Der Triumph der Liebe über den Schmerz

Naga (Teil II) ist das neueste Werk der schweizerisch-algerischen Performance-Künstlerin Amina Cadelli, alias Flèche Love. Richard Marcus hat sich das beim französischen Label L-Abe erschienene Album angehört und ist von seiner emotionalen und intellektuellen Klarheit beeindruckt.

Von Richard Marcus

Wer die pure Zahl der Songs auf Naga (Teil II) heranzieht, wird wohl eher von einem Mini-Album sprechen. Doch was den emotionalen und intellektuellen Gehalt angeht, macht die Veröffentlichung weit mehr her als die meisten Doppelalben.

Flèche Love, alias Amina Cadelli, ist eine schweizerisch-algerische Performance-Künstlerin. Ihre lebhaften und tiefgründigen Songs entstammen einem emotionalen Bewusstsein und sind ganz sicher nicht aus dem Stoff, der normalerweise die Hitlisten stürmt. Insofern ist Amina Cadelli alles andere als eine Popmusikerin. Sie schöpft tief aus Emotionen, Gedanken und Erinnerungen, in denen sich ihre Zuhörer spiegeln können.

Anders als die sentimentalen, manipulativen Songs, die in den Playlists der meisten Radiosender als gefühlvoll durchgehen, wurzelt die Arbeit von Flèche Love in universellen Wahrheiten, die uns unmittelbar berühren. Wer sich an erlittenen Schmerz erinnert, kann nachfühlen, wenn die Künstlerin von persönlichen Traumata erzählt.

Zu einigen ihrer Songs mag sie durch persönliche Erlebnisse inspiriert worden sein, aber nie wird ganz klar, ob sie damit auf reale oder auf mögliche Ereignisse Bezug nimmt. Die damit hervorgerufene Distanz verleiht ihren Songs noch mehr Tiefe und Wirkung, da wir als Zuhörer nicht rein reflexhaft empathisch reagieren.

Flèche Love (Foto: Giulia Frigieri (An Algerian in Paris))
After four years with the Swiss band Kadebostany, Amina Cadelli (pictured here) left and launched her own solo project known as Flèche Love

Quelle innerer Kraft

 

Bei Flèche Love dreht sich durchaus nicht alles um Schmerz. Sie verkörpert vielmehr den Triumph der Liebe und des Lebens über den Schmerz und ist ein Sinnbild der Kraft, die wir daraus ziehen. Im letzten Song "Bruja“ (dt. "Hexe“) des Albums heißt es: "Spürt ihr die Energie, die von meinen Wunden ausgeht?/Sie fürchten mich/Sie fürchten meine Kraft/Fürchtet ihr meine Kraft?/Fürchtet ihr eure Kraft?/Denn wenn ihr mich seht, seht ihr euch.“

Ihr Botschaft an uns lautet: Wir alle schöpfen aus einer Kraftquelle. Wir müssen nur tief genug in uns dringen, um sie zu finden. Flèche Love spricht und singt nicht nur darüber. Sie ermutigt uns dazu. Wer die Kunst beherrscht, sich selbst zum Beispiel zu machen, schreitet auf dem schmalen Grat zwischen der Schaffung von etwas Universellem und der Selbstgeißelung, die auch eine Form von Ego ist.



Die Songs auf Naga (Teil II) könnten als Lehrbuch für die perfekte Beherrschung dieser Kunst dienen.

Flèche Love ist nicht nur Musikerin, sondern auch Performance-Künstlerin. Einige ihrer Songs wird man nicht ohne die zugehörigen Videos völlig verstehen können.



Das soll nicht heißen, dass die Songs nicht für sich alleine stehen können, aber die Bildsprache zieht eine weitere Ebene ein, die uns ein tieferes Verständnis der Werke erschließt. Gleichzeitig wird uns deutlich, auf welch hohem künstlerischem Niveau sich Flèche Love bewegt.

"See Me Through“ ist dafür ein gutes Beispiel. Flèche Love singt zum Auftakt in Begleitung eines Chors. Nachdem wir anfangs auf Wasserspiegelungen und vorbeitreibende Blätter blicken, kommt die Künstlerin ins Bild, die in einem Boot sitzt, das von einer mysteriösen maskierten Gestalt stehend gerudert wird.



Abgesehen vom englischsprachigen Chorgesang ("See me through/See me for what I am/See me through“) singt Flèche Love auf Spanisch. Mit Einsetzen des Chors baut sich hinter der Solostimme eine eindringliche Trommelkulisse auf. Auf diesem Klangteppich scheint sich Flèche Love angetrieben von dem mysteriösen Ruderer auf eine Reise zu begeben. Text und Bilder zeigen einen Menschen, der auf der Suche nach seinem wahren Ich ist – abseits der oberflächlichen Hülle, in der wir alle stecken.

Worte fließen über ein musikalisches Gewebe

 

Im weiteren Verlauf des Videos steigt die Künstlerin aus dem Boot aus. Sie kniet sich hin, sodass die maskierte Person ihr das Haar scheren kann. Dies mutet wie ein Akt der Erneuerung – der Befreiung – an, da sie im Anschluss daran zu einem kathartischen Tanz ansetzt, mit dem sie das Ende ihrer Reise oder den Anfang eines neuen Abschnitts in einem fortwährenden Prozesses zu feiern scheint.

Als begabter Videokünstlerin gelingt es Flèche Love, komplexe Gefühle zu vermitteln und die intellektuelle Imagination ihres Publikums zu wecken.

 

 

Musikalisch bilden ihre Songs eine faszinierende Mischung aus elektronischen Klängen und Orchesterbesetzung. Die Klangebenen erzeugen eine musikalisches Gewebe, über das ihre Worte fließen.

Bisweilen singt Flèche Love mit ätherischer Klarheit, um dann in ein erdiges Brummen zu verfallen, das ihre Worte wie eine Beschwörung klingen lässt. Was bei anderen affektiert erscheinen mag, empfinden wir bei ihr als emotionale Verbundenheit mit ihren Themen und ihrer Musik: Jede Silbe klingt, als stamme sie aus den Tiefen ihres Herzens, ohne dass sie eine bewusste Kontrolle über den Klang ihrer Stimme hätte.

Flèche Love singt ihre Songs zum größten Teil auf Spanisch, wechselt aber mühelos in einem Song zwischen verschiedenen Sprachen hin und her. Diese Mehrsprachigkeit hilft den Zuhörern dabei, über die wörtliche Auslegung der Texte hinauszugehen und zu den eigentlichen Emotionen vorzudringen.

Naga (Teil II) von Flèche Love ist ein ebenso eindringliches wie anmutiges Album, das unsere Gefühle und Gedanken anspricht. Im Musikbusiness finden wir eine solche emotionale und intellektuelle Klarheit viel zu selten. Es ist ein Kunstwerk, das Musikliebhaber nicht loslassen wird.

Richard Marcus

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