheimdienstchef Mohamed Medien ab, und drängen seine Verbündeten im Staatsapparat und in der Wirtschaft an den Rand.

Unerwarteter Hoffnungsschimmer

Proteste gegen Bouteflika am 10. März 2019 in Algier; Foto: Reuters
Demokratischer Aufbruch nach langen Zeiten der Lethargie und politischen Abstinenz: "Algerien überrascht mit einer sehr aufgeweckten und selbstbewussten Zivilgesellschaft, die aus den eigenen Erfahrungen und den Erfahrungen der anderen arabischen Länder gelernt hat. Es sind Erfahrungen, die zeigen, dass man den überkommenen Regimen nicht trauen kann", schreibt Bachir Amroune..

Die Verfassung wird 2016 tatsächlich verändert. Doch statt der versprochenen Demokratisierung wird darin die Macht des Präsidenten nur noch weiter gestärkt. Unter Bouteflikas Gegnern macht sich immer mehr Verzweiflung breit.

Doch dessen Clan fühlt so sicher, dass er seine Kandidatur nun auch für eine fünfte Amtszeit verlängern will. Als erste Proteste aufkeimen, werden sogleich die Kritiker verhaftet, die Bevölkerung versucht man durch Hinweise auf den Bürgerkrieg in Syrien und Libyen und den eigenen Bürgerkrieg in den 1990er Jahren, dem "Schwarzen Jahrzehnt", in Schach zu halten. Doch genau in diesem entscheidenden Punkt verkalkulieren sich die Machthaber.

Seit dem 22. Februar protestieren zunächst Hunderttausende Algerier landesweit, auch in der Hauptstadt, in der ein Versammlungsverbot gilt, und fordern die Rücknahme von Bouteflikas Kandidatur. Als sich das Regime stur zeigt und mit Bürgerkrieg droht, demonstrieren an beiden darauffolgenden Freitagen geschätzt bis zu 20 Millionen gegen die Entscheidung und fordern die Absetzung des gesamten Staatsapparats.

Die Demonstrationen sind sehr gut organisiert und verlaufen friedlich. Vielerorts herrscht Volksfeststimmung. Alle Bevölkerungsgruppen marschieren Seite an Seite, tragen Plakate mit Losungen, die Strömungen angehören, denen vom Regime sonst eine unversöhnliche Feindschaft untereinander angedichtet wurde.

Angesichts dieser Eintracht und der unfassbar großen Menschenmassen versucht das Regime zunächst zu lavieren, um auf Zeit zu spielen. Angefangen bei der Rücknahme der Kandidatur Bouteflikas und dem Versprechen, über eine neue Verfassung abstimmen zu lassen, bis hin zu der Ankündigung, man werde Bouteflikas verfassungskonforme Entmachtung prüfen lassen, stoßen jedoch sämtliche Manöver des Regimes auf kollektive Ablehnung. Die Protestbewegung weigert sich sogar, Anführer zu nennen, um mit dem Regime zu verhandeln, weil sie in ihm keinen Ansprechpartner sieht.

Algerien überrascht mit einer sehr aufgeweckten und selbstbewussten Zivilgesellschaft, die aus den eigenen Erfahrungen und den Erfahrungen der anderen arabischen Länder gelernt hat. Es sind Erfahrungen, die zeigen, dass man den überkommenen Regimen nicht trauen kann. Erst wenn die alten Eliten entmachtet sind, wollen die Algerier einige für ihre Integrität bekannte Persönlichkeiten damit beauftragen, die Übergangsphase politisch zu gestalten, um die Gründung einer zweiten, endlich demokratischen Republik zu ermöglichen. Bislang scheint ihre Rechnung erstaunlich gut aufzugehen.

Bachir Amroune

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