Gibt es eine Konsensregierung nach Bouteflika?

Während die algerische Bevölkerung mit Spannung auf den wartet, ob Präsident Bouteflika zurücktritt, untersucht Nourredine Bessadi die Rolle, die die sozialen Medien bei den aktuellen sozialen und politischen Unruhen spielen.

Von Nourredine Bessadi

In den vergangenen Jahren gab es in der algerischen Bevölkerung immer mehr Online-Debatten über die politischen und gesellschaftlichen Missstände des Landes. Dabei wurde häufig auch die autoritäre Politik des Regimes thematisiert – insbesondere die Korruptionsskandale im engen Umfeld der Regierung. Menschen jeglichen Alters – insbesondere in der europäischen Diaspora –begonnen zunächst damit, mehr oder weniger verlässliche Informationen über die algerischen Politiker zu verbreiten, und insbesondere unter den Jugendlichen sind die politischen Diskussionsforen derzeit enom populär.

Laut Dalia Ghanem-Yazbeck, einer Wissenschaftlerin am Carnegie Middle East Center, haben die "sozialen Medien einen enormen Einfluss auf die algerische Protestbewegung". Als Beispiel führt sie Facebook an, das in dem nordafrikanischen Land intensiv genutzt wird und dort mit 45 Prozent Nutzungsrate und etwa 19 Millionen Nutzern eine entscheidende Rolle spielt.

"Facebook und andere Plattformen wie Twitter sind das Sprachrohr von Millionen algerischen Bürgern, die unzufrieden und frustriert über die Regierung sind. Diese Medien verbinden Menschen unterschiedlichster Herkunft und dienen als wertvolle Tools, um lokale Initiativen wie Proteste und Streiks zu organisieren. Auch helfen sie dabei, neue Protest-Slogans zu kreieren, Anleitungen zu geben sowie Bilder und Videos zu teilen", berichtet Ghanem-Yazbeck.

Die algerischstämmige Wissenschaftlerin argumentiert, die Möglichkeit der Demonstranten, über ihre Mobilgeräte Videos zu teilen und live zu übertragen, führe zu einer völlig neuen Situation: "Immer wenn Gewalt, Provokation oder Unterdrückung stattfindet, ist die Technologie zur Stelle, um diese Übertretungen aufzunehmen. Und dann kann sich das Video innerhalb weniger Minuten viral verbreiten."

Algerische Demonstranten protestieren gegen eine fünfte Amtszeit Bouteflika am 22. Februar 2019 in Algiers; Foto: Getty Images/R. Kramdi
Aufstand gegen autoritäre Herrschaft und Entmündigung: Seit fünf Wochen gibt es in ganz Algerien Proteste, zeitweise demonstrierten mehrere Millionen Menschen gegen eine fünfte Amtszeit des altersschwachen Präsidenten. Bouteflika hatte zwar aufgrund der Proteste Reformen angekündigt, zugleich aber auch die für Mitte April angesetzte Präsidentschaftswahl auf unbestimmte Zeit verschoben. Unterdessen bröckelt der Zusammenhalt der Machtelite um Präsident Bouteflika. Der 82-jährige Staatschef steht zunehmend alleine da. Alte Weggefährten ziehen sich zurück - die Opposition warnt vor einem Putsch.

Algerien ist ein Land, in dem die Behörden bereits mehrfach signalisierten, notfalls den Zugang zum Internet zu blockieren, um Schüler daran zu hindern, bei ihren Abiturprüfungen zu schummeln. Interessanterweise wurden aber mit Ausnahme der Demonstration vom 22. Februar – nach der die Behörden das Internet anscheinend deutlich verlangsamten – keine erheblichen Einschränkungen bekannt. Auf allen sozialen Netzwerken, insbesondere auf Facebook, konnten weiterhin Videos, Anrufe und Live-Berichte frei übertragen werden.

Die sozialen Medien als Zufluchtsort

Madjid Serrah, ein algerischer Blogger, erklärt die Vorteile der sozialen Medien wie folgt: "Die staatlichen Institutionen und die Organisationen der Zivilgesellschaft sind ineffektiv, und es mangelt an öffentlichen Spielräumen, um sich zu treffen. So sind die sozialen Medien für die Algerier zu einem Zufluchtsort geworden, wo sie ihre Meinung sagen, verteidigen und mit anderen teilen können. In einigen Fällen sind so zivile Gruppen in den sozialen Medien entstanden, die internetgestützte Projekte wie Reinigungskampagnen, Umweltinitiativen, Büchertausch oder Spendensammlungen entwickelt haben. Kampagnen in den sozialen Medien – wie die, die seit 2017 auf Facebook zum Boykott des algerischen Automobilmarkts aufruft – haben sich als sehr erfolgreich erwiesen."

Serrah schließt daraus, dass es zwischen dem Online-Aktivismus und den Kampagnen, die im wirklichen Leben stattfinden, keinen Unterschied gibt. Er argumentiert, dies werde ganz klar durch die Anzahl der Bürger bewiesen, die in Algerien aufgrund eines YouTube-Videos oder eines Facebook-Posts verurteilt oder sogar eingesperrt wurden.

Darüber hinaus warnt er: "Die Rolle der sozialen Netzwerke in dieser Bewegung ist nicht ausschließlich positiv. Zu den negativen Aspekten gehört, dass Gerüchte und falsche Nachrichten verbreitet werden. Immerhin kann jeder eine Facebook-Seite oder -gruppe erstellen und zu einem Streik oder einer anderen Aktion aufrufen."

Ein weiteres Risiko der sozialen Netzwerke besteht in der sogenannten "logarithmische Blase": Wenn diejenigen, die aktiv an einer Kampagne teilnehmen, ihr Facebook-Konto öffnen, werden sie von tausenden von Bildern, Veröffentlichungen und Botschaften erschlagen, die von der Protestbewegung stammen. So werden ihnen die Möglichkeiten genommen, effektiv und nachhaltig zu reflektieren und zu analysieren.

Der Anwalt und Aktivist Athmane Bessalem; Foto: Noureddine Bessadi
: "Seit 2007 wurden die Algerier durch die sozialen Medien nach und nach immer besser darüber informiert, was in der Welt geschieht. Sie können jetzt über Themen diskutieren, die früher tabu waren – wie den Islamismus, die individuellen Freiheiten, die Gewissensfreiheit oder den Feminismus. Und jetzt stellen sie die Rolle des Staates zu diesen Themen zur Disposition", meint der Anwalt und Aktivist Athmane Bessalem.

Eine kurze Geschichte des Online-Aktivismus

Die Demonstrationen, die Algerien gegenwärtig erschüttern, wurden durch anonyme Aufrufe ausgelöst. Nach dem Marsch vom 22. Februar wird nun schon seit fünf Wochen im ganzen Land protestiert. Doch die politische Wirkung der sozialen Netzwerke in Algerien reicht weit über diese anonymen Aufrufe hinaus.

Der Rechtsanwalt und Aktivist Athmane Bessalem meint dazu: "Seit 2007 wurden die Algerier durch die sozialen Medien nach und nach immer besser darüber informiert, was in der Welt geschieht. Sie können jetzt über Themen diskutieren, die früher tabu waren – wie den Islamismus, die individuellen Freiheiten, die Gewissensfreiheit oder den Feminismus. Und jetzt stellen sie die Rolle des Staates zu diesen Themen zur Disposition."

Weiterhin behauptet Bessalem, der an den jüngsten Demonstrationen gegen Bouteflika und dessen Regime aktiv teilgenommen hat: "Bereits seit dem ersten Freitag der großen landesweiten Demonstrationen (vom 22. Februar 2019) findet die gesamte Planung für die Märsche der jeweils nächsten Woche vollständig in den sozialen Medien statt – und zwar kurzfristig. Während der Woche wird dort an neuen Parolen gearbeitet, die Aktivisten stellen sich vor, und freitags wird all dies dann auf die Straße gebracht. Jeder hier ist bei Facebook, Twitter oder Whatsapp, auch die Reporter selbst."

Mit anderen Worten: In Algerien entwickelt sich ein Cyberspace der politischen Diskussion. Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass gegenwärtig der Zugang zum Internet über die 3G- und neuerdings auch 4G-Technologien immer besser wird, die sozialen Netzwerke immer beliebter werden und auch Smartphones immer weiter verbreitet sind.

Die sozialen Netzwerke sind offen und für alle sozialen Schichten zugänglich, unabhängig von ihrem jeweiligen kulturellen, professionellen und sozialen Background. Aufgrund dieser Eigenschaften können die Diskurse zwar zeitweise chaotisch wirken, allerdings bieten die sozialen Netzwerke genau den Ort für politischen Aktivismus und Dissenz, an dem sich auch die Elite des Landes beteiligt.

Befeuert von der gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Dynamik einer Bevölkerung im Wandel kann dieser Cyberspace-Diskurs neue Möglichkeiten eröffnen, Algeriens politische Entwicklung zu maßgeblich beeinflussen und letztlich die Legitimität des Staates in Frage zu stellen.

Nourredine Bessadi

© Qantara.de 2019

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff

Der Algerier Nourredine Bessadi ist Wissenschaftler und freiberuflicher Berater. Zu seinen Forschungsgebieten zählen Menschen- und Minderheitsrechte, Genderforschung und die Verwaltung des Internets.