Geboren aus dem Lockdown

Der Corona-Lockdown trifft Musiker besonders hart. Die Absage von Live-Konzerten raubt ihnen die Existenzgrundlage und schränkt die Möglichkeiten zur Vermarktung stark ein. Emel Mathlouthi hat die Zeit für ein Soloprojekt genutzt. Von Richard Marcus

Von Richard Marcus

Emel Mathlouthi war gerade zu Besuch in ihrem Geburtsort Tunis, als die Corona-Reisebeschränkungen erlassen wurden und sie nicht in ihre Wohnung in New York City zurückkehren konnte. Daraufhin lieh sie sich eine Gitarre, nahm ihr Notebook mit auf das Dach des Hauses, in dem sie wohnte, und zeichnete dort das Doppelalbum The Tunis Diaries für Partisan Records auf. Die Aufnahmen enthalten kein vollständig neues Material. In dem einen Album befinden sich einige Überarbeitungen ihrer bekanntesten Lieder, im zweiten Cover-Versionen von Werken anderer Künstler. Die Solostücke sind dennoch ebenso fesselnd wie faszinierend.

Wer mit ihrem Werk vertraut ist, den werden vor allem die Cover-Versionen überraschen. Alle anderen, die sie bisher nicht kannten, bekommen mit den Cover-Songs Zugang zu einer Künstlerin, die zwar international anerkannt ist, aber im englischsprachigen Raum nicht in dem Maße bekannt, wie sie es verdient hätte. Denn Emel Mathlouthi stand bisher eher für experimentelle Ansätze mit Elektronik und Tanz in ihrer Musik und Performance. The Tunis Diaries ist dagegen eine Hommage an ihre Anfänge als Solokünstlerin mit akustischer Gitarre.

Cover of Emel Mathlouthi's "The Tunis Diaries" (distributed by Partisan Records)
Richard Marcus: „Auf The Tunis Diaries interpretiert eine der spannendsten Künstlerinnen der Gegenwart ein unglaublich vielfältiges Material. Wenn Sie Emel noch nie zuvor gehört haben, nutzen Sie diese Gelegenheit. Sie werden es sicher nicht bereuen. Dies ist vielleicht eines der besten Alben, das während der Pandemie aus dem weltweiten Lockdown entstanden ist.“

In einer Musik, die auf das Wesentliche reduziert ist, was sie als Solistin leisten kann, konzentriert sich der Hörer vor allem auf Emels Stimme. Dieses virtuose Instrument steht hier im Mittelpunkt.

Das Erlebnis ihrer Stimme lässt sich nur schwer beschreiben. Ihr Stimmumfang scheint keine Grenzen zu kennen; sie fühlt sich genauso wohl, wenn sie bis hinauf zu den höchsten Tönen klettert, als beim Abstieg in die unteren Oktaven.

Kraftvolle Hymne des Arabischen Frühlings

Nicht ein einziges Mal ist ihre Stimme angestrengt, wie es bei Sängern vorkommt, die Gefühle nur simulieren können. Stattdessen ist es ihre Stimme, die den Inhalt des Songs vermittelt. Dabei ist es gleich, ob es sich um ihre eigenen Werke oder um Interpretationen anderer handelt: Sie lässt die Musik und die Emotionen, die hinter dem Text stehen, durch sich hindurchströmen.

Es spielt keine Rolle, wie oft oder in wie vielen Versionen man „Holm“ (dt. Ein Traum) hört – den Song, mit dem sie international bekannt wurde, als er während der tunesischen Proteste zur Hymne des Arabischen Frühlings wurde. Das Lied entfaltet in uns immer noch die emotionale Wirkung, die wir beim ersten Hören empfanden. Passenderweise ist es das erste Stück ihrer neuen Aufnahme.

Es gibt bereits akustische Versionen von „Holm“, aber dennoch ist es eine Art Offenbarung, ihren anderen Werken in dieser Überarbeitung zu lauschen. Songs wie „Everywhere We Looked Was Burning“ aus dem gleichnamigen Album und „Princess Melancholy“ aus dem Album Ensen werden noch aussagekräftiger, wenn sie auf das Wesentliche reduziert sind: Stimme und Gitarre.

Wenn Rockbands akustische Versionen ihrer Songs herausgeben, schwingt meist etwas Selbstgefälligkeit mit. Emels Neuinterpretation ihrer eigenen Musik offenbart dagegen, wie kraftvoll der Song ist und welche Qualität ihre Stimme hat. Fast ebenso packend sind ihre Interpretationen der Werke anderer Musiker, allein schon wegen der Vielfalt der Künstler, die sie ausgewählt hat.

Wer an Emel denkt, bringt sie wohl kaum mit Bands wie Nirvana, Deep Purple, Rammstein, Placebo oder System of a Down in Verbindung. Auch Grunge, Post Punk, Metal und Hard Rock sind keine Genres, an die man angesichts ihres bisherigen Schaffens denkt. Emels Versionen der Songs führen vielleicht in Räume, die ursprünglich niemand im Sinn hatte. Aber damit fügt sie ihnen eine Dimension hinzu, die den Originalen fehlt.

Emels eigener Ausdruck

Das zweite Album beginnt mit Emels Coversong von Nirvanas „Something in the Way“. Nirvana – und ehrlicherweise die meisten Grunge- und Metal-Songs – sind nicht mein Ding. Aber Emels Version dieses und anderer Songs macht mir Lust, die Originale wieder anzuhören, um herauszufinden, was ich möglicherweise verpasst habe. Mit ihrer Interpretation schafft Emel auf bemerkenswerte Weise etwas Neues. Indem sie ihr Talent und ihre Energie in diese Songs legt, verleiht sie ihnen einen unüberhörbar eigenen Ausdruck. Die Lieder nehmen förmlich neues Leben an.

 

Black Sabbath darf wohl als eine der ersten Metal Bands überhaupt gelten. Emel hat einen Song gecovert, der die Band berühmt gemacht hat: „Sabbath Bloody Sabbath“. Bei Emel wird der Song zu einer Art Klage über die menschliche Existenz. Er berührt auf eine Art und Weise, wie es das Original nie konnte. Gleiches gilt für ihre Versionen von Placebos „Every You and Every Me“ und  „Aerials“ von System of a Down.

Bemerkenswert ist auch, wie es Emel gelingt, gleichzeitig etwas Neues zu schaffen und etwas von der ursprünglichen Intention der Werke beizubehalten. Ich schätze diese Cover-Versionen sehr. Doch ihre Interpretation von David Bowies „The Man Who Sold The World“ und Leonard Cohens „One Of Us Cannot Be Wrong“ spielen nochmal in einer anderen Liga.

Bei beiden Songs dockt Emel mühelos an die tiefe Emotionalität der Originale an und fügt gleichzeitig noch Bedeutungsschichten hinzu. Wer mit beiden Liedern im Original vertraut ist, könnte annehmen, auf die von ihnen ausgelösten Emotionen vorbereitet zu sein. Doch Emels Versionen sind in ihrer Intensität herzergreifend. Sie verdeutlichen uns erneut, wie großartig sowohl die Songs als auch die Songwriter waren.

Auf The Tunis Diaries interpretiert eine der spannendsten Künstlerinnen der Gegenwart ein unglaublich vielfältiges Material. Dass sie ihre Lieder auf einem Dach in Tunis selbst aufgenommen hat (zu "Holm" hört man im Hintergrund Vögel singen), macht das Ganze noch bemerkenswerter.  Wenn Sie Emel noch nie zuvor gehört haben, nutzen Sie diese Gelegenheit. Sie werden es sicher nicht bereuen. Dies ist vielleicht eines der besten Alben, die während der Pandemie aus dem weltweiten Lockdown entstanden sind.

Richard Marcus

© Qantara.de 2020