Blick über den Tellerand

"Aboogi" ist das neueste Album der Tamashek-Bband Imarhan.
"Aboogi" ist das neueste Album der Tamashek-Bband Imarhan.

"Aboogi“ ist die neueste Veröffentlichung der südalgerischen Tamasheq-Band Imarhan. Mit ihrer Musik trägt die Gruppe dazu bei, die Kultur und Geschichte ihres Tuareg-Volkes zu bewahren. Von Richard Marcus

Von Richard Marcus

Anfang 2019 errichtete Imarhan das erste professionelle Aufnahmestudio in Tamanrasset, der Heimatstadt der Gruppe, und benannte es nach den historischen Behausungen, die die Tamasheq als Nomaden einst auf ihren Karawanenrouten nutzten – die Aboogi. Der Name des Albums verweist nicht nur auf die Kulturgeschichte des eigenen Volkes, sondern auch auf das Gefühl der Unbeständigkeit, das so vielen indigenen Völkern weltweit zu eigen ist. Denn auch die Aboogi waren keine dauerhaften Bauten. Vielmehr wurden sie bei Bedarf abgebaut und mitgenommen.

Wie andere Tamasheq-Musiker auch ist diese Band aber definitiv hier, um dauerhaft zu bleiben. Ihr Volk wird zwar nicht mehr offen bekämpft, aber es leidet immer noch größere wirtschaftliche Not als andere Bevölkerungsgruppen in der Region. Die Menschen sind gezwungen, ihr angestammtes nomadisches Leben in der Wüste aufzugeben und in die Städte umzusiedeln. Doch dort gibt es kaum Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Das so entstehende Vakuum lässt viele aus der heutigen Generation ohne Hoffnung zurück.

Nicht zuletzt deshalb gibt es Bands wie Imarhan. Viele, die sich den extremistischen Kräften im Norden Malis angeschlossen haben, sind desillusionierte Jugendliche. Die Extremisten bieten den Jugendlichen neben Geld und Waffen auch ein Ziel – wenn auch ein abwegiges, wie die Jagd auf Tuareg-Musiker.

Cover von Imarhans Album "Aboogi"; Illustration von Tahar Khaldi (herausgegeben von City Slang)
Musik mit Mission: Viele, die sich den extremistischen Kräften im Norden Malis angeschlossen hatten, waren desillusionierte Jugendliche. Die Musiker von Imarhan hoffen, mit ihrer Musik den Einfluss dieser und anderer Kräfte zurückzudrängen. Die Musik soll Würde und Stolz vermitteln, aber auch Mahnung sein. Stolz darauf, wer die Tuareg als Volk sind, und Mahnung, die eigenen Werte hochzuhalten.

Die Musiker von Imarhan hoffen, mit ihrer Musik den Einfluss dieser und anderer Kräfte zurückzudrängen. Die Musik soll Würde und Stolz vermitteln, aber auch Mahnung sein. Stolz darauf, wer die Tuareg als Volk sind, und Mahnung, die eigenen Werte hochzuhalten. Denn das sind nicht die Werte derjeniger, die Gewalt verherrlichen.

Quelle der Inspiration ist für Imarhan aber nicht allein die Vergangenheit. So wichtig Traditionen auch sein mögen. Mit ihrer Fixierung auf die Vergangenheit können sie die Menschen blind für die neue Realität machen.

Das Nomadenleben ist Vergangenheit. Heute gibt es so gut wie keine Karawanen mehr, die mit ihren Kamelen Waren durch die Wüsten transportieren. Selbstverständlich sollten deshalb wichtige Lektionen nicht vergessen werden, beispielsweise über den Respekt vor dem Land und den Mitmenschen.

Liebe zu Land und Leuten

Wer die Vergangenheit mit der Zukunft verbinden will, muss über den Tellerand hinaus blicken können und dort nach Einflüssen und Inspirationen suchen – auch bei anderen Menschen, die für die gleichen Werte einstehen, aber eine andere Perspektiven bieten.

In ihrer Zusammenarbeit mit dem walisischen Sänger Gruff Rhys sind Imarhan mit ihrem Album Aboogi exakt diesen Weg gegangen. Beim Song "Adar Newlan“ singt Rhys in seiner walisischen Muttersprache über den Wert der Familie.

Wie die Tamasheq blicken auch die Waliser auf eine lange Geschichte zurück, in der sie ihre Sprache und Kultur gegen Übergriffe verteidigen mussten. Familiäre Verbundenheit ist für sie daher kein leerer Begriff. Indigene Völker haben weltweit viel gemeinsam: So eigenartig es anmuten mag: Diese überraschende Verbindung ergibt Sinn.

Der Song ist eine Mischung verschiedener Stile, ohne wie der typische Desert Blues zu klingen. Hat man sich eingehört, werden die Ähnlichkeiten in Gefühl und Stimmung deutlich.

Davon abgesehen, dass der Titel auf Walisisch gesungen wird, drückt er genau die Liebe zu Land und Leuten aus, die auch Tuareg-Bands so oft besingen. Diese Universalität ist nicht nur für die Musiker von Imarhan wichtig, um künstlerisch nicht zu stagnieren. Auch für die Entwicklung ihrer Kultur ist es essenziell. Denn aus der Suche nach komplementären Einflüssen, die dieselben Themen berühren, ergibt sich Wachstum und Regeneration.

 

 

Es gibt weitere Gäste. Wenn auch nicht aus dem fernen Wales. Die sudanesische Sängerin Sulafa Elyas hat bereits früher mit Imarhan zusammengearbeitet. Dieses Album bereichert sie mit einem eindringlich auf Arabisch gesungenen Beitrag zum Song "Taghadart“. Er ist auch ein Beleg dafür, dass die Band mehr ist als ein weiteres Desert Blues-Ensemble.

Die Musik ist intensiver und meditativer, als man es von Bands aus der Subsahara-Region gewohnt ist. Auch wer nicht Arabisch oder Tamasheq beherrscht, spürt den Tiefgang dieser Musik. Sie flüstert uns zu wie der Wind, der über den Wüstensand weht. Dabei beschwört sie in uns Bilder einer Dämmerung herauf, in der sich die Region auf die beginnende Nacht einstimmt.

"Der Sonne und dem Sand ... Raum geben“

Sicher bleibt Imarhan einer der herausragenden Vertreter des Desert Blues. Auch auf dem neuen Album entfernt sich die Gruppe nicht allzu weit von diesen Wurzeln. Der Song "Achinkad“ zeigt wunderbar, wie komplex und mitreißend das Genre sein kann. Zunächst klingen Akustikgitarre und synkopisches Schlagzeug als Gesangsbegleiter an, bis sich die Gesangsharmonien ausweiten und eine E-Gitarre die Hauptrolle übernimmt.

Mit zunehmender Intensität der Melodie werden wir von der Leidenschaft des Songs erfasst. Wir erahnen, was Bandleader Lyad Moussa Ben Abderahmane damit meint, die Band wolle "dem Wind und den natürlichen Energien wie Sonne und Sand Raum geben. Wir wollen deren Farben durch Musik ausdrücken.“

Das ist ein hoher Anspruch. Aber die Musik auf diesem Album vermag es, uns an einen anderen Ort zu versetzen. Das Album ist voller Magie und bringt uns eine Welt näher, die den meisten von uns noch unbekannt ist.

Mit Aboogi etabliert sich Imarhan als eine der führenden Bands der Subsahara-Region. Wie andere Menschen der Kel Tamasheq konzentrieren sich die Musiker auf die Bewahrung ihrer Kultur und den Platz ihres Volkes in der heutigen Welt. Indem sie Musik von außerhalb ihrer Gemeinschaft einbinden, machen sie dieses Album zu einem wahrhaft universellen Werk.

Wer bislang keinen Desert Blues gehört hat oder den Zauber der Musik aus dieser Region noch nicht kennt, hat mit Aboogi einen großartigen Einstieg. Aber Vorsicht: Wer einmal damit anfängt, wird nicht mehr aufhören wollen. Es macht süchtig.

Richard Marcus

© Qantara.de 2022

Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers